Clemm, Adolf, chemischer Industrieller

*16.11.1845, Gießen, ev., +28.11.1922, Mannheim

 

V Friedrich C. (1804-1889), Universitätskanzleirat in Gießen;

M Luise, geb. Müller (1817-1881); G 5: Carl Friedrich (1836-1899), chemischer Industrieller in Mannheim; August Ernst Karl Konrad (1837-1910), chemischer Industrieller in Mannheim und Ludwigshafen; Otto (1839-1840); Louis (1841-1842); Wilhelm (1843-1883), Prof. d. klassischen Philologie in Gießen; Anna (1848-1862).

∞ 25.11.1877 in Lenzkirch  Maria Trieschler (1857-1946); K 5: Kurt  Fritz Paul (1879-1946), Dr. Jur., Amtmann; Elisabeth (1880-1883); Wilhelm (1882-1954) Fabrikant in Mannheim; Maria (1884-1957) verh. 1903 mit ihrem Vetter Hans Clemm; Carl Adolf (1886-1955), chemischer Industrieller in Mannheim.

 

1863 III                                  Abschluss des Gymnasiums zu Gießen

1863 V - 1866 VII               Studium an d. Univ. Gießen

1866 VII 19                           Promotion magna cum laude ohne Dissertation

1867-1870                            Aufenthalt in Zürich und England

1870 X                                  Umzug nach Mannheim

1871-1893                            Technischer Leiter d. Chemischen Fabrik Georg Carl Zimmer in Mannheim

1884 VI                                  Teilnahme an d. Gründung d. AG Zellstofffabrik Waldhof

1884-1922                            Mitglied, 1898-1910 Stellvertretender Vorsitzender, 1910-1919 Vorsitzender des Aufsichtsrats d. AG Zellstofffabrik Waldhof

1887-1895                            Mitglied des Stadtrats Mannheim

1893-1920                            Mitglied, ab 1895 Vorsitzender des Aufsichtsrats des Vereins chemischer Fabriken in Mannheim

1902                                      Kommerzienrat

1907                                      Geheimer Kommerzienrat

1915                                      Dr.-Ing. h. c. d. TH Darmstadt

 

C. gehört zu Persönlichkeiten, deren Wirken in bedeutendem Ausmaß zum industriellen Aufblühen Mannheims Ende 19.-Anfang 20. Jahrhundert beitrug.

Er stammte aus einer alten wohlhabenden hessischen Familie. Sein Vater war juristischer Beamter und ständiges Mitglied im Kuratorium der Landesuniversität Gießen.

C. absolvierte Ostern 1863 das Gießener Gymnasium und immatrikulierte sich an der Universität seiner Heimatstadt. Wie seine beiden älteren Brüder wählte C. Chemie  als Studium: Seit  Liebig, der den Laboratoriumsunterricht  in Gießen eingeführt hatte, blieb diese Universität noch lange der Anziehungspunkt für Chemiestudenten dank der Möglichkeit, die Chemie durch eigenes Experimentieren kennen zu lernen. Unter C.s Lehrern sind Hermann Kopp (1817-1892) in der theoretischen Chemie und Heinrich Will (1812-1890) in der experimentellen, besonders der analytischen Chemie zu nennen. Es ist zu vermuten, dass auch die nicht obligatorischen Vorlesungen über Chemische Technologie, die der junge talentvolle Privatdozent Alexander Naumann (1837-1922) damals in Gießen hielt, für C.s Ausbildung von besonderer Bedeutung waren. Nach drei Jahren promovierte C. magna cum laude zum Dr. phil. ohne Dissertation: Die Anfertigung einer Doktorarbeit war damals noch nicht unbedingt notwendig.

Überliefert ist durch seine Nachkommen, dass C. nach seiner Promotion ein Jahr lang am Züricher Polytechnikum studierte. Dies konnte jedoch nicht belegt werden, weil C. sich dort nie immatrikuliert hatte.

Nach der eher theoretischen Vorbereitung zur Arbeit in der technischen Chemie folgte eine praktische, nämlich ein dreijähriger Aufenthalt in England, dessen chemische Industrie damals als die am weitesten fortgeschrittene galt. C. sammelte hier wertvolle Erfahrungen bei einigen chemischen Fabriken. Hier hatte er seine einzige Arbeit durchgeführt, die als Artikel in Deutschland und in England veröffentlicht wurde, nämlich, über eine neue Titriermethode zur Bestimmung der Schwefelsäure und Sulphaten. Hier war er auch mit dem später berühmten technischen Chemiker Georg Lunge (1839-1923) befreundet; der letztere wurde 1876 Professor in Zürich und beschrieb später C.s Patente in seinen Handbüchern über chemische Technologie.

Inzwischen begann die industrielle Revolution auch in Deutschland. Die chemische Industrie Deutschlands erlebte damals einen beispiellosen Aufschwung. Mannheim als ein sich rasch entwickelndes Zentrum dieses Aufschwungs sah für C. attraktiv aus, umso mehr, als seine Brüder Carl und August bereits Wurzel dort geschlagen hatten. So kam C. 1870 nach Mannheim und ließ sich bei seinem Bruder August im Jungbusch nieder.

Ein verwandter Fabrikant, Georg Carl Zimmer (1839-1895) vertraute die technische Leitung seiner chemischen Fabrik in der Neckarstadt dem promovierten Chemiker mit guten praktischen Erfahrungen an. Die Fabrik, gegründet 1855 durch C.s Onkel Carl Clemm-Lennig (1817-1887) war bekannt als erste große Düngerfabrik in Südwestdeutschland, die als erste die Produktion von Superphosphat begann. C. arbeitete hier mit Erfolg, er führte insbesondere in großem Maßstab ein Verfahren zur Herstellung rauchender Schwefelsäure ein, die u.a. für die Darstellung von Superphosphat notwendig ist. Sein Verfahren, das auf Erhitzen von Natriumbisulfat basierte, wurde erst nach zwanzig Jahren durch das effektivere Kontaktverfahren verdrängt. Diese Leistung ist in die Geschichte der chemischen Technik eingegangen, insbesondere, weil sie das 80jährige Monopol einer böhmischen Firma (Starck) für die Fabrikation von rauchender Schwefelsäure zum ersten Mal durchbrach.

Allerdings konnte C.s Stellung bei Zimmer seinen Drang nach größerer Selbständigkeit nicht befriedigen. Im Ansatz erfüllte C. seinen Bedarf nach freierer Entwicklung, indem er sich an der Gründung der neuen Aktiengesellschaft "Zellstofffabrik Waldhof" beteiligte. Er war einer von insgesamt neun Aktionären, mit seinem Bruder Carl sowie Carl Haas (s. dort) an der Spitze, die das Unternehmen ins Leben gerufen hatten. Von Anfang an bis zum Lebensende gehörte C. dem Aufsichtsrat der Fabrik an, 1910-1919 als Vorsitzender.

Da sein Gebiet jedoch die anorganische Technologie war, wechselte er von Zimmer zum "Verein chemischer Fabriken in Mannheim", wo er 1893 in den Aufsichtsrat gewählt wurde. (Bald danach wurde der Betrieb von Zimmers Fabrik eingestellt). 1895 übernahm C. den Vorsitz im Aufsichtsrat und bekleidete diesen Posten bis zur Fusion des "Vereins" mit dem chemischen Unternehmen "Rhenania" in Aachen im Jahr 1920.

Während dieser ganzen Zeit unterhielt C. mit Assistenten ein Forschungslaboratorium, in welchem eine große Anzahl von Patenten des Vereins entstand. Übrigens ließ С. nur wenige von diesen Patenten auch auf seinen Namen anmelden. Das war insbesondere ein Kontaktverfahren zur Darstellung des Schwefelsäureanhydrids mit einem Katalysator aus Eisenoxid (anstatt des teuren Platinkontakts). Damit wurde der "hervorragende Anteil" des Vereins, so H. Caro, "an der neuesten Entwicklung des Schwefelsäurebetriebs" eingeleitet. Diese Erfindung C.s  ist Bestandteil der Geschichte der chemischen Technik. Außerdem gehörten C. noch einige Patente bezüglich der Darstellung von Chlor und Thiosulfaten.

C. vereinigte in sich einerseits die umfassenden Kenntnisse der technischen Chemie, die sich auf seine reichen Erfahrungen  in der chemischen Industrie stützten, andererseits aber einen weiten kaufmännischen Scharfblick. So wurden seine Empfehlungen sehr wertvoll. Hinzu kam auch seine hilfsbereite Persönlichkeit mit gewinnenden liebeswürdigen Umgangsformen. So wählte man ihn auch in mehrere Gremien. Er war Mitglied  verschiedener Aufsichtsräte bei den Tochter-Gesellschaften der Zellstoff-Fabrik AG, nämlich, der Papyrus AG Mannheim, der Bahngesellschaft Waldhof, der Immobiliengesellschaft Waldhof sowie Vorsitzender des Aufsichtsrates der Badischen Holzstoff- und Pappenfabrik. Noch mehr: er wurde als Mitglied in den Aufsichtsrat der Rheinischen Kreditbank gewählt, dem er nahezu 20 Jahre angehörte und der er manche wertvolle Anregung brachte.

C. war ein Mann von tiefer sozialer Verantwortung. In seiner Zugehörigkeit zur Elite der Stadt war es deswegen nur selbstverständlich, dass C. sich ehrenamtlich, gar politisch engagierte. 1887 wurde er als Kandidat der nationalliberalen Partei, der er von Anfang an zugehörte, als Stadtrat der Stadt Mannheim gewählt. Er arbeitete in zahlreichen Kommissionen - in der Baukommission, der Finanzkommission, der Gas- und Wasserkommission, dem Ortsgesundheitsrat, der Städtischen Chemischen Untersuchungsanstalt und endlich in der Industriehafenkommission. Kein Zufall, dass nach seinem Tod eine besondere Sitzung des Stadtrats seinem Andenken am 30. November 1922 gewidmet wurde und der Oberbürgermeister C.s Tätigkeit für die Stadt würdigte. Ein Beispiel seiner öffentlichen Tätigkeit  ist dokumentiert: Zum 80. Geburtstag Bismarcks, 31. März 1900, wurde ein Denkmal von ihm in Mannheim, am Kaiserring, enthüllt. C. hielt  als Vorsitzender des Denkmalausschusses die Weiherede und übergab Denkmal dem Oberbürgermeister Paul Martin. Interessanterweise ließ C. 1907-1908  eben an diesem Bismarckplatz eine Villa für sich bauen.

Ein schweres Augenleiden, das schließlich zur fast völligen Erblindung führte, machte C. ab Anfang der 1900-ter Jahren seine Tätigkeit in städtischen Ämtern unmöglich, so dass er sich nach und nach vom öffentlichen Leben vollständig zurückzog. Er konnte aber seine geschäftlichen und wissenschaftlichen Tätigkeiten weiter fortsetzen.

Die Niederlage Deutschlands im Krieg und das Ende des Reiches empfand C. als schweren persönlichen Schlag, den er nie überwinden konnte. Obwohl er sich bemühte seine Pflichten weiter zu erfüllen, wurde er zum gebrochenen Mann. Der Tod erlöste ihn von seinen Leiden.

 

Ueber die Bestimmung der Schwefelsäure auf volumetrischem Wege, in: Dingler's Polytechnisches Journal 192, 1869, 229-234.

 

Q StadtA Mannheim: Familienbögen (Clemm);  S1, Nr. 1584 (Biographische Sammlung C.); Auskünfte von: Stadt A Mannheim vom 12.02.2010; UA Gießen vom 29.01.2010; A d. ETH Zürich vom 1. u. 2.02.2010.

 

H. Caro, Über die Entwicklung d. chemischen Industrie von Mannheim-Ludwigshafen a. /Rh., in: Zs. für angewandte Chemie 17, 1904, 1343-1362 (S. 1347 u. 1355); Geh. Kommerzienrat Dr. A. C.+, in: D. Papierfabrikant 20, 1922, 1788f.; 75 Jahre Zellstofffabrik Waldhof ,  Chronik 1884-1959,1959, S. 15f., 77f..

 

B E. Hintz, Werden u. Wirken des Vereins Chemischer Fabriken in Mannheim, 1904, zwischen S. 14 u. 15; zwischen S. 24 u. 25 (Gruppenphoto); 75 Jahre Zellstofffabrik Waldhof, 1954, S. 15.