Regener, Erich Rudolf Alexander, Physiker
*12.11.1881 Schlesenau bei Bromberg, Posen (heute Bydgoszcz, Polen). Ev. +27.02.1955 Stuttgart
V Amandus Heinrich August R. (1853-1928), Königlicher Landmesser. M Anna Florentine R., geb. Urban (1859-1942).G 1: Elfriede, verh. Brunn.
∞ 21.08.1906 (Charlottenburg, heute Berlin) Victoria Mintschin (1879 –1949), Künstlerin
∞ 1949 VIII (Stuttgart) Gertrud Heiter (1915-1983), Sekretärin
K 2: Erika Rosalia (1907-1996), verh. Rathgeber, Architektin; Viktor Heinrich (1913-2006), Physikprofessor
1906 Ostern Abitur am humanistischen Gymnasium in Bromberg
1900 IV – 1905 IV Studium d. Physik u. Chemie an d. Universität Berlin
1905 VII 17 Promotion zum Dr. phil.; Diss.: „Über die chemische Wirkung kurzwelliger Strahlung auf gasförmige Körper“; Datum des Diploms 12.08.1905
1905 X – 1914 III Planmäßiger Assistent des Physikalischen Instituts d. Univ. Berlin
1909 V Habilitation für das Fach „Physik“ mit d. Schrift: „Über die Zählung d. α-Teilchen durch die Szintillation u. über die Größe des elektrischen Elementarquantums“
1914 IV -1920 III o. Prof. d. Physik und Meteorologie an d. Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin
1915 VIII -1917 IX Kriegsdienst als Feldröntgenmechaniker, EK II
1920 IV o. Prof. u. Direktor des Physikalischen Instituts an d. TH Stuttgart
1937 X Entlassung aus dem Dienst; ab Januar 1938 Zwangspensionierung
1938 IV – 1955 II Leiter d. Forschungsstelle für Physik d. Stratosphäre in d. Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (ab 1948 Max-Planck-Gesellschaft) in Friedrichshafen am Bodensee
1944 IX Verlegung d. Forschungsstelle nach Weissenau bei Ravensburg
1946 XI Wiederherstellung als o. Prof. u. Direktor des Physikalischen Instituts an d. TH Stuttgart
1948 II Gründung d. Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung d. Wissenschaften mit R. als Vizepräsident
1951 IX 30 Emeritierung
Ehrungen:
Mitglied d. Kaiserlichen Deutschen Akademie d. Naturforscher, Halle (1934);
Korr. Mitglied d. Deutschen Akademie d. Luftfahrtforschung (1942);
Korr. Mitglied d. Heidelberger Akademie d. Wissenschaften (1950);
Korr. Mitglied d. Bayerischen Akademie d. Wissenschaften (1955)
R. wurde in einem Dorf nahe Bromberg (heute Polen) als Sohn des „Königlichen Landmessers“ Amandus R. geboren. Wahrscheinlich wegen des Berufs seines Vaters sollte er verschiedene Schulen besuchen – in Bromberg, Marienburg, Stargard. und wieder in Bromberg, wo er Ostern 1900 das Abitur bestand. Anschließend immatrikulierte R. an der Universität Berlin, wobei er die Physik von Anfang an als Hauptfach wählte.
Der damalige Direktor des Physikalischen Instituts, Emil Warburg (1846-1931), gab R. ein Thema über die Wirkung des ultravioletten Lichts auf Bildung und Zersetzung von Ozon. Mit diesem Thema promovierte R. bei Warburgs Nachfolger Paul Drude (1863-1906), aber sein tatsächlicher Lehrer wurde Drudes Nachfolger Heinrich Rubens (1865-1922), ein außergewöhnlich geschickter Experimentator, der viele Präzisionsmessgeräte ersann und entwickelte, darüber hinaus insbesondere durch seine Erforschungen der infraroten Wellen Anerkennung fand. R. widmete dem Gedenken Rubens einen rührenden Nachruf und einen interessanten Artikel über Rubens‘ Philosophie des physikalischen Experiments, die seine eigene wurde: „…die unbedingte Zuverlässigkeit in betreff des angegebenen Resultate“. „Je inniger sich dabei das Vorstellungsvermögen in das zu bearbeitende Objekt eingefühlt hat, um so leichter wird sich die Anordnung der Dinge ergeben, die die beabsichtigte Wirkung hervorbringt“ (1922, 1022, 1023). Auch Rubens‘ Leidenschaft für das Segeln erbte R..
Bei Rubens erlernte R., physikalische Apparaturen für Präzisionsmessungen zu entwerfen und zu konstruieren. Diese Schulung brachte bald die ersten Früchte: R. benutzte den bekannten Szintillationseffekt, um eine neue quantitative Methode zu erarbeiten: Die genaue Zählung der α-Teilchen von einem radioaktiven Präparat wurde mit der gleichzeitigen Messung der durch sie übertragenen gesamten elektrischen Ladung verbunden. R konnte damit 1908 die erste direkte Messung der Größe der elementaren elektrischen Ladung (Elektron) verwirklichen – ein Ergebnis von ganz prinzipieller Bedeutung, das in die Geschichte der Naturwissenschaft eingegangen ist..
Mit dieser Arbeit habilitierte sich R. im Frühjahr 1909. Als Privatdozent las er über „Radioaktivität“ – zuletzt veränderte er das Thema zu „Praktische Übungen in radioaktiven Messungen“ – und über „Gasentladungen“. Im Dezember 1912 wurde R. der Titel „Professor“ verliehen.
Wissenschaftlich arbeitete er weiter in derselben Richtung, insbesondere, widerlegte er die damals populäre Hypothese über Existenz des „Subelektrons“. (Zu diesem Thema sollte er während 15 Jahre immer wieder zurückkehren).
Zum Sommersemester 1914 wurde R. zum Lehrstuhl der Physik und Meteorologie an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin berufen. Hier sollte er sich zum ersten Mal mit der Erforschung der freien Atmosphäre konfrontieren. Insbesondere versuchte er, die Konvektion in der Atmosphäre modellhaft zu visualisieren..
Im August 1915 wurde R. zum Kriegsdienst eingezogen, und zwar als „Feldröntgenmechaniker“. Er konnte mehrere Verbesserungen an den Apparaturen anbringen. Drei Artikel in der renommierten „Münchener medizinischen Wochenschrift“ zeigen, mit welcher Hingabe sich R. in seine Tätigkeit einsetzte. Seinen „Apparat zur stereoskopischen Röntgendurchleuchtung“ ließ er patentieren.
Im September 1917 und bis zum Kriegsende wurde R. nach Berlin ins Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie abkommandiert. Er war als „Beamter im Hauptmannsrang“ für „Kriegsverwendung“ (UA Stuttgart 57/177) unter Fritz Haber eingesetzt. Er entwickelte einen Gasmaskenfilter, aber auch eine „Gasbüchse“ für feine Zerstäubung von Kampfstoffen. Beide wurden nicht mehr verwendet: Der Krieg kam zu Ende. Dies war die erste Begegnung R.s mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), mit der er weiterhin Kontakte pflegte und deren Mitglied er 1938 wurde.
Ende 1918 kehrte R. an seine Hochschule in Berlin zurück, blieb aber dort nicht lange.1919 erhielt er den Ruf auf den vakant werdenden Lehrstuhl der Physik an der TH Stuttgart. Nun begann die fruchtbarste Periode seiner Tätigkeit als Lehrer und Forscher.
Zunächst wirkte R. als erfolgreicher Organisator. Das vor zehn Jahren erbaute Physikalische Institut, „ein großer Zementblock“, war „zwar geräumig und ansehnlich“ (Ewald, UA Stuttgart, SN1/35, S. 1), hatte aber wesentliche Mängel: „Die Werkstatt war im Untergeschoss und hatte Transmissionen, die an der Decke entlangliefen. Wenn irgendeine Drehbank angestellt wurde, so zitterte das ganze Institut und in keinem der Räume konnte man Beobachtungen <…> machen“ (Ebd.). Die erste Unternehmung R.s war es die Transmission durch Einzelantriebe zu ersetzen. Anschließend, binnen zwei Jahren, ließ er einen Anbau errichten. Im Erdgeschoss wurde eine feinmechanische Werkstätte eingerichtet – und R. verstand es, die besten Mechaniker zu finden und einzustellen (UA Stuttgart, SN 16/35). Im ersten Obergeschoss befanden sich ein Bibliothekraum und einige Assistentenzimmer. Ganz oben fand die Dienstwohnung Platz, und abends konnte man hören, wie die R,s musizierten: R. war ein guter Geigenspieler.
Gleichzeitig begann R. den Unterricht der Physik, die bisher nur als Hilfsfach bei der Ausbildung der Ingenieure galt, zu reformieren. Einerseits verlangte er, einen ordentlichen Lehrstuhl für die Theoretische Physik einzurichten; ab 1921 wurde dieser durch P.P. Ewald (s. dort) geleitet. Andererseits veränderte er entscheidend das Lehrangebot: Nach einer Ausbildung, in welcher Theorie und Experiment eng verbunden sind, konnte man auch an der TH mit physikalischen Arbeiten Diplom-Ingenieur werden und zum Dr.-Ing. promovieren. In einer inhaltsreichen Denkschrift (1923) begründete R. die Notwendigkeit einer solchen Reform und benutzte diese Gelegenheit, um die Industrie, insbesondere die feinmechanische zu bitten, bei der Ausbildung von zukünftigen Physikern zu helfen: Erstens, Praktikanten für eine halbjährige Ausbildung in die Werkstätten aufzunehmen; zweitens, das Physikalische Institut „durch Hergabe von Material, Werkzeug, Instrumenten und Apparaten“ zu unterstützen. „Die Industrie, die hier helfend eingreift, sorgt für ihre eigene Zukunft“, schloss R. seinen Artikel.
Auch später konnte R. erfolgreich Interessenten für seine Wissenschaft werben und Unterstützung finden. Dafür hielt er zahlreiche Vorträge vor verschiedenen Hörerschaften.
R. erarbeitete einen viersemestrigen Kursus der Physik mit der traditionellen Verteilung in Mechanik, Wärme, Elektrizität, Elektrische Wellen einschließlich Optik. Zu seinen Vorlesungen erfand er immer einprägsame Demonstrationen. Die entsprechenden Demonstrationsapparate wurden in den Werkstätten des Instituts gebaut. Außerdem leitete R. physikalische Praktika für Anfänger und für Fortgeschrittene. Zusammen mit Ewald führte er auch ein Physikalisches Kolloquium. Während 1920er-1930er Jahre gingen 92 Diplom- und 21 Doktorarbeiten aus R.s Institut hervor (UA Stuttgart, SN 16/32).
Etwa um 1924 wurde die Nachkriegsarmut überwunden, der Aufbau und die Neueinrichtung des Instituts beendet und das neue Unterrichtssystem begann zu funktionieren. Nun wird die Forschungsarbeit zum Schwerpunkt der Tätigkeit R.s. Er wandte sich der Untersuchung der rätselhaften kosmischen Strahlung zu, die 1912 entdeckt worden, aber vollständig ungeklärt war. (R. nannte sie „Ultrastrahlung“). Um sie in ihre Bestandteile zu zerlegen, muss man sie nach dem Durchgang durch dicke absorbierende Schichten messen. R. entschied, das Wasser des Bodensees zu diesem Zweck zu verwenden. In Friedrichshafen wurden als Basis für diese Arbeiten das Bodenseelaboratorium der TH und das Forschungsboot „Undula“ eingerichtet. Das kam dem Wesen R.s entgegen: Er besaß eine ausgeprägte Neigung, die freie, „natürliche“ Natur zu erforschen, „die Fähigkeit, den Kosmos in seine Beobachtungen einzubeziehen“ (U. Dehlinger, in: „Ansprachen…, 1955“, 42).
R. ließ eine automatisch arbeitende Ionisationskammer und andere selbstregistrierende Apparaturen stufenweise bis 235 m Tiefe im Bodensee versenken. Es zeigten sich dabei Strahlenanteile von bisher unbekannter Durchdringungsfähigkeit.
Um die wenig durchdringende Komponente der Strahlung herauszufinden, musste umgekehrt die Strahlung möglichst beim Eintritt in die Atmosphäre der Erde, also in großen Höhen, gemessen werden. Mit ähnlichen, diesmal auf größte Leichtigkeit umgebauten, raffinierten Instrumenten, montiert im Korb eines Ballons, konnte R. mit Mitarbeitern die bis dahin erreichten Höhen weit übertreffen: 33 km wurden zum Weltrekord. (Zur Sicherheit benutzte man jeweils zwei bis vier miteinander verbundene Ballone. Im Rundfunk wurden Standortmeldungen durchgegeben, so dass die Verfolgung der Flugbahn ermöglichte, die wertvolle Ladung zu finden.) Bei einem Ballonaufstieg vom März 1933 ergab sich das Zusammentreffen zwischen einer ungewöhnlich starken Ionisierung und einer Eruption auf der Sonnenoberfläche. Dies war ein sensationeller Nachweis, dass die Sonne, und auch andere Sterne Quelle der kosmischen Strahlung sind. Ab 1936 wurde eine weitere Methode entwickelt: die Beobachtung der Schwärzungsspuren auf Photographischen Platten. Die Spezialplatten dafür waren Ergebnis der fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Agfa-Werk der IG Farbenindustrie.
Die erfolgreiche Arbeit mit Ballonen gab Antrieb zur Erforschung der hohen Atmosphäre selbst: R. war ja Professor nicht nur der Physik, sondern auch der Meteorologie geworden. Besonders interessant war für ihn das Verhalten des Ozons in der Atmosphäre, des jenigen Stoffs, mit dem er sich als Doktorand beschäftigt hatte. Bereits 1929 trug er der internationalen Ozon-Konferenz in Brüssel vor, dass die Ozonbildung in der Atmosphäre nach existierenden Beobachtungen wahrscheinlich mit kosmischer Strahlung verbunden sei.
Mit dem speziell konstruierten Quarzspektrographen – die ganze Apparatur wog nur 2,7 kg – wurden 1934 insgesamt 30 Spektren des Sonnenlichts bis zur Höhe von 31 km aufgenommen, aus denen die vertikale Ozonverteilung in der Atmosphäre zum ersten Mal gemessen wurde. Diese Pionier-Leistung wurde weltweit anerkannt. Weitere Messungen folgten. „R. und seine Mitarbeiter schufen die Vorstufe der heutigen Ozonüberwachung“ (E. Schopper, 2004, 309)
Nach der „Machtübernahme“ arbeitete R. zunächst ungestört, obwohl seine Frau Jüdin war. Im September 1936 durfte er noch, zusammen mit seinem Sohn, der gleichzeitig sein Doktorand und Mitarbeiter war, sich bei der wissenschaftlichen Konferenz über atmosphärisches Ozon in Oxford beteiligen. Nachdem R. im Herbst 1936 das bekannten „Heisenberg-Memorandum“ gegen „Deutsche Physik“, zusammen mit 74 anderen Physikern unterschrieben hatte, wollte die NS-Verwaltung den „jüdisch versippten“ Professor nicht mehr dulden. R. wurde gesetzmäßig zum Anfang WS 1937/38 entlassen und ab Januar 1938 zwangsweise pensioniert.
Noch vor diesem Ereignis verließ R.s Sohn Deutschland; eine Zeit blieb er in Italien, dann übersiedelte er in die USA. Anfang 1939 emigrierten auch R.s Tochter und ihr Mann, ehemals ein Schüler und Mitarbeiter R.s, nach Australien. (Bemerkenswert ist, dass R.s Sohn, sowie sein Schwiegersohn führende Positionen eben in R.s Arbeitsgebiet erwarben). R. selbst, der deutsch national gesinnt war, wollte aber in Deutschland bleiben, um seine Forschungen fortzusetzen.
Sein Bodenseelaboratorium, zusammen mit dem Forschungsboot wurde ihm weggenommen und ein Zugangsverbot verhängt. R. wagte es, mit drei treuen Mitarbeitern, die ihm folgten, privat ein Forschungslaboratorium in Friedrichshafen Anfang 1938 einzurichten. Dank seiner guten Beziehungen zu Berliner Wissenschaftlern und zur Verwaltung der KWG wurde sein Laboratorium im gleichen Jahr von der KWG als „Forschungsstelle für Physik der Stratosphäre“ übernommen. R. blieb der Leiter und wurde zum Mitglied der KWG.
Die Finanzierung erhielt R. hauptsächlich vom Reichsluftfahrt-Ministerium. Er schuf Kontakte mit der Deutschen Akademie der Luftfahrtforschung und beteiligte sich „als Gast“ an Tagungen der „Arbeitsgruppe für Stratosphärenforschung“, und zwar acht Mal vom Januar 1939 bis Oktober 1941. Im März 1942 wurde er korrespondierendes Mitglied der Akademie. Seine Forschungsrichtung wurde als kriegswichtig anerkannt und dies erlaubte ihm nicht nur einen bedeutenden Teil des Haushalts seiner Forschungsstelle auf Kosten des Ministeriums zu finanzieren, sondern auch seine Mitarbeiter als UK zu halten.
Im Frühjahr 1942 erschien Wernher von Braun (1912-1977) bei R., der Pionier der Raketentechnik, der für seine Arbeit Kenntnisse über Eigenschaften der hohen Atmosphäre brauchte. R. strebte seit 1938 in noch größere Höhen, als sie mit Ballonen erforscht werden konnten: Er arbeitete an einer Presskanone, die die vom Ballon aus in Höhe 25-30 km abgeschossenen, mit Fallschirm versehenen Messinstrumente in Höhen bis etwa 70km befördern könnte. Es wurden bereits Berechnungen und Laborexperimente dazu durchgeführt. Nun verstand R. sofort, welche Möglichkeiten eine Rakete für seine Zwecke darstellen könnte. Eine Zusammenarbeit in dieser Richtung wurde vereinbart. Im Juli 1942 kam R. mit zwei Mitarbeitern in die Heeresanstalt Peenemünde, um die „Entwicklung einer Apparatur zur atmosphärischen Höhenvermessung für A4“ zu besprechen (Paetzold, 1974, 167). (Als A4 bezeichnete man die Großrakete, die als V2 bekannt ist). Nach dem Auftrag des Heeres sollte R. in seinem Institut eine geeignete Nutzlast von bis zu 1000 kg Gesamtgewicht entwickeln und bauen. Später wurde diese Besprechung als Geburtsstunde der extraterrestrischen Physik bezeichnet (ebd.). Der Bau der ersten in der Geschichte der Raumfahrt wissenschaftlichen Raketennutzlast dauerte bis Ende 1944, wo die „Regenertonne“, wie man diesen Komplex nannte, im Dezember 1944 nach Peenemünde gebracht wurde. Der vorgesehene Start konnte aber nie stattfinden: Der Zusammenbruch näherte sich. W. von Braun, der auch 1943 R. zur weiteren Beratung aufsuchte, erinnerte sich später (1958) „begeistert“ über diese Zusammenarbeit, so das Zeugnis eines ehemaligen Schülers R.s (UA Stuttgart, SN 16, , Nr. 34).
Man könnte denken, dass R. so besessen von seiner Forschung war, dass er ganz pragmatisch, ungeachtet der Politik auch für das NS-Heer zu arbeiten bereit war. Die Sache sieht aber nicht so eindeutig aus. Denn R. war „privat dem Terror des Regimes hautnah ausgesetzt“ (Freytag, 2007, 255). Schon bevor die R.s Ende 1937 nach Friedrichshafen kamen, erklärte sich die Stadt als „judenfrei“. R. musste enorme Aktivitäten entwickeln, um seine Frau zu retten: Er behauptete, dass sie nicht Jüdin, sondern Halbjüdin sei. Nach einem Jahr demütigender Bemühungen – R. fand Unterstützung von Seiten der Verwaltung der KWG – konnte man eine provisorische Lösung finden: Viktoria R. darf vorläufig als „Mischling I. Grades“ bezeichnet werden, wobei die endgültige Entscheidung darüber nach dem Kriegsende folgen solle. Trotzdem musste sie den gelben Stern tragen und viele Schikanen erleiden. Kohlheim (2011, 27) vermutet, dass R. eben wegen der Notwendigkeit, seine Frau und sich vor Verfolgungen zu bewahren, seine Arbeit für die Wehrmacht einsetzte.
Wegen immer häufigerer Luftangriffe – Friedrichshafen war ja eines der wichtigsten Rüstungszentren Deutschlands – begann R. seine Forschungsstelle ab Herbst 1943 an einen sicheren Ort zu verlegen, nämlich nach Weissenau bei Ravensburg, etwa 20 km nach Nord-Ost von der ursprünglichen Basis. Im April erfolgten ernsten Schäden durch einen Luftangriff, auch R.s Wohnung wurde zerstört, wobei viel Wertvolles, u. a. Briefe von Albert Einstein und Ernest Rutherford, verloren ging. Im September 1944 folgte die endgültige Umsiedlung nach Weissenau. Die Schrecken der Luftangriffe, das Ende seines Hauses und andere Kriegserlebnisse und Strapazen hat R. ausführlich im Brief an Kinder vom 14. Juni 1945 beschrieben (UA Stuttgart, SN 16, Nr. 44). Das Kriegsende erlebte R. in Weissenau. Bei Gesprächen mit der französischen Kommandantur sicherte er den Weiterbestand der Einrichtung.
Im Juni 1945 wandte sich der neue Rektor d. TH Stuttgart an R. mit dem Angebot und dem Versprechen, ihn an seinem Institut wiederanzustellen. R. stimmte unter zwei Bedingungen zu: Er gebe seine Forschungsstelle in Weissenau nicht auf und er betrachte jegliche Zusammenarbeit mit den „Herren“, die seine Entlassung verursacht hatten, für ausgeschlossen (UA Stuttgart 57/177). Ab WS 1945/46 wurde R. zunächst kommissarisch, ab April 1946 endgültig auf seinen Stuttgarter Lehrstuhl und im Physikalischen Institut wieder eingesetzt. Der Lehrbetrieb konnte im Februar 1946 aufgenommen werden. R. arbeitete im wöchentlichen Wechsel in Stuttgart und Weissenau. Ab WS 1948/49 las er hauptsächlich, dann ausschließlich über „Physik der hohen Atmosphäre“; die allgemeinen Physikvorlesungen wurden jüngeren Kollegen überlassen.
Zu der Wiederaufbauarbeit gehörte auch die Neugründung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft – zunächst in der amerikanischen Zone Württemberg-Baden mit R. als Vorstand. In den von ihm verfassten Satzungen wurde die Verpflichtung der Gesellschaft deklariert, „das Gefühl der Mitverantwortlichkeit der in der Wissenschaft tätigen an der Gestaltung des menschlichen Lebens wachzuhalten“. Die Gesellschaft „tritt dabei stets für die Freiheit, Wahrhaftigkeit und Würde der Wissenschaft ein“ (1947, 169). Weiter hatte R. eine Denkschrift vorbereitet über „Notwendigkeit der Förderung der physikalischen Wissenschaften“, die dann überall in der zukünftigen Bundesrepublik Deutschland verbreitet wurde. Auch als Vizepräsident der neugegründeten Max-Planck-Gesellschaft sparte R. keine Mühe, das Wiederaufleben der Naturwissenschaften in Deutschland zu befördern.
Nach grundlegenden Reparaturen begann R. in Weissenau Vorbereitungen zu Forschungen der hohen Atmosphäre. Bis 1950 blieben alle Ballonaufstiege durch die Besatzungsmächte verboten. Danach folgten aber weitere Untersuchungen mit Mitarbeitern, insbesondere über Wolkenbildung. Dazu dienten noch vor dem Krieg begonnene Experimente über die Kondensation des Wasserdampfs bei tiefen Temperaturen. Eine Zusammenfassung dazu stellt die letzte Publikation R.s dar, sie erschien postum.
R. arbeitete bis zum Lebensende: „…wenn ich zu arbeiten aufhöre, dann würde ich nur einrosten und vertrotteln“, schrieb er seinen Kindern, in Beantwortung auf deren Rat, sich Ruhe zu gönnen (UA Stuttgart, SN 16, Nr. 104: Brief vom 2.05.1949). R. starb während der Vorbereitungen des „Internationalen geophysischen Jahres“.
Das literarische Erbe R.s zählt 80 Veröffentlichungen. Die bedeutendsten von ihnen fielen in seine Stuttgarter Zeit und sind hauptsächlich zwei Bereichen gewidmet – Erforschung der kosmischen Strahlung und Erforschung der hohen Atmosphäre. In beiden Bereichen konnte er als erster experimentelle Daten gewinnen, die an die Grenzen der damaligen technischen Möglichkeiten stießen und deswegen bahnbrechend für die späteren Entwicklungen erscheinen. In der Geschichte der Naturwissenschaft verbleibt R. ein Pionier-Forscher, insbesondere als Wegbereiter der extraterrestrischen Physik.
Q UA Stuttgart: 57/177 (Personalakte R., 1945-1958); SN 16 (Nachlass R.); SN 1/35 (Erinnerungen von P.P. Ewald, 1979, S. 1-2, 20-23); UA Heidelberg: HAW 389 (Akte R. als Mitglied d. Heidelberger Akademie).
W Über die chemische Wirkung kurzwelliger Strahlung auf gasförmige Körper, in: Annalen d. Physik 20, 1906, 1033-1046; (mit Edgar Meyer) Über Schwankungen d. radioaktiven Strahlung u. eine Methode zur Bestimmung des elektrischen Elementarquantums, in: Annalen d. Physik 25, 1908, 757-774; Über die Zählung d. α-Teilchen durch die Szintillation u. über die Größe des elektrischen Elementarquantums, in: Sitzungsberichte d. Königlich Preußischen Akademie d. Wissenschaften 28, 1909, 947-965; Über Ladungsbestimmungen an Nebelteilchen (Zur Frage nach d. Größe des elektrischen Elementarquantums), in: Physikalische Zs. 12, 1911, 135-141;
Die neuen Versuche von C. T. R. Wilson zur Sichtbarmachung d. Bahnen d. radioaktiven Strahlen, in: Die Naturwissenschaften 1, 1913, 299-301; Über Kathoden-, Röntgen- u. Radiumstrahlen. Rede, 1915; dasselbe in: Strahlentherapie 6, 1915, 1-15; Rauchversuche zur Veranschaulichung d. Wirkung d. Sonnenstrahlung auf die Atmosphäre, in: Arbeiten aus den Gebieten d. Physik, Mathematik, Chemie: Festschrift Julius Elster u. Hans Geitel, 1915, 545-548; Seitliche Röntgenaufnahmen des Schulterblattes, in: Münchener med. Wochenschrift 64, 1917, 507f.; Ein einfacher Apparat zur stereoskopischen Röntgendurchleuchtung, ebd., 1181-1183; Über die Schärfe d. Röntgenbilder u. ihre Verbesserung, ebd. 1518-1520;
Rubens u. die Experimentierkunst, in: Die Naturwissenschaften 10, 1922, 1021-1024;
Ausbildung für Physik an d. Technischen Hochschule Stuttgart, in: Die Industrieblatt 28, 1923, 109-110 [Sonderdruck im UA Stuttgart, SN 16, Nr. 39]; Heinrich Rubens (1865-1922), in: Physik-Büchlein, Ein Jahrbuch d. Physik 1, 1924, 7-9; Beitrag zur Aufklärung d. „Subelektronen“, in: Die Naturwissenschaften 14, 1926, 219.223; Messungen d. Albedo an künstlichen Nebenschichten, in: Zs. für physikalische Chemie A, 139, 1928, 416-424; Ozon u. Leitfähigkeit d. Atmosphäre, in: Gerlands Beiträge zur Geophysik 24, H.1, 1929, 70f.; Über die durchdringende Komponente d. Ultrastrahlung, festgestellt durch Absorptionsmessungen im Bodensee, in: Physikalische Zs. 31, 1930, 1018f.; Durchdringende Höhenstrahlung (Ultrastrahlung) u. kosmisches Geschehen, in: Elektrotechnische Zs. 52, 1931, 97-102; Über das Spektrum d. Ultrastrahlung, in: Zs. für Physik 74, 1932, 433-455; Messung d. Ultrastrahlung in d. Stratosphäre, in: Die Naturwissenschaften 20, 1932, 695-699; New Results in Cosmic Ray Measurements, in: Nature 132, 1933, 696-698; D. Energiestrom d. Ultrastrahlung, in: Zs. für Physik 80, 1933, 666-669; Die Absorptionskurve d. Ultrastrahlung u. ihre Deutung, in: Physikalische Zs. 34, 1933, 306-323; Weitere Messungen d. Ultrastrahlung in d. Stratosphäre, ebd. 820-823, 880; (mit G. Pfotzer) Intensity of the Cosmic Ultra-Radiation in the Stratosphere with the Tube-Counter, in: Nature 134, 1934, 325; (mit V. H. Regener) Ultra-Violet Solar Spectrum and Ozone in the Stratosphere, ebd., 380; Ultrastrahlung in ihrer Bedeutung für die Astronomie, in: Die Sterne 14, 1934, 1-7; (mit G. Pfotzer) Messungen d. Ultrastrahlung in d. oberen Atmosphäre mit dem Zählrohr, in: Physikalische Zs. 35, 1934, 779-784; (mit R. Auer) Weitere Messungen d. Ultrastrahlung in d. oberen Atmosphäre mit offenen Ionisationskammern, ebd., 784-788; (mit V. H. Regener) Aufnahmen des ultravioletten Sonnenspektrums in d. Stratosphäre u. vertikale Ozonverteilung, ebd., 788-793; (mit G. Pfotzer) Visual Intensity of Cosmic Rays by Threefold Coincidence in the Stratosphere, in: Nature 136, 1935, 718f.: Physikalische Messungen in d. Stratosphäre, in: Forschungen u. Fortschritte 11, 1935, 128-130; Oxygen Content of the Stratosphere, in: Nature 138, 1936, 544; Über Ultrastrahlungsmessungen in großen Wassertiefen u. über die Radioaktivität von Trockenbatterien, in: Zs. für Physik 100, 1936, 286-292; Die kosmische Ultrastrahlung, in: Die Naturwissenschaften 25, 1937, 1-11; (mit A. Ehmert) Über die Schauer d. kosmischen Ultrastrahlung in d. Stratosphäre, in: Zs. für Physik 111, 1938/39, 501-507; Aufbau u. Zusammensetzung d. Stratosphäre, in: Jahrbuch d. Deutschen Akademie d. Luftfahrtforschung 1939/1940, 262-268; Ballone mit großer Steiggeschwindigkeit u. Thermograph von geringer thermischer Trägheit, in: Schriften d. Deutschen Akademie d Luftfahrtforschung 37, 1941, 3-14; Versuche über die Kondensation u. Sublimation des Wasserdampfes bei tiefen Temperaturen, ebd., 15-24 (Auszüge in: Jahrbuch d. Deutschen Akademie d Luftfahrtforschung 1940/1941, 352-358); Atmosphärische Turbulenz u. Ozonschicht, in: Mitteilungen d. Deutschen Akademie d. Luftfahrtforschung Bd. 2, 1943, H. 3, 301-326 (gekürzte Version in: Jahrbuch d. Deutschen Akademie d. Luftfahrtforschung 1942/1944, 74-82); Ozonschicht u. atmosphärische Turbulenz, in: Meteorologische Zs. 60, 1943, 253-269; Über das „photochemische“ Klima d. Erde, in: Die Naturwissenschaften 33, 1946, 163-166; Mitverantwortlichkeit d. wissenschaftlich Tätigen, in: Physikalische Blätter 3, 1947, 169f.; Ozon in d. Erdatmosphäre, in: Euclides (Madrid) 11, 1951, 245-250 [Sonderdruck im UA Stuttgart, SN 16, Nr. 8]; Die hohe Atmosphäre, in: Jahrbuch d. Max-Planck-Ges. für 1952, 144-189; Robert Andrews Millikan+, in: Physikalische Blätter 10, 1954, 227-229; Deutsch-französische Zusammenarbeit bei d. Erforschung d. hohen Atmosphäre mit Hilfe von Raketen, in: Mitteilungen aus d. Max-Planck-Gesellschaft, 1954, H.3, 145-148; (mit R. Mühleisen) Über luftelektrische Messungen, insbesondere bei d. Sonnenfinsternis am 30. Juni 1954, ebd., 1955, H. 1, 28-32; Optische Interferenzen an dünnen, bei –190oC kondensierten Eisschichten, in: B. Rajewsky u. G. Schreiber (Hgs.), Aus d. deutschen Forschung d. letzten Dezennien, 1956, 502-507.
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Hans Kohlheim, E. R., Stuttgarter Physiker, die von ihm in Friedrichshafen gegründete Forschungsstelle u. seine Familie, Typoskript (unveröffentlicht), 2011, in: UA Stuttgart, SN 16, Nr. 108.
B UA Stuttgart, SN 16, Nr. 11 u. 110-140; vgl. L.