Kategorie: Kurzbiografien
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Kienle, Hans (ursprünglich Johannes) Georg, Astronom, Astrophysiker

 

*22.10.1895, Kulmbach (Oberfranken). Ev.. + 15.02.1975, Heidelberg

 

V         Lucien (1870-1905), Gürtler. M         Maria Katharina, geb. Held (1872-1914); Stiefvater Paulus Herzog (1876-1960), Schreiner. G     Elise.(* 1897) u. Halbschwester Katharina Herzog (* 1909).

∞ 1924 (Göttingen) Elsa Maria Armbruster (1891-1982), Zoologin

K 3: Johanna Margarete (*1925), Dolmetscherin; Marie-Luise (*1928), Zoologin; Margret Ursula (*1932)

 

1901 IX – 1914 VII                 Schulbildung in Nürnberg: 1901-1905 – Volksschule, 1905-1911 – Realschule, 1911-1914 – Oberrealschule

 1914 VIII – 1915 I                 Militärdienst; 3.11.1914 schwere Verwundung und Entlassung nach 
                                                Lazarette-Aufenthalt

1915 II – 1918 I                      Studium d. Astronomie, Mathematik und Physik an d. Univ. München

 1918 II 2                                 Promotion summa cum laude zum Dr. phil.; Diss.: „Untersuchungen 
                                                 über Pendeluhren mit besonderer Berücksichtigung der beiden 
                                                 luftdichten Riefler-Uhren R 23 und R 33 der K. Sternwarte zu 
                                                 München“
1918 III – 1924 III                   Wissenschaftlicher Assistent, ab 1922 Observator an d. Sternwarte 
                                                München
 1920 VII                                 Habilitation; H.-schrift „Untersuchungen über Saalrefraktion“;
                                                Probevorlesung 21.07.1920 „Zeitmessung u. Zeitmeßapparate in d.
                                                Astronomie“

1924 IV – 1927 V                a.o. Professor u. kommissarischer Direktor d. Sternwarte an d. Univ. Göttingen

1927 VI – 1939 VIII                o. Professor u. Direktor d. Sternwarte ebd.

1939 IX – 1950 IX                  Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums, Potsdam

 1950 IX – 1962 VII                o. Professor d. Astronomie an d. Univ. Heidelberg u. Direktor d.
                                                 Landessternwarte Heidelberg-Königstuhl
1953 IX – 1954 VIII                Dekan d. Naturwiss.-math. Fakultät

1962 XII – 1964 VII               Berater (UNESCO-Auftrag) beim Aufbau des Staatsobservatorium in Helwan, Ägypten

 1965 XI – 1975 II                 Gastprofessor an d. Ege Universität, Izmir, Türkei
 

Ehrungen:  Mitgliedschaften: Akademie d. Wissenschaften zu Göttingen (1930), Royal Astronomical Society, London (1939), Dt. Akademie d. Naturforscher Leopoldina, Halle (1943), Berliner Akademie d. Wissenschaften (1946), Heidelberger Akademie d. Wissenschaften (1951, 1953-1954 u. 1960-1962 – Sekretär, 1954-1958 – Präsident); Ehrensenator d. Univ. Freiburg i. Br. (1957); Orden Pour le mérite für Wissenschaften u. Künste (1960); Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern (1967).

Über Kindheit und Schulzeit des berühmten Astronomen ist wenig bekannt. Die Familie hatte ihren Vater sehr früh verloren und die Mutter heiratete 1908 zum zweiten Mal. Trotz bescheidener Verhältnisse konnte K., „nach Ablegung der Absolutorialprüfung“ an der Realschule, die Oberrealschule bis zum Abitur besuchen. Im Reifezeugnis steht als Charakteristik über ihn: „Sein Fleiß war immer hervorragend groß, sein Verhalten gab Proben einer idealen Geistesrichtung“, „Überhaupt zeigten seine Prüfungsarbeiten ein außerordentlich großes und tiefgründiges Wissen und Können, das zu schönen Hoffnungen berechtigt“ (Kummer, 1996, 266, 269).

Nach dem Abitur erhielt der begabte Junge ein Stipendium für sein Studium in Höhe von 150 M und immatrikulierte sofort an der Universität München, um Mathematik und Physik zu studieren.

Wegen des Kriegsausbruchs konnte er das Studium nicht beginnen. Laut dem Münchener Studentenverzeichnis für das WS 1914/15 sei der Mathematikstudent Johann K. im Feld. Bereits am 10. August 1914 trat K. freiwillig dem Heeresdienst bei. Sein Kriegsdienst dauerte nicht lange: Anfang November desselben Jahrs verlor K. in Kämpfen bei Ypern durch die Explosion einer englischen Granate sein rechtes Auge. Nach fast zwei Monaten in Lazaretten wurde K. „am 31 Januar 1915 als dienstunbrauchbar mit Rente entlassen“ (UA Heidelberg, PA 4482).

Nun fand K. sein Glück im Unglück und kehrte an die Universität München zurück. Hier begeisterten ihn Vorlesungen und Demonstrationen von Hugo v. Seeliger (1849-1924), eines der bedeutendsten deutschen Astronomen seiner Zeit. Bereits im Herbst begann K. seine Tätigkeit an der Sternwarte als Hilfsassistent, dafür wechselte er auch seine Wohnung, um in unmittelbarer Nähe der Sternwarte zu sein. Seeliger erfasste bald, dass “uns ein junger Mann von ungewöhnlicher Begabung und größtem Fleiße zugeführt worden ist“ (UA München, OC-I- 44p). Die erste Aufgabe K.s bestand in der Beteiligung am Zeitdienst der Sternwarte. K. beschäftigte sich gründlich mit der Untersuchung der Gänge der luftdichten Pendeluhren der Sternwarte. Die gewonnenen Ergebnisse bildeten den Grundstock seiner Doktorarbeit. Anfang 1918, nach nur sechs Semestern bestand K. das Rigorosum in der Astronomie als Hauptfach, Mathematik und Physik als Nebenfächer – mit besten Noten in allen drei Fächern. Über K.s Dissertation schrieb Seeliger in seinem Gutachten: „Die vorliegende Arbeit überschreitet nach Inhalt und Form weit die Anforderungen, die an eine Doktorarbeit zu stellen sind, sie ist eine wirkliche wissenschaftliche Leistung und ich glaube nicht viel zu sagen, wenn ich sie als die beste Arbeit in diesem Gebiete überhaupt bewerte“ (UA München, OC-I- 44p, Hervorhebungen im Original).

Nach der Promotion erhielt K. offiziell eine Assistentenstelle an der Münchener Sternwarte.

Bereits ab 1916/1917 nahm K. auch an Deklinationsmessungen mit Professor Ernst Grossmann (1863-1933) teil, d.h. an Bestimmungen der Winkelabstände der Gestirne vom Himmelsäquator. Dabei bemerkte er einige Unregelmäßigkeiten und suchte nach deren Ursachen. Dies veranlasste ihn, die sog. Saalrefraktion gründlich zu erforschen: Da das Gebäude mit dem Instrument bei den Beobachtungen einem freien Durchzug der Luft ausgesetzt ist, entsteht eine Temperaturverteilung, die die Saalrefraktion, d. h. die Ablenkung des Lichts von Gestirnen durch die Ungleichartigkeit der Atmosphäre um das Instrument herum, hervorruft. K. zeigte, dass dies zu beträchtlichen systematischen Fehlern bei Deklinationsbestimmungen führen kann. Diese Arbeit legte K. Ende Juni 1920 der Fakultät als Habilitationsschrift vor. Grundlegend ist die erste These K.s im Habilitationsverfahren: „Die Wissenschaft besitzt einen Wert an sich, unabhängig von der praktischen Verwendbarkeit ihrer Ergebnisse“ (UA München, E-II-1980). Zu dieser wissenschaftlichen Einstellung bekannte sich K. ein Leben lang.

Anfang August wurde er als Privatdozent durch das Kultusministerium bestätigt. Er las  spezielle Vorlesungen über „Bahnbestimmung der Himmelkörper“ und über „Statistische Behandlung astronomischer Probleme“.

Ein Stipendium der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ermöglichte ihm einen Studienaufenthalt in Berlin und Potsdam im Sommer 1921, der ihm, so er selbst „die entscheidenden Anregungen auf dem Gebiet der Astrophysik“ brachte (UA Heidelberg, PA 4481). Außerdem nahm K. dort an der Versammlung der Astronomischen Gesellschaft teil und konnte mehrere wichtige Kontakte mit Kollegen außerhalb Münchens anknüpfen.

Insbesondere wurde K. zu einem Gastvortrag nach Göttingen eingeladen, und dieser Vortrag hatte schwerwiegende Folgen: Im November 1923 bekam K. den Ruf nach Göttingen, an die Stelle des nach La Plata beurlaubten Ordinarius und Direktors der Sternwarte Johannes Hartmann (1865-1936). K. nahm den Ruf an ab Sommersemester 1924. Da es sich um eine Vertretung handelte, bat K. seine Fakultät zunächst um Urlaub, aber schon Ende Januar teilte er der Münchener Universität mit, dass er in Göttingen bleiben und aus dem Münchener Lehrkörper ausscheiden werde. 1927 – J. Hartmann kehrte nicht zurück – wurde K. zum ordentlichen Professor und Direktor der Sternwarte ernannt.

In Göttingen las K. über ein breites Spektrum von Themen: Außer „Grundlagen der Astronomie“ und „Grundlagen der Astrophysik“, die abwechselnd alle Jahre folgten, hielt er darüber hinaus Vorlesungen über „Thermodynamik und Strahlung der Himmelkörper“, „Bau und Dynamik des Sternsystems“, „Strahlungsmessung“, „Photographische Photometrie“. Zusätzlich hielt er regelmäßig Kolloquien, sowie Seminaren und gab täglich praktische Übungen. Seit den Göttinger Jahren und fast bis zum Lebensende beteiligte sich K. an der Herausgabe zahlreicher Zeitschriften, wie „Zeitschrift für Astrophysik“,“ Zentralblatt für Mathematik und ihre Grenzgebiete“, „Astronomische Nachrichten“, dies meist als Mitherausgeber.

Die ersten Jahre in Göttingen, bis 1933, hielt K. immer für die glücklichsten seines Lebens. Hier gründete er seine Familie, hier fand er den einmaligen Kreis der Göttinger wissenschaftlichen Gemeinschaft „mit ihrer Fülle von Anregungen“ (UA Heidelberg, PA 4481, Lebenslauf K. 1945), hier konnte er sich als Forscher und Lehrer entfalten. Die reichlich veraltete Göttinger Sternwarte wurde unter seiner Leitung zu einem modernen astrophysikalischen Forschungs- und Lehrinstitut umgestaltet, mit teilweise neuen Instrumenten und einem Stab sehr aktiver junger Mitarbeiter. Die „Göttinger Schule“ K.s, aus der zahlreiche führende Astronomen hervorgegangen sind, und sein „Göttinger Temperaturprogramm“ zur Bestimmung von der Temperaturen der Sternatmosphären sind Begriffe aus der Geschichte der Astronomie, die die damalige Tätigkeit K.s kennzeichnen.

K. stand stark ablehnend gegenüber dem Nationalsozialismus, umso mehr, als der Machtübernahme die Zerstörung der berühmten Göttinger wissenschaftlichen Gemeinschaft folgte; viele seiner Freunde wurden entlassen, mehrere emigrierten. In der „neuen“ Universität bekleidete K. keine öffentlichen Posten mehr. Das einzige Mittel, die neuen Verhältnisse zu ertragen, war die Konzentration auf die Arbeit.

Die „politische Unzuverlässigkeit“ K.s war den Behörden bekannt, und eben deswegen führten mehrere Rufe – nach Heidelberg, München und Wien – nicht zu einer Berufung. So wurde 1935 seine Berufung nach München abgelehnt mit der Begründung, dass K. als „Judenfreund“ für die Hauptstadt der Bewegung untragbar sei. 1939 wurde ihm jedoch eine Stelle außerhalb des Hochschulsystems angeboten, nämlich des Direktors des Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, das der Preußischen Akademie der Wissenschaften unterstellt war. K. nahm den Angebot an, um sich aus dem erstickenden Milieu der Universität zu entziehen. K.s Pläne, das Observatorium neu umzugestalten und sein wissenschaftliches Programm weiter zu entwickeln, wurden durch den bald danach begonnenen Krieg verhindert.

1943 wurde K. nach Russland abkommandiert und in die letzte Phase der Ausplünderung der Sternwarte Simeis (Krim) verwickelt. Ihm gelang es, die Bibliothek, das Archiv und einige Reste der Instrumente zu retten und nach Freiburg und die Schweiz zu bringen. Nach dem Krieg könnten sie ja dem Eigentümer zurückgegeben werden. Eine sowjetische Kommission hatte die Korrektheit K.s Handelns festgestellt und den lebensgefährlichen Verdacht, er sei ein „Kriegsverbrecher“, aufgehoben.

Das Kriegsende erlebten K. und seine Frau in Potsdam. (Die Töchter wurden im März 1945 nach Süden – Bodolz bei Lindau am Bodensee – evakuiert, lebten dort als Flüchtlinge und konnten erst im Sommer 1946 ins Elternhaus zurückkehren). Die Hauptsorge K.s war damals, möglichst viel vom Potsdamer Observatorium zu retten, vor Requisitionen und Verwüstung zu schützen und dann mit wenigen verbliebenen Mitarbeitern arbeitsfähig zu machen. Allmählich stabilisierten sich die Umstände mehr oder weniger. K. wurde Professor der Humboldt-Universität in Berlin und Mitglied der Deutschen (zunächst Berliner) Akademie der Wissenschaften. Bei der offiziellen Wiedereröffnung der Akademie am 1.August 1946 hielt K. den Vortrag „Die Maßstäbe des Kosmos“.

Noch Anfang 1946 richtete die Universität Heidelberg an K. den Ruf auf das Ordinariat für Astronomie. K. wollte damals Potsdam noch nicht verlassen: Er strebte danach, sein Observatorium wieder zum Leben zu erwecken. „Es ist mir leider nicht gelungen, auch noch einen [der jungen Astronomen aus westlichen Zonen] zu bewegen, hierher zu kommen, um mich bei dem Wiederaufbau der Astronomie zu unterstützen. Die Angst vor der Sowjetunion überwiegt noch immer alle anderen Argumente“, schrieb K. einem Freund Ende 1946 (Wiedermann, 1989, 386). So handelte er eher als Einzelkämpfer. Er bemühte sich um Wiederbelebung der Astronomie in dem inzwischen geteilten Deutschland. Im Frühjahr 1949 richtete er an die Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine Denkschrift; in der er die Notwendigkeit der Errichtung eines neuen universellen Teleskops für das ganze Deutschland ausführlich begründete. Schließlich kam es zum Bau eines Observatoriums mit einem solchen Instrument in Thüringen. Trotz zahlloser Hindernisse verfolgte und begleitete K. diesen Plan beharrlich bis zur Verwirklichung, auch von Heidelberg aus. Denn unter wachsendem Druck der Politisierung des wissenschaftlichen Lebens in DDR nahm K. den wiederholten Ruf aus Heidelberg im Frühjahr 1950 an. Nach wie vor legte er großen Wert auf die internationale Zusammenarbeit, insbesondere von Wissenschaftlern von Ost und West. Er selbst besuchte die UdSSR zwei Mal aus Anlass astronomischer Tagungen (1955 und 1958) und publizierte auch in russischen Zeitschriften. Die Eröffnung der Sternwarte Tautenberg in Thüringen im Oktober 1960, die an K.s 65. Geburtstag angeknüpft wurde, war wohl der Höhepunkt seiner Bemühungen in dieser Richtung. Überhaupt hoffte K auf den „Druck der Vernunft“ – so äußerte er sich 1928 bezüglich der Wiederaufnahme Deutschlands in die „International Astronomical Union“ (K., 1928, 227). Leider verwirklichte sich diese Hoffnung letztendlich aus politischen Gründen nicht.

Der Umzug K.s nach Heidelberg verlief im Jahr 1950 mit mehreren Verzögerungen, sowohl wegen der Komplikationen zwischen Ost und West, wie auch wegen der Notwendigkeit, eine Dienstwohnung für K. auf dem Königstuhl frei zu bekommen. So kam er erst Anfang September.

K. plante die Sternwarte zu reformieren, um sein astrophysikalisches Programm zu erfüllen. Er sah, dass brauchbare Beobachtungsnächte in Heidelberg ziemlich rar sind, und strebte deswegen nicht an, ein neues Teleskop hier zu errichten. Anstatt sollten seine Mitarbeiter notwendige Beobachtungen an passenden ausländischen Observatorien expeditionsmäßig durchführen und die Daten in Heidelberg bearbeiten. Obwohl K. seine Pläne, dank der Unterstützung privater Stifter, bis 1957 in den Hauptzügen durchsetzen konnte, musste er jahrelang einen endlosen Papierkrieg über die Reorganisation der Sternwarte gegen Stuttgarter und Bonner Behörden führen. Dies verärgerte ihn so, dass er im November 1957 erklärte,  seinen Posten als Direktor der Landessternwarte zur Verfügung zu stellen, weil „ich mich nicht länger bereit finden kann, meine Kräfte zu verbrauchen für die Leitung eines Instituts, das nur als untergeordnete ‚Dienststelle‘ ohne eigene Entscheidungsbefugnis behandelt wird“ (UA Heidelberg, PA 4482). Mit Mühe gelang es der Universität und dem Ministerium, sich K. weiter zu erhalten. Jedoch mit 66 Jahren emeritierte K. vor der gesetzlichen Frist.

Aus Gründen „privater Natur“ (Heckmann, 1975, 67) wählte K. für seine weitere Tätigkeit den Nahen Ost. Von Dezember 1962 bis Juli 1964 wirkte K. als Unesco-Experte in Ägypten, wo das 74-inch-Spiegelteleskop des Observatoriums Helwan aufgestellt wurde und junge Astronomen unterwiesen werden mussten. Ab November 1965 war K. Gastprofessor an der Ege Universität in Izmir, Türkei. Von dort musste er mit bereits länger bemerkten Magenbeschwerden nach Heidelberg, wurde operiert und starb bald danach.

K.s Wirken als Forscher und Lehrer war sehr vielseitig. Seine ersten Arbeiten lagen im Bereich der klassischen beobachtenden Astronomie. Bald wandte er sich auch anderen Gebieten zu, wobei er eigene Ergebnisse mit dem Stand des astronomischen Wissens im Allgemeinen meisterhaft zu verbinden wusste. Die primäre Richtung seiner Forschungen hatte K. selbst bereits 1925 mit „Astronomie als angewandte Physik“ gekennzeichnet. Er veröffentlichte wichtige Artikel über neue Sterne, über interstellare Lichtabsorption, über astronomische Prüfungen der allgemeinen Relativitätstheorie. Weiter beschäftigte sich K. mit der Sonnenphysik; insbesondere konnte er Flash-Spektren während zwei totaler Sonnenfinsternissen aufnehmen (d. h. Spektren von Chromosphäre der Sonne, die blitzartig kurz vor und nach vollständiger Bedeckung aufleuchten): 1926 nahm er an der Sonnenfinsternis-Expedition nach Sumatra teil, 1927 rüstete er selbst eine solche Expedition nach Lappland aus. (Diese beschrieb er sehr lebhaft in einem ausführlichen Artikel (K., 1927)).

Die größte wissenschaftliche Unternehmung K.s war das erwähnte Temperaturprogramm der Messung von Sterntemperaturen. Das Projekt war zunächst intensiv in Göttingen in Angriff genommen. Zu diesem Ziel erarbeitete K. die Methode der Photometrie der Sterne. Ihm gelang es, „die photographische Platte zu einem Präzisionmeßgerät der astronomischen Meßtechnik zu entwickeln“ (Heisenberg, 1975, 133). K.s photographische Photometrie blieb das Muster für zahllose Arbeiten in der ganzen Welt bis sie durch neue photoelektrische Methoden ersetzt wurde.

In Göttingen wurden 36 Fundamentalsterne ausgewählt, die den ganzen Temperaturbereich von 3000 bis 20000 Grad überdecken. Um Sterntemperaturen nicht nur untereinander zu vergleichen, sondern ihre absoluten Werte zu bestimmen, müssen die Messungen der Sterne an einer irdischen Lichtquelle, nämlich am Schwarzkörper, im Labor geeicht werden. Diese Aufgabe stellte sich K. zunächst 1939 in Potsdam, konnte damals aber nur vorläufige Messungen durchführen und erst in Heidelberg zu diesem Problem zurückkehren. Dafür wurde am Königstuhl ein besonderes Strahlungslaboratorium errichtet, nach dem Stifter „Happel-Laboratorium“ genannt (1956). Dieser „absolute Anschluss“, ausgeführt nach Auftrag des Internationalen Astronomischen Kongress (Rom, 1952), gilt als eines der Hauptergebnisse K.s Forschungen.

Gleich wie als Forscher war K. berühmt als hervorragender Lehrer, der ein Mensch „von ungewöhnlicher Ausstrahlung“ (Fricke, 1976, 63) war. „Er weckte in seinen Partnern Kräfte, die ohne seinen Einfluss wohl weiter geschlummert hätten, er polarisierte und befruchtete Mitarbeiter und Schüler“ (Heckmann, 1975, 61). K.s Vorlesungen, die er stets sehr sorgfältig vorbereitete, galten immer als glänzend. Ein besonders weites Spektrum von Themen stellten seine Vorlesungen der Heidelberger Periode: Dazu gehörten die allgemeinen Kurse „Einführung in die Astronomie“ und „Grundlagen der Astrophysik“, sowie auch „Sternatmosphären“, „Bau und Dynamik des Sternsystems“, „Physik der Sonne“, „Probleme der Kosmogonie“, „Sterne und Sternsysteme“ und „Temperaturen in Kosmos“.

Den Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit sah K. aber in der Zusammenarbeit mit seinen Studenten und Doktoranden. Solche Einstellung basierte auf den eigenen Studenten-Erfahrungen: Wie K. später erzählte, verdankte er seine Ausbildung nicht so sehr den Vorlesungen, sondern dem persönlichen Umgang mit seinen akademischen Lehrern. Als Lehrer stellte K. hohe Anforderungen und der Umgang mit ihm war nicht immer bequem. Das Gesamtergebnis war aber effektiv: „Überall in der Welt gibt es K.-Schüler, nicht weniger als 12 von ihnen leiten Sternwarten“ (Kieperheuer, 1965).

Die Lehrtätigkeit K.s im weiteren Sinn hatte noch eine wichtige Facette: Er besaß eine besondere Neigung und Fähigkeit zur allgemeinverständlichen Darstellung astronomischer Themen. Bereits als angehender Privatdozent kündigte er für das Sommersemester 1921 die öffentliche Vorlesung über „Das astronomische Weltbild in Vergangenheit und Gegenwart“ an. In Göttingen veranstaltete er mehrmals öffentliche Vorlesungen und vermag, so erinnerte der Chirurg K. H. Bauer (III, 23), der damals in Göttingen arbeitete, „auch die trockene Wissenschaft mit außergewöhnlicher Lebendigkeit in die breitere Öffentlichkeit zu tragen“ (UA Heidelberg, PA 4481). In Heidelberg las K. regelmäßig eine öffentliche Vorlesung über “Kosmos (Bau der Welt)“. Von den 180 Publikationen K.s etwa 20 sind allgemeinverständliche Vorträge und Artikel. Mehrere von ihnen publizierte K. als Buch (1948, 1952), das die Widmung trägt: „Den Göttinger Freunden in dankbarer Erinnerung“. In einer seiner Reden sagte K., dass sein Fach „letzten Endes kein anderes Motiv kennt, als die Befriedigung des unwiderstehlichen Dranges des Menschen nach Erkenntnis seiner selbst und der Welt, in der er lebt“ (K, 1933, 41f.). Diese Worte können als Motto für K.s Lebens dienen.

QUA München: OC-I-44p, Promotionsakte K.; OC-VII-148, Habilitationsakte K.; OC-IX-115, u. E-II-1980, Personalakte K.; UA Heidelberg: PA 2787, PA 4481, PA 4482, HAW 245, Personalakten K. in d. Universität u. d. Akad. d. Wissenschaften Heidelberg; Rep 14/212; Briefwechsel mit K. Freudenberg1948-1949; Auskünfte aus dem UA Göttingen vom 13.03.2013 und aus dem StadtA Nürnberg vom 5.04.2013

 Die beiden Riefler-Uhren R 23 u. R 33 d. Münchener Sternwarte, in: Astronomische Nachrichten 204, 1917, 281-294; Untersuchungen über Pendeluhren mit besonderer Berücksichtigung der beiden luftdichten Riefler-Uhren R 23 und R 33 der K. Sternwarte zu München (Diss.), in: Neue Annalen d. K. Sternwarte zu München 5, H.3, 1918, 1-105; Untersuchungen über Saalrefraktion, ebd., 213, 1920, 361-378; Neue Sterne, in: Physikalische Zs. 21, 1920, 354-360, 385-392, 410-416; Die Bewegung d. vier inneren Planeten mit besonderer Berücksichtigung d. Bewegung des Merkurperihels, in: Die Naturwissenschaften 10, 1922, 217-224, 246-254; Die Absorption des Lichtes im  interstellaren Raume, in: Jahrbuch d. Radioaktivität u. Elektronik 20, 1923, 1-46; Die astronomischen Prüfungen d. allgemeinen Relativitätstheorie, in: Ergebnisse d. exakten Naturwissenschaften 3, 1924, 55-66; Astronomie als angewandte Physik in: Die Naturwissenschaften 13, 1925, 377-380; Hugo von Seeliger, ebd., 613-619; Die Gestalt d. kugelförmigen Sternhaufen, in: Die Naturwissenschaften 15, 1927, 243-247; Erlebnisse auf einer Sonnenfinsternis-Expedition nach Lappland, in: Die Himmelswelt 37, 1927, 225-238, 344-355; Die Versammlung d. International Astronomical Union in Leiden vom 5.-13. Juli 1928, in: Die Himmelswelt 38, 1928, 227-229; Zur Statistik d. Sterntemperaturen, in: Zs. Für Astrophysik 2, 1931, 1-25; Vom Wesen astronomischer Forschung, in: Die Himmelswelt 43, 1933, 41-52; Wandlungen des astronomischen Weltbilds, in: Die Naturwissenschaften 19, 1931, 601-607; Sterne u. Atome, in: Die Umschau 39, 1935, 81-83; Ergebnisse u. Probleme d. Wissenschaften: Astronomie, in: 25 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung d. Wissenschaften, Bd.2, 1936, 36-45; Das Hainberg-Observatorium d. Göttinger Sternwarte, in: Nachrichten von d. Ges. d. Wissenschaften zu Göttingen, Math.-physikal. Kl., NF, Fachgruppe II, 2, 1936-37, 187-202; Das kontinuierliche Spektrum d. Sterne, in: Ergebnisse d. exakten Naturwissenschaften 16, 1937, 437-464; Photographische Photometrie, in: Handbuch d. Experimentalphysik, Bd. 26: Astrophysik, 1937, 647-694; Über die Zustände d. Materie im Kosmos, in: Die Himmelswelt 48, 1938, 41-55; An den Grenzen von Theorie u. Beobachtung, in: Die Naturwissenschaften 27, 1939, 601-607; 100 Jahre Dopplersches Prinzip, 50 Jahre spektrographische Geschwindigkeitsmessung, in: Die Naturwissenschaften 30, 1942, 433-436; Das Weltsystem des Kopernikus u. das Weltbild unserer Zeit, in: Die Naturwissenschaften 31, 1943, 1-12; Das Alter d. Sterne u. die Expansion d. Welt, ebd., 149f.; Zur Photometrie d. Doppelsterne, in: Sitzungsberichte d. Deutschen Akad. d. Wiss. zu Berlin, Math.-naturwiss. Kl. 1948, Nr. VI, 1-20; Vom Wesen astronomischer Forschung. Aufsätze u. Vorträge, 1948; 21952 unter dem Titel: D. gestirnte Himmel über dir; Ein 2m-Universal-Spiegelteleskop, in: Miscellanea academica Berolinensia 1, 1950, 25-40; Materie u. Energie unter kosmischen Verhältnissen, in: Die Naturwissenschaften 38, 1951, 92-100; Antrittsrede 26. Mai 1951, in: Jahreshefte d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften für 1943/55, 110f.; Sinn u. Aufgabe d. Akademien d. Wissenschaften, Vortrag 18.12.1954, ebd., 187-190; Jahresbericht des Präsidenten, ebd., 193-201; Atome, Sterne, Weltsysteme, 1952; Naturwissenschaft u. Philosophie, in: Ruperto Carola 6, Nr. 13/14, 1954, 126-128; Neue Aspekte d. Kosmogonie, in: Physikalische Blätter 12, 1956, 55-61; (Hg. u. Mitverf.) Symposium über Probleme d. Spektralphotometrie, 1957 (Sitzungsberichte d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., 1956/57, 4. Abhandlung); Das „Happel-Laboratorium für Strahlungsmessung“ an d. Landessternwarte auf dem Königstuhl bei Heidelberg, in: Ruperto Carola 22, 1957, 178-182; Prinzipien d. Ordnung im Kosmos, in: Ruperto Carola 26, 1959, 33-41, auch in: Jahresheft d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 1958/59, 68-82 u. in: Physikalische Blätter 16, 1960, 49-60; Einführung in die Astronomie, 1963; Mensch u. Kosmos, in: Orden pour le mérite für Wissenschaften u. Künste. Reden u. Gedenkworte  VII, 1965/66, 1967, 57-81; D. Mensch in Raum u. Zeit u. Ewigkeit, in: Physikalische Blätter 26, 1970, 193-199; Anschaulich-unanschauliches Weltall, in: Naturwissenschaft u. Medizin 8, Nr. 37, 1971, 14-24; Auf den Spuren Karl Schwarzschilds, in: Sterne u. Weltraum 13, 1974, 79-82.

Poggendoffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch  V, 1926, 628, VI, Teil 2, 1937, 1313, VIIa, Teil 2 , 1958, 756, VIII, Teil 3, 2004, 1650f (W, L – Schriften- u. Literaturverzeichnis); DBE 2. Aufl., 5, 2008, 615f.; W. Fricke, H. K. 60 Jahre, in: Physikalische Blätter 11, 1955, 519f.; Georg Gerster, Der schwarze Körper auf dem Königstuhl. Eine Stunde mit Professor Dr. H. K., in: Georg Gerster, Aus d. Werkstatt des Wissens, 2. Folge, 1958, 171-187 (B vor d. S. 161);

Eröffnung d. Sternwarte Tautenburg, in: Jenaer Rundschau 5, 1960, H. 5, Beilage, 1-7; Karl-Schwarzschild-Observatorium, ebd., 6, 1961, H.1, 20-25; C. Hoffmeister, H. K. 70 Jahre, in: Forschungen u. Fortschritte 39, 1965, 317f. (B); K. O. Kiepenheuer, H. K. 70 Jahre, in: Physikalische Blätter 21, 1965, 521; W. Heisenberg, Gedenkworte für H. K., in: Orden pour le mérite für Wissenschaften u. Künste. Reden u. Gedenkworte  XII, 1974/75, 1975, 125-134 (B auf d. S. 127), auch in: W. Heisenberg, Gesammelte Werke Abt. C, Bd.IV, 1986, 217-222 (ohne B); D. Labs, H. K.+, in: Physikalische Blätter 31, 1975, 222f. (B) u. in: Ruperto Carola 27, H. 55/56, 1975, 114f. (ohne B); O. Heckmann, Nachruf auf H. K., in: Jahrbuch d. Akad. d. Wissenschaften zu Göttingen für 1975, 61-67; W. Fricke, H. K. (1895-1875), in: Jahrbuch d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften für 1976, 63-65 (B); O. Heckmann, H. K.+, in: Mitteilungen d. Astronomischen Ges. Nr. 38, 1976, 9-11 (B); J. Wempe, H. K. 1895-1975, in: Astronomische Nachrichten 297, 1976, 99-105 (W); Hans-Rudolf Wiedemann, Briefe großer Naturforscher u. Ärzte in Handschriften, 1989, 383-391 (B); Orden pour le mérite für Wissenschaften u. Künste. Die Mitglieder des Ordens, 3. Bd., 1994, 96f. (B); H.-J- Kummer, H. K. : Ein Lebensbild zu seinem 100. Geburtstag, in: Sterne u. Weltraum 35, 1996, 266-269 (B – mit  Bildern aus dem Familienbesitz); G. Wirth, Weltanschauliche u. wissenschaftstheoretische Aspekte im Werk H. K.s, in: W. R. Dick, K. Fritze (Hg.) 300 Jahre Astronomie in Berlin u. Potsdam, 2000, 151-168; R. Kippenhahn, H. K., in: Göttinger Gelehrte. Die Akad. d. Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen u. Würdigungen 1751-2001, Bd. 2, 2001, 426f. (B);

D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986, 2009, 333f..

 UA Heidelberg: Pos I 01622 (Photo 1950), Pos I 01623 u. 01624 (Photos ca. 1960), Pos III 00059; Ruperto Carola Nr.3, Jan.1951, S. 5;  Zeichnung von Carl Kölmers in: Ruperto Carola 29, 1961, 307; Gruppenphotos in: Jenaer Rundschau 5, 1960, H. 5, Beilage, S.1, 6, 1961, H.1, S. 25; Vgl. L.