Schipperges, Johannes Heinrich, Medizinhistoriker, Geisteswissenschaftler, Schriftsteller

 

*17.03.1918 Kleinenbroich (heute: Stadtteil von Korschenbroich) bei Düsseldorf. r.-k. + 10.05.2003 Dossenheim bei Heidelberg.

 

Paul S. (1878-1955) Kaufmann, Innenarchitekt.

 

Katharina, geb. Hellenbroich (1890-1983).

 

G 3: Bruno Josef S. (1919-1987), Kaufmann; Elisabeth Henriette S., verh. Gensbaur (1921-2008);  Paul Friedrich Karl-Josef S. (1925-2007), Lehrer, Studiendirektor. 

 

∞ 11.05.1955 (Ort ist unbekannt) Ruth, geb, Niessen (*1924), Chemikerin

 

K 3S, 1T: Michael (*1958) Politologe, Thomas (*1959) Musikwissenschaftler,  Barbara (*1960) Biologin, Stefan (*1962), Dr. phil., Studiendirektor.

 

 

 

1928 IV- 1937 II                     Besuch und Abschluss des Staatlichen Gymnasium in Neuß am Rhein

 

1937 IV - 1937 X                   Reichsarbeitsdienst

 

1937 XI - 1945 V                   Militär- u. Kriegsdienst als Panzerjäger, zuletzt in amerikanischer Gefangenschaft

 

1941 V - 1942 IV                   Studium Philosophie u. Psychologie aufgrund einer Verwundung an d. Universität Tübingen

 

1946 I - 1951 VI                     Studium Medizin an d. Universität Bonn; ärztliche Staatsprüfung mit d. Note "sehr gut" am 14.07.1951

 

1951 VII 30                             Promotion summa cum laude zum Dr. med. ebd.; Diss.: "Krankenursache, Krankheitswesen u. Heilung in d. Klostermedizin, dargestellt am Welt-Bild Hildegards von Bingen"

 

1951 IX - 1952 VI                  Volontärassistent an d. Medizinischen Klinik Bonn

 

1952 VI 19                              Promotion summa cum laude zum Dr. phil. ebd., Diss.: "Das Bild des Menschen bei Hildegard von Bingen. Beitrag zur philosophischen Anthropologie des 12. Jahrhunderts"

 

1952 VII - 1954 VII                Volontärassistent an d. Neurochirurgischen u. ab Mai 1954 an d. Psychiatrischen Klinik d. Univ. Zürich

 

1954 VIII - 1957 VII               Stipendiat d. Deutschen Forschungsgemeinschaft; Studium Arabistik an d. Univ. Bonn

 

1957 VIII - 1959 X                 Assistent am Medizinhistorischen Institut d. Univ. Bonn

 

1959 I 9                                  Habilitation für das Fach Geschichte d. Medizin ebd.; H.-schrift: "Rezeption u. Assimilation d. arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter"; Antrittsvorlesung am 21. Febr. 1959 "Alexander von Humboldt u. die Medizin seiner Zeit"

 

1959 XI - 1961 VIII                Arbeit an d. Univ. Kiel zunächst als Assistent mit Lehrauftrag, ab März 1960 als Privatdozent u. ab Dez. 1960 als apl. Professor für Geschichte d. Medizin

 

1961 IX - 1986 III                   o. Professor (bis Juli 1961 - als Extraordinarius mit Amtsbezeichnung o. Prof, dann Ordinarius) am neu errichteten Lehrstuhl u. Direktor des Instituts für Geschichte d. Medizin an d. Univ. Heidelberg

 

Ehrungen  (Auswahl): Dr. h.c. Universität Madrid (1979); Mitglied: Real Academia de Bellas Artes y Ciencias Histόricas de Toledo (1972); Heidelberger Akademie d. Wissenschaften (1973); Europäische Akademie d. Wissenschaften u. Künste (1993); Walter-Trummert-Medaille für Besondere Verdienste auf dem Gebiet der medizinischen Publizistik (1975); Albert-Schweizer-Medaille (1983); Hildegard von Bingen-Medaille d. Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung (1986); Paracelsus-Medaille d. Deutschen Ärzteschaft (1989); Bundesverdienstkreuz 1. Kl. (1999).

 

 

 

S. repräsentiert eine einzigartige Figur der Kultur Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts:  Eine derartige Verschmelzung von Mediziner, Geistwissenschaftler und Schriftsteller in einer Person ist heute kaum mehr anzutreffen.

 

 

 

In seinem Zeugnis der Reife stand: "Der begabte Schüler arbeitete selbständig und ernst mit gutem Erfolge an seiner körperlichen, geistigen und charakterlichen Ertüchtigung". Die Abschlussprüfungen bestand S. mit der Gesamtnote "gut" und der Erklärung, dass er "Philosophie studieren" wolle (UA Tübingen 364/24079); wie S. später einräumte, war dies die Empfehlung des Gymnasiumdirektors, die später teilweise erfüllt wurde. Zunächst musste S. seinen Reichsarbeitsdienst ableisten, dann den Militärdienst, der 1940 in den Kriegsdienst überging.

 

Im Frankreich-Feldzug wurde S. zum Leutnant befördert und bald danach durch Kehlkopfsteckschuss schwer verwundet. Sechs Monate verbrachte er in einem Hospital in Stuttgart und anschließend erhielt er einen Genesungsurlaub. S. benutzte die Zeit, um an der nächstgelegenen Universität Tübingen Philosophie und Psychologie zu studieren. Das wurde ihm für zwei Semester vergönnt. Besonders enge Beziehungen entstanden zu dem Professor für Psychologie, Gerhard Pfahler (1897-1976), die sich auch in der Nachkriegszeit bewährten. Zusätzlich fuhr S. wöchentlich nach Freiburg, wo er die Vorlesung Martin Heideggers (1889-1976) über Hölderlin hörte. Er war davon so begeistert, dass er für das nächste Semester nach Freiburg zu wechseln hoffte. Stattdessen wurde er zum Kriegsdienst zurückgerufen. Fast bis zum Kriegsende blieb S. an der Ostfront, meistens am Kaukasus und auf der Krim. Beim Rückzug geriet er 1945 in amerikanische Gefangenschaft.

 

Während der Kriegsjahre, in denen S. insgesamt viermal verwundet wurde, reifte in ihm die Entscheidung, Arzt zu werden. Im November 1945 wurde die Universität Bonn wiedereröffnet, und S. meldete sich voll Hoffnung an. Bei 2500 Plätzen und 12000 Bewerbern wurde er aber nicht angenommen, obwohl er Kriegsversehrter war und gute Noten hatte. "Ich wehrte mich dagegen, habe gewühlt und gebohrt, bis ich doch ankam", erinnerte sich S. (UA Heidelberg, Rep. 100/58). Ende des ersten und auch des zweiten Semesters wurde er nach Verordnung der Britischen Militärregierung als "Offizier" zwangsexmatrikuliert.  "Habe wieder gebohrt und gebohrt, bis ich reinkam" (ebd.). Der Anfang war auch wegen des Wohnungsmangels und des chronischen Hungers nicht leicht. Es herrschte aber eine "Begeisterung, ... von der man sich ... keine Vorstellung mehr machen kann" (S., 1973, Antrittsrede, 136). Bald entstand die Triade von drei untrennbaren Freunden. Der jüngste von ihnen, Herbert Schriefers (* 1924), später Professor, erinnerte sich: "Heinrich vertrat die poetische und metaphysische Seite der Lebensbetrachtung und Lebensführung" (UA Heidelberg, Rep. 100/30). Die Freunde besuchten außer den obligatorischen Fächern auch eine philosophische Vorlesung.

 

Nach dem Physikum sah sich S. dem "Methodenkampf" in der Medizin zwischen psychosomatischen und traditionellen Richtungen ausgesetzt, und dies wurde ihm Motivation sich der Geschichte der Medizin zuzuwenden. Ihr "Spiritus rector" (so S., 1973, Steudel, 225) war in Bonn der vielseitig gebildete Johannes Steudel (1901-1973), der für S. Doktorvater und später väterlicher Freund wurde.

 

Mehrere Monate verbrachte S. in der Abtei Maria Laach bei den Benediktinern, um die Werke von Hildegard von Bingen (1098-1179) zu studieren und seine medizinische Doktorarbeit über sie zu fertigen. Nach der Promotion arbeitete S. an der Medizinischen Klinik der Universität und gleichzeitig bereitete er eine weitere Doktorarbeit vor, auch aufgrund seiner Hildegard-Studien, aber nicht in Geschichte der Medizin, sondern in Philosophie bei Erich Rothacker (1888-1965), dessen Seminare über philosophische Anthropologie ihn dazu angeregt hatten.

 

Zu der außergewöhnlich großen Gestalt der Benediktineräbtissin Hildegard kehrte der tief gläubige Katholik S. immer wieder zurück. Von ihm stammen mehrere Bücher und viele Artikel über sie, sowie kommentierte Übersetzungen ihrer Werke. Als die Universität Bonn im Oktober 2002 S. doppeltes 50jähriges Promotionsjubiläum feierte und die beiden Dekane der Medizinischen bzw. der Philosophischen Fakultät ihm die "Goldenen Doktordiplome" überreichten, bedankte sich S. mit dem Vortrag "Die Welt der Hildegard von Bingen". Insgesamt trug S. entscheidend zur Kenntnis dieser faszinierenden Frau des Mittelalters bei.

 

 

 

Nach seiner zweiten Promotion erhielt S., dank der Vermittlung seines Lehrers Steudel, eine Assistentenstelle in Zürich; das war damals, wie er später sagte, "ein Eldorado für einen angehenden Psychotherapeuten" (S., 1973, Antrittsrede, 136). S. erwarb dort bedeutende Erfahrungen in Elektroenzephalographie, durfte ein Jahr lang die Epileptikerambulanz leiten und war auf dem besten Wege, ein guter Facharzt in der Elektrophysiologie des Gehirns zu werden.

 

Seine Neigung zu allgemeineren Ansätzen, die ihm die Geschichte der Medizin anbieten könnte, erschien doch entscheidend für seine weitere Laufbahn. Steudel, der S. hoch schätzte, bemühte sich, ihn für sein Institut zu gewinnen. Da Steudel aber damals über keine Assistentenstelle verfügte, versprach er S., ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu verschaffen. Damit man seinen Antrag sicher und schnell genehmigte, stellte er diesen für "arabische Medizin" und bekam die Unterstützung von Seiten des Ordinarius für semitische Philologie, Otto Spies (1901-1981). So kam es dazu, dass S., nun wieder in Bonn, während zehn Semestern Arabistik studierte. Wie Spies es bereits vorausgesagt hatte, deckte die Arbeit S. "ungeahnte Schätze" auf. (Arabische Handschriften studierte S. insbesondere in Bibliotheken Spaniens.) Tatsächlich, eröffnete sich ein neues Kapitel in der Geschichte der Medizin und das brachte dem Verfasser nicht nur die Venia legendi, sondern auch Anerkennung bei Fachkreisen des In- und Auslands.

 

Bald nach seiner Habilitation erhielt S. seine erste planmäßig bezahlte Assistentenstelle an der Klinik der Universität Kiel. Er bekam gleichzeitig zwei Lehraufträge - für Geschichte der Medizin in der Medizinischen Fakultät und für Kulturgeschichte des arabischen Mittelalters in der Philosophischen Fakultät. Nach der Umhabilitierung wurde er Privatdozent für Geschichte der Medizin und Ende 1960 - außerplanmäßiger Professor. Seine Vorlesungen hatten Erfolg.

 

In Kiel schloss S. außerdem offiziell seine ärztliche Ausbildung als Facharzt für Nerven- und Gemütsleiden ab.

 

 

 

Inzwischen entschied Anfang 1960 die Medizinische Fakultät der Heidelberger Universität, nach Anregung des Dermatologen und Medizinhistorikers Walther Schönfeld (s. dort), einen planmäßigen Lehrstuhl für die Geschichte der Medizin einzurichten. Auf diese Stelle wurde S. berufen. "Was die Fakultät veranlasst, ihn an erste Stelle zu setzen, ist vor allem seine stetige, auf hohem Niveau sich durchhaltende wissenschaftliche Produktivität", stand im Brief der Fakultät an das Kultusministerium vom 15. Februar 1961 (UA Heidelberg, H-III-563/2).

 

Im Spätsommer 1961 kam S. mit seiner Familie nach Heidelberg und begann leidenschaftlich seinen Lehrstuhl und das Institut für Geschichte der Medizin aufzubauen.

 

In Kiel sah sich S. noch gezwungen, in seinem Fach "nur dienende Funktion" zu erleben (UA Heidelberg, Rep. 100/49). In Heidelberg aber erarbeitete er ein anspruchsvolles Programm, das auf seiner These basierte, dass Geschichte der Medizin nicht ein Spezialfach zusätzlich zu vielen medizinischen Disziplinen sei, sondern ein integrierendendes und allgemeinbildendes Fach für jeden Arzt, das "den werdenden Arzt vom ersten bis zum letzten Semester und darüber hinaus geleiten und begleiten [will]." (S., 1962, Ein Institut..., 251).

 

Diese Einstellung, in Zeiten der Spezialisierung und Differenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen, die Medizingeschichte als "Brückenfach", ja als eine Theorie der Medizin zu betrachten, plädierte und entwickelte S. bis zum Lebensende.

 

Dementsprechend führte er für die ersten Semester einen zweistündigen Kurs "Einführung in den Raum und Geist der Medizin" ein, ab 1965 "Allgemeine Einführung in die Medizin". Ein erhaltenes Typoskript dieses Kursus (UA Heidelberg, Rep. 100/7, ca. 300 S.) zeigt, wie allgemein S. das Gesamtbild der Medizin darstellte. Die Kapitel seiner Vorlesungen heißen: "Natur und Mensch", "Die Lehre vom Organismus" (Anatomie und Physiologie), "Die Lehre vom Leiden" (Pathologie, Ätiologie und Pathogenese; Psychopathologie), "Medizinische Zeichenlehre" (Semiotik, Anamnestik, Diagnostik, Prognostik), "Das Haus der Heilkunde" (Therapeutik, Diätetik und Profilaxe, Pharmakologie und Pharmazie, Chirurgie) und  "Ärztliche Berufskunde" (die ärztliche Ethik, Sozialmedizin, öffentlicher Gesundheitsdienst, Medizinische Anthropologie).

 

Jedes Semester las S. zwei Stunden wöchentlich die eigentliche "Geschichte der Medizin", aber jeweils mit verschiedenen Schwerpunkten: über die Medizin des Altertums, über 19. Jahrhundert, weiter Medizin des Mittelalters, Medizin der neuesten Zeit, aber auch über die Entwicklung der Krankheits- und Gesundheitsvorstellungen. Außerdem leitete S. regelmäßig Kolloquien für Doktoranden und jedes Semester ein Seminar: "Der Arzt als Kulturträger", oder "Impulse der Medizin auf die Sozialbewegung der Neuzeit", oder "Was ist Medizinische Anthropologie?"

 

So  richtete sich die gesamte Lehrtätigkeit S.'  auf die genannte integrierende Rolle seines Fachs. S. verstand es, Interesse für allgemeine Probleme der Medizin in ihrer historischen Entwicklung zu wecken. Seine Vorlesungen und Seminare waren sehr gut besucht, und der Erfolg seines Unterrichts ist auch damit charakterisiert, dass er fünf Professoren seines Fachs heranbildete.

 

 

 

Noch vielseitiger und folgenreicher tritt der allgemeine Ansatz S.' zur Geschichte der Medizin in seiner wissenschaftlicher Arbeit heraus. Die literarische Produktivität S.' ist beispiellos: Er publizierte 99 Bücher und etwa 1050 Artikel - eine beeindruckende Zahl, wenn sie auch verschiedene Versionen von denselben Themen einschließt. Sogar eine kleine Auswahl der Titel (s. W) zeigt, wie facettenreich das wissenschaftliche Werk S.' war.

 

In seinem riesigen Werk könnten, etwas relativ, drei Gruppen unterschieden werden: Medizinhistorische Forschungen in engerem Sinn sind vor Allem der Medizin des Mittelalters gewidmet. S. hat insbesondere gezeigt, dass drei große damalige Leistungen für unsere Zeit von Bedeutung wurden: Die Konzeption einer Heilkunde als eines öffentlichen Gesundheitsdienstes; die Entwicklung des Hospitals zum modernen Krankenhaus; die Annahme der alten Heilkunst an die Universität. Zu dieser Gruppe gehören auch zahlreiche Biographien von Medizinern oder Medizin-verbundener Persönlichkeiten.  Schön und meisterhaft geschriebene Texte S.' zeigen dem Leser jeweils die innere Begeisterung des Verfassers für seine Schilderungen - sei es die Gestalt von Petrus Hispanus, dem einzigen Mediziner, der  "den päpstlichen Stuhl bestiegen hat", oder die hervorragende Persönlichkeit Rudolf Virchows ("der Altmeister der Medizin, der unbequeme Politiker, der große Naturforscher, der heimliche Philosoph" (S., 1994, 7)), oder auch die Geschichte der Medizinischen Fakultät in Heidelberg - überall treffen wir auf die Einheit von tiefer Kenntnis des Gegenstands, echt schriftstellerischem Stil und profundem Einblick eines Philosophen.

 

Die andere Gruppe bilden Arbeiten von allgemeinerem, sozusagen philosophischem oder medizin-philosophischem Inhalt. Hier nur ein kleines Beispiel, auch seiner schriftstellerischen Kunst: Nicht nur einem Bücherwurm, sondern jedem Leser ist ein schönes Büchlein "Lesen verändert" (1983) zu empfehlen. Für den Verfasser erscheint das Buch wie ein Geschöpf, das gezeugt und geboren wurde, heranwächst und stirbt, auf seinem Weg jedoch tiefe Spuren hinterlässt.

 

Die Arbeiten der dritten Gruppe, gesundheitserzieherische Werke, sind auf die Gesundheitsbildung der Menschen gerichtet und bilden den Schwerpunkt von S.' Tätigkeit während seiner letzten Jahrzehnte.

 

Die Grenzen zwischen den genannten drei Gruppen sind nicht scharf, und alle Arbeiten sind durch S.' allgemeinen Ansatz verbunden. Seine Empfehlungen für heute unterstützt S. durch Ergebnisse der Geschichte und bei seinen historischen Forschungen sucht und findet er Keime der Gegenwart in der Vergangenheit, noch mehr - er schafft zukunftsweisende Erkenntnisse aus historischen Vorlagen.

 

Als aktuellste von diesen Erkenntnissen erscheint wohl S.' Analyse der Krise der Medizin zum Ende des 20. Jahrhunderts, insbesondere im Buch "Medizin an der Jahrtausendwende" (1991). Laut S. orientiert sich die heutige Medizin überwiegend an Krankheitsbildern und vernachlässigt ein umfassenderes Verständnis, nämlich Medizin als Wissenschaft für Gesundheit und Krankheit zugleich. Die zukünftige Medizin sollte eine umfassende praktische Philosophie des Lebens werden. Sein Plädoyer ist gerichtet auf eine integrale Medizin der Zukunft, die den Menschen als ein Ganzes betrachten soll und sich auf die gesunde Lebensführung und die Prävention der Krankheiten bezieht. Es sollte das System sein, das "beide Bereiche - Gesundheitssicherung und Krankenversorgung - gleichzeitig und gleichrangig umfasst" (ebd., 7). In seinem letzten Buch kommt S. auf die These zurück, dass "Gesundheit als eine Theorie der Lebensordnung auch Thema der Medizin sein müsste" (S., 2003, 1).

 

Die bewundernswerte literarische Begabung ermöglichte S. sachkundige Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse an das breite Publikum - was umso wichtiger war - und ist, - da es sich um Lebensfragen des Menschen handelt. Denn nicht nur der Arzt muss sich ändern, sondern auch der Patient.

 

Für die Verbreitung seiner Vorstellungen benutzte S. auch zahllose Vorträge, die er aus verschiedensten Anlässen allenthalben hielt - von medizinischen Kongressen über Studium-Generale an der Universität und Sitzungen der Goethe-Gesellschaft bis zum Gesprächskreis im Rundfunk.

 

Die zukunftsorientierten Bestrebungen S.' mündeten 1977 in Stuttgart in die Gründung  einer "Gesellschaft für Gesundheitsbildung", deren wissenschaftlichen Gremium S. leitete, sowie der gemeinnützigen Stiftung des "Instituts für Gesundheitsbildung" - S. leitete dort die Abteilung "Theorie der Gesundheit".

 

Bemerkenswert, dass S. auch in persönlicher Weise diesen Prinzipien treu blieb: Er beachtete sorgsam die Regel der antiken Diätetik und bis zum Lebensende bewahrte seine geistige Vitalität und Schaffenskraft. Er starb unerwartet wenige Wochen nach seinem 85. Geburtstag.

 

 

 

Der Kern seines Lebenswerks erscheint letztendlich als ein fruchtbarer Versuch, aufgrund historischer, medizinischer und geistlicher Erfahrungen, eine integrierende Lehre - medizinische Anthropologie - über gesundes und humanes Leben des einzelnen Menschen sowie der Gesellschaft für die Zukunft aufzubauen. S. "ist einer der Baumeister dieser neuen Welt gewesen" (H. Schäfer, 1983, 83).

 

 

 

 UA Tübingen: 364/24079 (Studentenakte S.); UA Heidelberg: H-III-563 u. -563/2 (Akten d. Med. Fakultät u. des Instituts für Medizingeschichte, 1960-1969); PA 2969, PA 8669 (Personalakten S.), Rep. 100 (Nachlass S.); Auskünfte d. Stadt Korschenbroich vom 25.08. u. 8.09.2011.

 

 

 

 Verzeichnis bis einschließlich 1999 bei P. C. Chittilappily, 2000, 314-380 (s. L). Auswahl:

 

Aus dem Alltag arabischer Ärzte, in: Deutsche med. Wochenschrift 82, 1957, 1929-1932; Hildegard von Bingen. Heilkunde. Nach den Quellen übersetzt und erläutert von H. S., 1957;31974, 41981; Medizinischer Unterricht im Mittelalter, in: Deutsche med. Wochenschrift 85, 1960, 856-861; Ideologie u. Historiographie des Arabismus, 1961; Ein Institut für Geschichte d. Medizin an d. Universität Heidelberg, in: Ärzteblatt für Baden-Württemberg 17, 1962, 249-251;

 

Lebendige Heilkunde. Von großen Ärzten u. Philosophen aus drei Jahrtausenden, 1962; Die Assimilation d. arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter, 1964; 5000 Jahre Chirurgie: Magie - Handwerk - Wissenschaft, 1967; Das Heidelberger Institut für Geschichte d. Medizin (1962-1967), in: Heidelberger Jahrbücher 11, 1967, 118-134; Kleine Kulturgeschichte der Haut, in: Ruperto Carola 20, H.43/44, 1968, 206-213; Hieronimus Cardanus ? Arzt zwischen den Zeiten, in: Deutsche med. Wochenschrift 93, 1968, 1120-1124; Zum Selbstverständnis einer Medizin zwischen gestern u. morgen, in: Studium Generale 22, 1969, 569-593;

 

Wissenschaftsgeschichte u. Zukunft des Menschen, in: G. G. Wendt (Hg.), Genetik u. Gesellschaft, 1970, 121-129; Utopien d. Medizin: Geschichte u. Kritik d. ärztlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts, 1968; Moderne Medizin im Spiegel d. Geschichte, 1970; Zur Anthropologie d. Geschlechtlichkeit in historischer Sicht, in: Arzt u. Christ 16, 1970, 110-129; D. Arzt des öffentlichen Gesundheitsdienstes in d. pluralistischen Gesellschaft, in: Das öffentliche Gesundheitswesen 33, 1971, 1-18; Hildegard von Bingen, in: NDB 9, 1972, 131-133; Zur Krise einer Medizin zwischen Ökonomie u. Ökologie, in: Bericht über 17. Jahrestagung d. Deutschen Ges. für Medizinische Dokumentation u. Statistik, 1973, 3-20; Johannes Steudel +, in: Sudhoffs Archiv 57, 1973, 225-227; Antrittsrede, in: Jahrbuch d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften für 1973, 135-138; Soziale Rolle u. personaler Auftrag des Arztes, in: Medizinische Monatsschrift 27, 1973, 531-536; Ausbruch aus der Gesellschaft in die Zukunft, in: Arzt u. Christ 19, 1973, 125-146; Altern als Provokation, das befristete Leben als Problem, ebd., 20, 1974, 186-204; Die Medizin in d. Welt von morgen, 1976; Mensch u. Umwelt, in: Heidelberger Jahrbücher 21, 1977, 75-88; Zur Situation d. Gesundheitsbildung in d. Bundesrepublik Deutschland, in: Ärzteblatt Baden-Württemberg 34, 1979, 171-174; Gesundheit im Wandel, in: Bildung u. Gesundheit 9,1979, 5-23; (mit Dietrich von Engelhardt) Die inneren Verbindungen zwischen Philosophie u. Medizin im 20. Jahrhundert, 1980; "D. Mensch wird geringer". Verliert die Medizin ihr Humanum?, in: Scheidewege: Jahresschrift für skeptischen Denken 10, 1980, 1-21; Sorge um den Kranken und Dienste am Kranken: Ein Beitrag der Benediktiner zur Medizin des Abendlandes, in: Arzt u. Christ 26, 1980, 115-134; Das alchymische Denken u. Handeln bei Alexander von Bernus, in: Heidelberger Jahrbücher 24, 1980, 107-124; Die Kunst vernünftig zu leben, in: Bildung u, Gesundheit 13, 1981, 9-23; Kosmos Anthropos: Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes, 1981; Hildegard von Bingen: Ein Zeichen für unsere Zeit, 1981; Der Arzt von morgen: Von der Heiltechnik zur Heilkunde, 1982; Epidemiologisches u. Epistemologisches, in: C. O. Köhler (Hg.), Gustav Wagner 65: Vorträge u. Gratulationen anläßlich d. akad. Feier am 10. Jan. 1983, 29-34; Die Vernunft des Leibes: Gesundheit u. Krankheit im Wandel, 1984; D. Garten d. Gesundheit: Medizin im Mittelalter, 1985; Homo Patiens. Zur Geschichte des kranken Menschen, 1985; Was macht uns krank? 1985; Ursprung und Schicksal der Medizinischen Fakultät, in: Semper Apertus Bd. IV, 1985, 49-91; Psychiatrie zwischen Gestern u. Morgen, in: Wiener klinische Wochenschrift 98, 1986, 630-634; Lesen verändert: Vom Leben des Buches - vom Leben mit Büchern, 1987; Musik u. Medizin im Weltbild Hildegards von Bingen, in: Kroll, Frank-Lothar (Hg), Wege zur Kunst u. zum Menschen, 1987, 233-246; (mit G. Vescovi, b. Geue u. J. Schlemmer) Die Regelkreise d. Lebensführung: Gesundheitsbildung in Theorie u. Praxis, 1988; Wissensspeicher - gestern, heute u. morgen, in: Ulmensien 3, 1991, 77-90; Medizin an d. Jahrtausendwende: Fakten, Trends, Optionen, 1991; (mit Gion Condrau) Unsere Haut: Spiegel d. Seele, Verbindung zur Welt, 1993; Arzt im Purpur: Grundzüge einer Krankheitslehre bei Petrus Hispanus (ca. 1210 bis 1277), 1994; Rudolf Virchow, 1994; Hildegard von Bingen, 1995; Ärzte in Heidelberg, 1995; Krankheit u. Gesundheit bei Maimonides (1138-1204), 1996; Goethe - seine Kunst zu leben, 1996; Die Welt d. Hildegard von Bingen, 1997; Quo vadis, medicina? in:  Deutsche medizinische Wochenschrift 125, 2000, 1580f.; Leiblichkeit: Studien zur Geschichte des Leibes, 2001; Gesundheit u. Gesellschaft: Ein historisch-kritisches Panorama, 2003.

 

Mitherausgeber von 16 Büchern u. von Zeitschriften: Heidelberger Jahrbücher (1968-1986); Sudhoffs Archiv (1966-1986); Arzt u. Christ (1965-1991).

 

 

 

L  Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch  VIIa, Teil 4, 1961, 113f., VIII, Teil 3, 2004, 2130; H. Schott, S., H., in: NDB 23, 2007, 2-4; H. Schäfer, Fr. Butters, H. H. Lauer, G. Vescovi, M. J. Zilch, J. F. Schmucker, 6 Artikel zum 65. Geburtstag H. S., in: D. Deutsche Apotheker 35, 1983, 81-108 (Bilder); Anonym, H. S. 65 Jahre, in: Ruperto Carola 35, H. 69, 1983, 286f.; Paul Chummar Chittilappily, Zwischen Kosmos u. Zeit: Medizinische Anthropologie bei H. S., 2000 (W); Ed. Seidler, In memoriam H. S., in: Medizinhistorisches Journal 38, 2003, 187-189 (B); W. U. Eckart, In memoriam H. S., in: Berr. zur Wissenschaftsgeschichte 26, 2003, 225f. (B); E. G. Jung, H. S. (1918-2003), in: Jahrbuch d. Heidelberger Akad. d. Wiss. für 2003, 171-173 (B); D. v. Engelhardt, S., H., in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 25, 2005, 1253-1259; Fr. Hartmann, Gedenken und Dank an H. S., in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 24, 2005, 554-569 (B); D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986, 2009, 533f..

 

 

 

B UA Heidelberg: Pos I 02714, 02715, Pos I 04002, 04009, Pos I 07010; Gruppenphotos vom 12.01.1965: Pos I 06212, 06214, 06216-06218, 06222, 06230, 06258, 062271; in: Ärzteblatt für Baden-Württemberg 17, 1962, 249;  in: Ed. Seidler u. Heinz Schott (Hg.) Bausteine zur Medizingeschichte. H. S. zum 65. Geburtstag, 1984, S. 5; in: Ulmensien 3, 1991, 77; Vgl. L