Wieland, David Hermann, Pharmakologe

*26.2.1885, Pforzheim, ev., +7.5.1929, Heidelberg

V Theodor W. (1846-1928), Dr., Chemiker, Gründer u. Besitzer d. Firma „Scheide- u. Legieranstalt“;

M Elise, geb. Blum (1849-1937);

G Heinrich W. (1877-1957), Chemiker, Nobelpreisträger; Eberhard W. (1879-1974), Chemiker, Teil- u. später Alleininhaber d. väterlichen Firma;

∞ 3.Nov.1923 in Königsberg Gertrud, geb. Polley, gesch. Kurtzahn (1893-1931), Dr. med.;

K Stiefsohn Fritz Kutzahn (1920-?); Peter W. (1925- nach 1949), Martin W. (1927-1928)

1903 VII                                  Abschluss des Gymnasiums in Pforzheim

1903-1908                              Studium Medizin in München (WS 1903/4, SS 1904; SS 1906; SS 1907, WS 1907/8, SS 1908) u. Straßburg (WS 1904/5, SS 1905, WS 1905/6; WS 1906/7)

1908 XII                                  Das ärztliche Staatsexamen in München

1909 XII 8                               Approbation als Arzt an d. Univ. Straßburg

1909 XII 21                             Promotion zum Dr. med. ebd. bei Franz Hofmeister,

Diss.: „Untersuchungen über die lipoiden Substanzen d. Magenschleimhaut“

1910 I-1911 X                         Assistent d. inneren Abteilung des Krankenhaus München-Schwabing

1911 XI-1912 VI                     Arbeit am Pharmakologischen Institut d. Univ. Wien

1912 VI-1918 X                      Assistent am Hygienischen Inst., ab Apr. 1913

1. Assistent am Pharmakol. Inst. d. Univ. Straßburg

1915 VII 31                             Habilitation f. Pharmakologie ebd.; H.-schrift: „Pharmakologische Untersuchungen am Atemzentrum“.

1914 VIII-1919 I                      Militärdienst als landssturmpflichtiger Arzt; EK II Kl., Ritterkreuz II. Kl., v. Zähringer Löwen mit Schwert, Verwundeten Abzeichen

1919 IV 1                                Assistent am Pharmakol. Inst. d. Univ. Freiburg

1919 VII 10                             Umhabilitation ebd. mit d. Probevorlesung über „Giftige Gase“

1921 X 1                                 o. Prof. f. Pharmakologie an d. Univ. Königsberg

1925 X 1                                 o. Prof. f. Pharmakologie an d. Univ. Heidelberg

1927-1928                              Mitbegründer u. Mitherausgeber d. Zs.: „D. Schmerz. Dt. Zs. zur Erforschung des Schmerzes u. seiner Bekämpfung zugleich Zentralorgan f. Narkose u. Anästhesie“ (Später in „Narkose u. Anästhesie“ verschmolzen)

1928 V                                    o. Mitglied d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften

W., der jüngste Sohn des bekannten Pforzheimer Industriechemikers Theodor W., wuchs in einer Familie, in der ihm die Lust zum Erforschen der Natur schon in Kindestagen eingeprägt wurde. Als Junge durfte er in der väterlichen Fabrik, aber auch zu Hause experimentieren. Nach dem Abitur in Pforzheim wählte W. jedoch als Studienfach nicht Chemie – die beiden älteren Brüder wurden Chemiker, – sondern Medizin. Er studierte wechselweise in München und Straßburg. Sein jugendliches Interesse für Chemie wurde aber durch den Straßburger Chemieprofessor Johannes Thiele (1865-1918) wie auch durch seinen Bruder Heinrich weiter verstärkt. So erscheint es ganz natürlich, dass W. in der Pharmakologie das Arbeitsgebiet fand, das diesem Interesse am besten entsprach. W. promovierte in Straßburg bei Franz Hofmeister (1850-1922), Professor für physiologische Chemie, der auch als Pharmakologe arbeitete. So hatte W. schon früh, dank der Einstellung seines Doktorvaters wie auch dank des Einflusses seines Bruders Heinrich, einen ausgeprägten chemischen Hintergrund.

Nach der Promotion arbeitete W. als Assistent im neuen Schwäbischen Krankenhaus in München, war aber mit der rein ärztlichen Tätigkeit nicht zufrieden und ging zu einem der bedeutendsten experimentellen Pharmakologen seiner Zeit, Prof. Hans Horst Meyer (1853-1939), nach Wien, wo er eineinhalb Semester arbeitete. Im Sommer 1912 erhielt W. eine Assistentenstelle in Straßburg, zuerst am Hygienischen Institut, dann bei dem Altmeister der Pharmakologie, Oswald Schmiedeberg (1838-1918), dessen letzten Schüler er wurde.

Mit dem Kriegsausbruch begann W. freiwillig ab dem ersten Tag seinen Militärdienst als landssturmpflichtiger Arzt. Zunächst arbeitete er in einem Straßburger Lazarett und konnte sich gleichzeitig mit einer bedeutenden Arbeit habilitieren: Mit Hilfe einer scharfsinnigen Methodik erforschte W. an Zuchttauben die Veränderung der Erregbarkeit des Atemzentrums durch narkotische bzw. stimulierende Mittel. Als Privatdozent hielt W. im SS 1916 Vorlesungen über Pharmakologie der Giftgase. Er kündigte dieselbe Vorlesung auch für WS 1916/17 an, wurde aber ins Feld einberufen. Als Bataillonsarzt in der Fußartillerie erlebte W. den Schlacht an der Somme, die Kämpfe vor Arras, in den Champagne und in Flandern. 1917 wurde er durch einen Fliegerbombensplitter verwundet.

Ende 1917 wurde W. nach Berlin-Dahlem abkommandiert, wo er am Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie unter Leitung von Ferdinand Flury (1877-1947) an der pharmakologischen und toxikologischen Untersuchung des Dichloräthylsulfids (das unter den Namen Senfgas, Yperit, Lost und Gelbkreuzkampfstoff bekannt war) beteiligt war.

Im Januar 1919 wurde W. aus dem Militärdienst entlassen und dank der Empfehlung Flurys zum stellvertretender Direktor des Pharmakologischen Instituts der Universität Würzburg bestellt. Bald aber fand er eine feste Stelle an der Universität Freiburg als Assistent am Institut des hervorragenden Pharmakologen Walther Straub (1874-1944). Nach drei Monaten konnte sich W. umhabilitieren. Als Privatdozent las er über „Arzneimittellehre für Zahnärzte“, „Chemische Steuerungsvorgänge im Organismus“ und „Nachweis der Gift- und Heilwirkung chemischer Stoffe durch den Tierversuch“. Die fünf Semester bei Straub, diesem geistvollen Menschen, dem großen Meister des Experimentes und glänzenden Lehrers, waren für W. außerordentlich fruchtbar. Insbesondere konnte W. die Methode „Straubsches Froschherz“ erfinderisch für seine bekannte Forschung über die pharmakologische Wirkung von Gallensäuren anpassen. Reine Stoffe für diese Forschung erhielt er von seinem Bruder Heinrich, der breit angelegte langjährige „Untersuchungen über die Gallensäure“ durchführte. Ebenso in Freiburg begann W. Narkoseprobleme zu erforschen und machte eine seiner bedeutendsten Entdeckungen – die narkotische Wirkung des Azetylens.

Kein Wunder, dass W. bald darauf einen Ruf als Ordinarius erhielt: Zum WS 1921/22 wurde er o. Professor und Direktor des Pharmakologischen Instituts an der Universität Königsberg. Nun hielt er die zweisemestrige Hauptvorlesung über Pharmakologie wie auch Vorlesungen über spezielle Themata, die er schon in Freiburg gelesen hatte. Er leitete auch Praktika der experimentellen Pharmakologie. In Königsberg sammelte W. seine ersten Schüler um sich, unter ihnen fand er auch seine Frau. Sein Arbeitsfeld konnte jetzt erweitert werden, der Name W. bekam einen guten Ruf in der Fachwelt. 1925 bemühten sich die Universitäten in Frankfurt und Heidelberg um W.. Er zog Heidelberg vor, das näher zu seiner Heimatstadt lag, wo seine Eltern und sein Bruder Eberhard wohnten.

In Heidelberg, wie auch schon in Königsberg, zeigte sich W. als ausgezeichneter Institutsleiter. Als guter Menschenkenner, verstand er es, jeden Mitarbeiter an den rechten Platz zu stellen, so dass etwa 50 Arbeiten seiner Schüler und Mitarbeiter während weniger Jahre – insgesamt siebeneinhalb – publiziert wurden. W. hielt Vorlesungen über „Experimentelle Pharmakologie“ bzw. „Pharmakologie und Toxikologie“ und verbrachte auch viel Zeit im Labor mit Studenten und Doktoranden. Als Professor scheute W. keine Mühe und Schwierigkeiten, um seiner geliebten Fachwissenschaft Gleichberechtigung im Lehrplan und Geltung unter den übrigen medizinischen Disziplinen zu verschaffen.

In diesem Zusammenhang soll auch die wissenschaftlich-organisatorische Tätigkeit W.s betont werden. Die durch Straub gegründete „Deutsche Pharmakologische Gesellschaft verdankt W. „mehr als je in ihrer Entwicklungsgeschichte durch Wort oder Schrift festgehalten werden kann“ (E. Oppenheimer). Zweimal, bei der Gründung in 1920 und nochmals 1927 übernahm W. den Geschäftsführerposten der Gesellschaft und wirkte dort auch in Zwischenzeit aktiv. Hinzu kommt auch eine langjährige beratende Tätigkeit W.s für die pharmazeutische Firma „C. H. Boehringer und Sohn“ in Nieder-Ingelheim, die ihm entscheidende technische Gegenleistungen einbrachte.

Im Frühjahr 1928 wurde W. stark erschüttert durch den Tod seines einjährigen Sohns sowie seines Vaters. Ab Herbst 1928 an war er fast ständig krank. Schließlich fiel er der Leukämie zum Opfer, gegen die es damals kein Heilmittel gab, und seine Frau, selbst Ärztin, hatte Mut und Geschick, den Kranken über die Natur seines Leidens zu täuschen. Seine Mitarbeiter und Kollegen betrauerten nicht nur den führenden Pharmakologen und geliebten, begeisterten und anregenden Lehrer, sondern auch seine tief geistige Persönlichkeit von unvergleichlicher Güte und Hilfbereitschaft.

W. war nur geringe Zeit für die Arbeit in der Wissenschaft vergönnt. Deswegen konnten nur 31 Aufsätze von ihm nachgewiesen werden (es gibt kein Verzeichnis von Publikationen W.s). Diese Zahl allein charakterisiert den tatsächlichen Beitrag W.s zu der Pharmakologie aber nicht. Seine Arbeiten sind vielseitig, ideenreich, durch vorzügliche und originelle Methodik gekennzeichnet. Ein besonderer Charakterzug seines Werks war die stetige Zusammenführung von Einzelresultaten mit großen Problemstellungen.

Ein würdiger Nachfolger seiner großen Lehrer, wirkte W. als bahnbrechender Anführer in der Erforschung der Beziehungen zwischen chemischer Beschaffenheit und biologischer Wirkung von Stoffen. Für seine pharmakologischen Arbeiten ist jeweils der eindeutige chemische Standpunkt charakteristisch.

W. entwickelte nicht nur die theoretische Pharmakologie – wo von ihm z. B. eine fruchtbare Theorie der adsorptiven Verdrängung als Mechanismus der Entgiftung, insbesondere der Herz-Campfer-Wirkung eingeführt wurde. Gleichzeitig wusste er Pharmakologie und Klinik als Forscher und Lehrer zu verbinden. Besonders bekannt ist hier seine jahrelange gründliche pharmakologische und toxikologische Erforschung der Lobelia-Alkaloide, die durch die Einführung von Lobelin als „atmungserregendes“ Heilmittel gekrönt wurde. Dies bezeichnete einen Meilenstein in der Geschichte der Arzneimittelkunde: zum ersten Mal wurden pflanzliche Auszüge und Extrakte von unbestimmtem Inhalt an Alkoloiden durch einen einheitlichen und exakt dosierbaren Wirkstoff ersetzt, was erst eine breite therapeutische Verwendung ermöglichte. Allein durch die Einführung des Lobelins in den Medikamentenfundus hat W. unzähligen Menschen das Leben gerettet.

Eine weitere Leistung von großer praktischer Bedeutung war die Entdeckung des reinen Azetylens als Anästhetikum und seine Einführung in die Klinik. Obwohl die chemische Hypothese, die W. zu dieser Entdeckung geführt hatte, nich bestätigt wurde, erschien sie als starker Impetus für Forschungen auf dem Gebiet der Narkose. Das reine Azetylen benutzte man während etwa 15 Jahre als das damals beste Narkotikum unter dem Namen „Narcylen“, wegen Feuer- und Explosionsgefahr wurde später darauf verzichtet.

Die Bemühungen W.s um Fragen der Schmerzbekämpfung entsprachen seinem inneren Bedürfnis, leidenden Menschen zu helfen. So entstand eine weitere große

organisatorische Leistung, nämlich, die Begründung und Herausgabe einer besonderen Zeitschrift für Narkose und Anästhesie, zusammen mit dem Würzburger Gynekologen Carl Josef Gauß (1875-1957) und dem Hamburger Anästhesiologen Ernst v. d. Porten (1884-1940).

Jede einzelne der erwähnten Leistungen sichert W. einen würdigen Platz in der Geschichte der Pharmakologie.

Q StA Pforzheim, Auskünfte vom 12. u. 13.7.2006; GLA Karlsruhe (235/2700; 466/19309); UA Freiburg (B 24/4085); UA Heidelberg (PA 1247; PA 6353; PA 6354; Rep. 27, Nr. 1444; H-III-120/2, Nr.7); StA Heidelberg, Auskunft vom 27.1.2006.

W Beiträge zur Ätiologie d. Beri-Beri. Analytische Untersuchungen über den Phosphorgehalt von ernährungskranken Tieren. Archiv f. exper. Pathologie u. Pharmakologie, 69, 1912, 293-306; Neuere Forschungen über die Ursache d. Beriberikrankheit, Münchener medizinische Wochenschrift, 60, 1913, 706-708; Warum wirken aromatische Arsenverbindungen stärker auf Protozoen ein als aliphatische u. anorganische, Zs. f. Immunitätsforschung u. exper. Therapie, 20, 1914, 131-136; Pharmakologische Untersuchungen am Atemzentrum, Archiv f. exper. Pathologie u. Pharmakologie, 79, 1916, 95-117; Pharmakologische Untersuchungen über Gallensäuren, I, II, III, Archiv f. exper. Pathologie u. Pharmakologie, 85, 1920, 199-213; 86, 1920, 79-91, 92-103; Entgiftung durch adsorptive Verdrängung. Ein Beitrag zur Kenntnis d. Ermüdung des überlebenden Froschherzens u. d. Herzwirkung des Kampfers, Ebd., 89, 1921, 46-65; (mit Ferd. Flury) Die pharmakologische Wirkung des Dichloräthylsulfids, Zs. f. die gesamte exper. Medizin, 13, 1921, 367-483; Über die Bedeutung des Calziums für die geringe Empfindlichkeit d. Kröte gegen Herzgifte, Biochem. Zs., 127, 1922, 94-102; Über den Wirkungsmechanismus betäubender Gase, des Stickoxyduls u. des Azetylens, Archiv f. exper. Pathologie u. Pharmakologie, 92, 1922, 96-152; (mit R. Mayer) Pharmakologische Untersuchungen am Atemzentrum. II. Die Beeinflussung des narkotisierten oder morphinisierten Atemzentrums durch Lobelin u. zwei weitere Lobelia-Alkoloide, Ebd., 195-230; (mit R. Mayer) D. Anteil d. Kohlensäure an d. Wirkung d. Hirnkrampfgifte, Ebd., 95, 1922, 5-16; (mit G. Kurtzahn) Zur Kenntnis d. Fluorwirkung, Ebd., 97, 1923, 489-497; (mit R. Schoen) Die Beziehungen zwischen Pupillenweite u. Kohlensäurespannung des Bluts, Ebd., 100, 1923, 190-216; (mit C. J. Gauss) Ein neues Betäubungsverfahren, Klinische Wochenschrift, 2, 1923, 113-117, 158-162; (mit B. Behrens) Pharmakologische Untersuchungen am Atemzentrum. III. Die Wirkung des Lobelins bei d. Inhalationsnarkose, Zs. f. die gesamte exper. Medizin, 56, 1927, 454-469; (mit B. Behrens) Antimon u. seine Verbindungen, in: Handbuch d. exper. Pharmakologie, Bd. 3, 1. Hälfte, 1927, 533-567; Johannes Gadamer +, D. Schmerz, 1, 1928, 261f.; (mit B. Behrens) Zur Pharmakologie des Acedicons, Dt. Med. Wochenschrift, 55, 1929, 303-305.

L Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch, Bd. VI, Teil 4 (1940), S. 2877; J. Schüller, H. W.+, Dt. Med. Wochenschrift, 55,1929, 1059 (B); H. Freundlich, H. W.+, Berr. d. Dt. Chem. Ges., 62A, 1929, 82; E. Oppenheimer, H. W.+, Klinische Wochenschrift, 8, 1929, 1286f.; B. Behrens, H. W.+, D. Schmerz, 2, 1929, 83-85 (B); P. Ernst, H. W.+, Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Jahresheft 1928/1929, S. XXIIf.; W. Heubner, H. W.+, Archiv f. exper. Pathologie u. Pharmakologie, 147, 1930, 14f.; W. Heubner, W., Dt. Biogr. Jahrbuch, Bd. 11 (f. 1929), 1932, 328-332; Paul Dipgen, Unvollendete. Vom Leben u. Wirken frühgestorbener Forscher u. Ärzte aus anderthalb Jahrhunderten, 1960, S. 99-102; Hans Killian, Im Kampf gegen Schmerz, 1979, S. 23-26; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803-1932, 1986, S. 296f.

B s. L (J. Schüller; B. Behrens)