Kategorie: Kurzbiografien
Zugriffe: 1575

Krafft, Wilhelm Ludwig Friedrich Emil, Chemiker

* 21.02.1852, Bonn, ev. , +3.06.1923, Heidelberg

 

V Wilhelm Ludwig K. (1821-1897), Professor d. Kirchengeschichte an d. Univ. Bonn;

M Frieda K., geb. von Scheidler (1828-1906);

G Emil Johannes (1854-? ), Arzt; Marie Bertha Pauline K. (1861-1921); Wilhelm Eduard Otto (1869-), Arzt

∞ 1876 in Lausanne(?) Helene Aigroz (1854-1937);

K keine

 

1859-1869                                      Besuch des Gymnasiums zu Bonn

1869-1874                                      Studium an d. Univ. Bonn

1874 XI 16                    Promotion multa cum laude ebd.; Diss.: "Über                                        Thiobenzol u. Thioanilin"

1875 XI 16                    Habilitation an d. Univ. Basel; Hab.-Vortrag: "Über die                                        Entwickelung d. theoretischen Chemie"

1877 VI 6                      a.o. Prof. ebd.

1888 II 15                      a.o. Prof. an d. Univ. Heidelberg

1923 III 21                     o. Honorar-Prof. ebd.

 

K. wurde als erstes Kind in eine angesehene Bonner Familie geboren: Sein Vater, Konsistorialrat und Professor der Kirchengeschichte, wirkte später auch als Rektor der Universität; seine Mutter, Vorsitzende mehrerer Frauenvereine, war dank ihrer selbstlosen Wohltätigkeit bekannt und erhielt vom Kaiser die Königin-Louise-Verdienst-Medaille.

K. beendete 1869 das Bonner Gymnasium mit besten Noten: aufgrund seiner Leistungen hatte man ihn von den mündlichen Prüfungen befreit. K. studierte nun Naturwissenschaften - Chemie bei August Kekulé (1829-1896), Physik bei Rudolf Clausius (1822-1888) wie auch Mineralogie und Kristallographie bei Gerhard v. Rath (1830-1888). Außerdem hörte er "Über Bau, Struktur und Behandlung der Orgel" und erlernte gründlich das Orgelspiel. K. unterbrach sein Studium, als er 1870 als Kriegsfreiwilliger in das Bonner Königshusarenregiment eintrat. Da er bald verwundet wurde, kehrte er nach Bonn zurück. Er schloss sein Chemiestudium ab und wurde bei Kekulé promoviert.

 

Es ist nicht mehr festzustellen, aus welchen Gründen K. im Herbst 1874 nach der Schweiz übersiedelte, vermutlich war dies eine Empfehlung von Kekulé. Ein Jahr lang arbeitete K., ohne sich zu immatrikulieren,  bei dem Organiker Viktor Merz (1839-1904) im Universitätslaboratorium in Zürich, woraus seine ersten Publikationen nach der Doktorarbeit stammten. Im Herbst 1875 erhielt er eine Assistentenstelle an der Universität Basel. Sofort habilitierte er sich und ab 1876 hielt er regelmäßig, ab Juni 1877 bereits als a.o. Professor, Repetitorien der anorganischen und organischen Chemie; auch war er, so er selbst, "als Examinator in verschiedenen Richtungen" an der Universität tätig. Gleichzeitig begann er seine selbständigen systematischen Forschungen über höhere aliphatische Verbindungen. Insbesondere entdeckte er die großen Vorteile der "bisher nur zu wenig benutzten Verminderung des gewöhnlichen Luftdrucks" bei der Bearbeitung von "schwerer flüchtigen Verbindungen" und eröffnete damit eine effektive Methode für die präparative Chemie; sie ermöglichte ihm, eine Reihe von neuen Stoffen herzustellen.

Nach einem Jahrzehnt erfolgreicher Arbeit war sich K. im Klaren, dass er weder eine weitere Beförderung, noch eine höhere Entlohnung zu erwarten habe. (Generell wurden die Professoren an der Universität Basel im internationalen Vergleich damals eher bescheiden entlohnt). So beschloss er, nach Deutschland zurückzukehren. (Er hatte seine deutsche Staatsangehörigkeit behalten). Anfang 1888 wandte sich K. an die Philosophische Fakultät in Heidelberg mit dem Gesuch um seine Zulassung zur akademischen Lehrtätigkeit. Der Dekan,  Chemiker Hermann Kopp, verfasste, aufgrund der "zahlreichen und gediegenen" Arbeiten K.s, wie auch der Empfehlungen aus Basel, eine sehr positive "Äußerung", die auch von Robert Bunsen unterschrieben wurde. Die Unterzeichneten sahen in der Person des Prof. Kraft "eine schätzbare Vermehrung der an unserer Universität für die Lehre und die Förderung der Chemie thätigen Kräfte" und empfahlen, die Ausübung der Lehrtätigkeit unter Dispensation von den Habilitationsformalitäten und unter Ernennung zum a.o. Professor zu gestatten. So wurde das Gesuch weitergeleitet. Die Ernennung  erfolgte bald durch den Großherzog, so konnte K. bereits im April 1888 seine Tätigkeit in Heidelberg aufnehmen.

Bekanntlich gestattete Bunsen keinem a.o. Professor und Privatdozenten in seinem Labor zu arbeiten. Sie sollten ihre eigenen Privatlaboratorien einrichten. K. übernahm solch ein Laboratorium von dem alten Heidelberger Dozenten August Bornträger (1819-1905); es befand sich in der Märzgasse 2. Im Erdgeschoss arbeiteten die jüngeren Studenten, die qualitative und quantitative Analyse zu erlernen hatten. Im ersten Stock war ein kleiner Hörsal, den der ehemalige Student K.s, Max Bodenstein (1871-1942), als "höchst bescheiden" und als "recht behelfsmäßigen" beschrieb. In demselben Stock hatte K. auch sein Privatlaboratorium. Im zweiten Stock arbeiteten fortgeschrittene Praktikanten und Doktoranden.

Am Anfang 1889 konnte K. schon eine Übersicht seiner letzten, im Sommer 1888 durchgeführten Forschungen zusammenstellen. Er hielt einen Vortrag darüber im Naturhistorisch-medizinischen Verein zu Heidelberg, dessen Mitglied er sofort nach seiner Ankunft geworden war. Wie dieser Vortrag bezeugt, erweiterte K. seine in Basel durchgeführten Forschungen an höheren aliphatischen Verbindungen und, indem er sich mit Alkalisalzen von Fettsäuren (d.h. mit Seifen) zu beschäftigen begann, erschloss er den für sich neuen Bereich der Kolloiden.

Die ersten vier Semester las K. "fesselnde", so Bodenstein, Vorlesungen ausschließlich über einige Kapitel der organischen Chemie, wobei er eine Abgrenzung von Themen mit dem ebenfalls neugekommenen Organiker J. Brühl vereinbarte. Nachdem Victor Meyer Bunsen nachgefolgt war, begann K. nach einer Vereinbarung mit dem Ordinarius, alternierend die "Einleitung in die organische Chemie" und die "Einleitung in die anorganische Chemie" zu lesen, so dass beide Fächer in jedem Semester vertreten waren - entweder durch V. Meyer, später durch Th. Curtius oder eben durch K. Seine Lehrtätigkeit ermöglichte der Universität die Zahl der Chemie-Studenten etwa auf das Anderthalbfache zu steigern. Allerdings konnten die vorhandenen Räume den Anmeldungen nicht genügen; im Jahre 1898 gelang es K., sein Laboratorium durch Hinzunahme einer Wohnung im obersten Stock zu erweitern und die Zahl der Arbeitsplätze von 26 auf 40 zu steigern. Trotzdem wuchs die Nachfrage weiter, und Anfang 1901 stellte K. ein Gesuch "um einen Hörsal für chemische Vorlesungen". Unterstützt durch die Fakultät, erhielt K. einen Zuschuss von 500M pro Semester, damit er einen größeren Hörsal mieten konnte. In der Folge hatte er bis zum Kriegsanfang 60 bis 100 Hörer, insbesondere bei seinen Vorlesungen in Anorganischer Chemie. (Während des Krieges sank diese Zahl drastisch auf 15-25 und stieg erst nach dem Krieg wieder an).

Die Bedeutung des Laboratoriums von K. ist u.a. daraus ersichtlich, dass er - der einzige nicht etatmäßige Direktor! - Mitglied des Verbandes der Laboratoriumsvorstände an deutschen Hochschulen seit dessen Gründung (1897)  war.

Mit 70 Jahren verkaufte K. sein Laboratorium, um sich ausschließlich der literarischen Arbeit zu widmen. Er plante ein großes philosophisches Werk unter dem Titel "Untersuchungen über Weltelemente und Weltkörper" zu verfassen. In seinem Nachlass befinden sich viele Entwürfe und eine große Menge von Exzerpten aus der Literatur. Diesen Plan zu verwirklichen war ihm nicht vergönnt: Er starb im Juni 1923, zwei Monate nach der Verleihung des lang erwünschten Titel "Ordentlicher Honorarprofessor".

 

Das wissenschaftliche Werk K.s, in nahezu 100 Abhandlungen widergespiegelt, ist sehr vielseitig. Einerseits wirkte er als eifriger Experimentator in der organischen Chemie, Kolloid-Chemie und teilweise auch in der physikalischen und anorganischen Chemie, wobei er darüber hinaus mehrere allgemein chemische Techniken entwickelte.

In der organischen Chemie fand K. insbesondere eine Methode zum stufenweisen Abbau von Carbonsäuren um jeweils ein C-Atom (1879). Diese Methode ist noch heute als "Krafftscher Carbonsäureabbau" bekannt. K. konnte als erster eine Vielzahl aliphatischer Kohlenwasserstoffe, Säuren und Alkohole von hohen Molekulargewichten darstellen und ihre physikalischen Konstanten, insbesondere Dichten und Schmelzpunkte als erster bestimmen. Dabei stellte er einige Gesetzmäßigkeiten über die Zusammenhänge der physikalischen Eigenschaften und die Zusammensetzung dieser Stoffe fest, was weitere Daten zu damals eben entstandenen organischen physikalischen Chemie beitrug. K. synthetisierte auch einige aromatische Selen- und Tellurverbindungen (1894-1896).

Sein wichtigster Beitrag zur Kolloid-Chemie ist die Entdeckung des Übergangs von echten zu kolloidalen Lösungen bei den oberflächenaktiven Stoffen durch die Mizellenbildung (1895). Die Temperatur bei diesem Übergang bezeichnet man in der modernen Fachliteratur seit den 1950er Jahren als "Krafft-Punkt"; denn erst damals war die Reichweite von K.s Entdeckung erkannt worden.

Bedeutend sind die Verdienste K.s in der Entwicklung der chemischen Experimentaltechnik, besonders für Destillation im Vakuum. Zu diesem Zweck erfand er auch eine Quecksilberpumpe. Mit seiner Vakuumapparatur bestimmte K. u. a. die Siedepunkte der Edelmetalle.

Andererseits zeigte sich K. als bedeutender theoretischer Chemiker, man könnte sogar  sagen, als Philosoph der Chemie. Seine Neigung, allgemeine Gesetze der Chemie und Tendenzen ihrer Entwicklung zu begreifen, sieht man bereits in seiner Inauguraldissertation. Hervorragend ist K.s Habilitationsschrift. Sie ist eine recht ideenreiche Darstellung von nicht gelösten Problemen der damaligen Chemie. Von besonderem Interesse sind seine Überlegungen über den Mechanismus chemischer Reaktionen (anstatt dieses späteren Terminus benutzte K. die Worte "Erklärung der chemischen Vorgänge" und "Umlagerung der Atome"), die seiner Zeit voraus eilen. Geradezu prophetisch erklärte K., dass es die Hauptaufgabe der theoretischen Chemie sei "die Gesetze der chemischen Affinität" zu erforschen. Damals verstanden dies nur ganz wenige. Dabei verband K. - und dies zeigt seine wunderbare chemische Intuition - zwei damals vollständig getrennte Probleme, nämlich das vom Mechanismus der Reaktionen und das von der Valenz. Diese Beziehungen wurden tatsächlich erst Mitte 20. Jahrhundert geklärt. Auch später formulierte K. in seinen Lehrbüchern der anorganischen und organischen Chemie mehrere interessante Gedanken über die geschichtliche Entwicklung von chemischen Begriffen wie auch über die damaligen chemischen Theorien. Vorausweisend sind seine Vermutungen über die Rolle von Kolloiden bei Lebensabläufen. (Deswegen publizierte er seine letzten kolloid-chemischen Arbeiten in der Zeitschrift für physiologische Chemie). Allerdings irrte er mit seiner "neuen Verdampfungstheorie", die "das Sieden als Überwindung der Schwere" betrachtete.

 

Sehr bescheiden, ohne höhere Position, jeder Geltungssucht fremd, erwarb K. während seiner Lebenszeit weniger Ansehen, als er nach seinen Ergebnissen hätte verdienen sollen. Erst allmählich begriff man, wie viel er geschaffen hat, so dass, wie erwähnt, sein Name bis heute in einigen Fachbegriffen bewahrt bleibt.

 

Q   UA Bonn: Studienbuch K. u. Auskünfte vom 2. u. 3. 09.2008; StaatsA des Kantons Basel-Stadt, Bestand UniversitätsA, , F 6.2 (Dozentenkarte K) u. Auskunft vom 16.05.2008; UA Heidelberg: H-IV-102/119 (Akten d. Philos. Fak für WS 1887/88); PA 4626 (Personalakte K); Rep. 27, Nr. 676 u. 684 (Akad. Quästuren K.); Nachlass K. (ca. 2m, gekommen im Mai 2008, noch nicht bearbeitet); GLA Karlsruhe, 235/2236 (Akte K.); UB Heidelberg , Heid. Hs 3833: Brief ab J. Brühl vom 2. Febr. 1889; StadtA Bonn: Auskünfte vom 19. u.20.08.2008; StadtA Heidelberg: Auskunft vom 1.09.2008.

 

W  Über Thiobenzol u. Thioanilin, in: Berr. d. Dt. Chem. Ges. 7, 1874, 384f., 1164f.; Über die Entwickelung d. theoretischen Chemie, 1875; Über Reactionsverhältnisse einiger Fettkörper bei durchgreifender Chlorierung, in: Berr. d. Dt  Chem. Ges. 9, 1876, 1085-1088, 10, 1877, 801-806; Über die Laurinsäureu. Ihre Verwandlung in Undecylsäure, in: ebd. 12, 1879, 1664-1668; Über einige höhere  Acetylenhomologe u. den Erstarrungspunkt als Vergleichungstemperatur, in: ebd., 17,1884, 1371-1377;

Kurzes Lehrbuch d. Chemie: Anorganische Chemie, 1891, 21895, 31898, 41900, 51904, 61915; Kurzes Lehrbuch d. Chemie: Organische Chemie, 1893, 21897, 31904,  41905; (mit H. Wiglow) Über das Verhalten d. fettsauren Alkalien u. d. Seifen in Gegenwart von Wasser: III die Seifen als Kristalloide; IV. Die Seifen als Colloide, in: Berr. d. Dt. Chem. Ges. 28, 1895, 2566-2573, 2573-2582; Verdampfen u. Sieden d. Metalle in Quarzglas u. im elektrischen Ofen beim Vacuum des Kathodenlichts, in: ebd. 36, 1903, 1690-1714; Über Vacuumerzeugung ohne starkwirkende Pumpen oder flüssige Luft, in: ebd. 37, 1904, 95-100; Über die Bedeutung des Wassers für die Bildung kolloidaler Hohlkörper aus Seifen, in: Zs. für physiologische Chemie 47, 1906, 5-14; Hermann Kopp, in: Badische Biographien, V. Teil, 1906, 406-413; Siede- u. Sublimationspunktsbestimmung, in: A. Stähler (Hg.) Arbeitsmethoden in d. anorganischen Chemie, Bd. 3, 1913, 421-463; Destillieren u. Sublimieren, in: Ebd., 2. Aufl., Bd. 2, 1919, 321-374.

 

 Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch III (1898), 746, IV (1904), 799, V (1926), 676, VI, Teil 2 (1937), 1393f.; C. Krüll, K., in: NDB 12 (1980), 643f.; M. Stoecker, K., in: Deutsches Biogr. Jahrb. Bd. V für 1923 (1930), 234-237; D. Drüll Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803-1932, 1986, 149; Lexikon bedeutender Chemiker, 1988, 250; Carl Victor, K., Lexikon Pfälzer Persönlichkeiten, 2. Aufl., 1998, 382.

 

B Gruppenbild SS 1872 in: R. Anschütz, August Kekulé, Bd. 1, 1929, zwischen S. 414 u. 415; Gruppenbild SS1873, im UA Bonn; UB Heidelberg, Graph. Samml., I.k-24-10; P_1764; UA Heidelberg: Pos I, 1746, 1747; Photo in der Bibliothek des Chemischen Instituts d. Univ. Heidelberg