Kategorie: Kurzbiografien
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EdlbacherSiegfried Augustin Johann, Biochemiker
*7.03.1886, Linz (Österreich), ev., seit 1917 kath., + 5.06.1946, Basel
V Maximilian E. (1835-1893), Dr. jur., Rechtsanwalt; M Johanna, geb. von Risch (1854-1935); G ?
∞ 15.09.1917 in Salzburg (?) Valerie Kabella K keine (?)
 
1906 VI                   Abschluss d. Staats-Oberrealschule in Salzburg 
1906 X - 1911 III    Studium d. Naturwissenschaften an den Universitäten Wien (WS                                  1906/07), Graz (SS 1907-SS 1908), Gießen (WS 1908/1909),                                     Jena (SS 1909) u. Graz (WS 1909/10-WS 1910/11) 
1911 V 16                Promotion an d. Univ. Graz; Diss.: "Über oxidativen Abbau und                                     sonstige bemerkenswerte Eigenschaften des Indanthrens" 
1911 SS                   Assistent am Chemischen Institut d. Handelshochschule, Berlin 
1911 X - 1913 III     Assistent am Medizinisch-chemischen Institut d. Univ. Innsbruck 
1913 IV - 1932 IX   Assistent, ab SS 1915 1. Assistent am Physiologischen Institut
                                 d. Univ. Heidelberg 
1914 X -XII u.
1915 VIII-1916 X     Kriegsdienst 
1919 VII                    Habilitation an d. Univ. Heidelberg, H.-schrift: "Über die freien                                       Amidogruppen d. Eiweißkörper"; Probevorlesung: "Synthesen
                                  im Tierkörper" 
1924 XII                    a.o. Professor 
1932 X - 1946 VI    "Vorsteher d. Physiologisch-chemischen Anstalt" u. o. Professor                                   für Physiologische Chemie an d. Univ. Basel 
1939 IV - 1940 IV   Dekan d. medizinischen Fakultät 
E. wurde in Linz in die Familie des angesehenen österreichischen Juristen, Lands- und Reichstagsabgeordneter Maximilian E. geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Salzburg, das er immer für seine Heimatstadt hielt. Nach dem Abschluss der Oberrealschule in Salzburg studierte E. Naturwissenschaften, insbesondere Chemie, an den Universitäten Wien, Gießen, Jena und Graz. Aufgrund der damaligen Bestimmungen konnte E. sich an österreichischen Universitäten nur als "außerordentlicher Hörer" immatrikulieren und brauchte einen besonderen Ministerialerlass, um zu den Doktorprüfungen antreten zu dürfen. Dafür sollte er die geforderten Ergänzungsprüfungen zu den Prüfungen eines Abiturs an einer Realschule ablegen. So konnte er im Mai 1911 schließlich promovieren zum Dr. phil. mit Chemie als Hauptfach, Botanik und Philosophie als Nebenfächer. Obwohl E.s Doktorvater der Organiker Roland Scholl (1865-1945), Direktor des Chemischen Instituts in Graz war, hielt E. immer den Begründer der organischen Mikroanalyse Fritz Pregl (1869-1930) für seinen echten Lehrer. Als Assistent Pregls in Innsbruck hatte E., so er selbst, "das Glück durch zwei Jahre hindurch das Werden der heutigen Mikromethodik mitzuerleben." (E., "Fritz Pregl zum Gedächtnis", 1931). Später nutzte E. Preglsche Methoden in eigenen Arbeiten; einige davon konnte er weiterentwickeln. 1912 unterbrach E. seine Dienstzeit in Innsbruck für zwei Monate, um eine Ausbildung in der chemischen Industrie, und zwar bei der BASF in Ludwigshafen zu bekommen. Anschließend kehrte er zu Pregl zurück, Ostern 1913 wechselte er jedoch nach Heidelberg als Assistent des großen Biochemikers Albrecht Kossel (s. dort), der gerade einen solchen Chemiker für sein Praktikum brauchte. Bei Kossel arbeitete E. bis zu dessen Emeritierung und blieb mit ihm auch weiter bis zum dessen Tod verbunden. Mit dem Kriegsausbruch meldete sich E. als Kriegsfreiwilliger beim Militär, wurde aber schon zum Jahresende entlassen, rückte dann im August 1915 wieder zum Landsturmdienste ein und wurde im Reklamationswege zum November 1916 vom Militärdienst in der K. u. K Armee entbunden. (Bis zum Lebensende bewahrte E. seine österreichische Staatsangehörigkeit). Während der Kriegsdienstpause und nach der Entlassung vom Militär arbeitete E. eifrig zuerst bei Kossels Forschungen mit, bald aber ganz selbständig über die Bausteine der Eiweißkörper. Kossel unterstützte ihn durch die Überlassung verschiedener Präparate. Im Mai 1919 konnte E. seine Habilitationsschrift "Über die freien Amidogruppen der Eiweißkörper" der medizinischen Fakultät vorstellen. Kossel betonte in seinem Gutachten, dass "die Arbeit mannigfache neue Anwendungen geben wird"; er befürworte das Habilitationsgesuch E.s umso mehr "da er sich durch seine Tätigkeit im Laboratorium um den biochemischen Unterricht der Mediziner sehr verdient gemacht hat". Der Korreferent Rudolf Gottlieb (s. dort) unterstützte K.s Meinung und fügte hinzu: "Die strenge Methodik der Arbeit und die Vorsicht in den Schlussfolgerungen entsprechen der Arbeitsweise der Kosselschen Schule". Am 31 Juli 1919 erteilte die Fakultät E. venia legendi für das Fach Physiologie.
Als Privatdozent las E. "Grundbegriffe der physiologischen Chemie" wie auch "Einführung in die Chemie für Mediziner" (in einer späteren Version - "Erläuterung der Grundlagen der organischen Chemie für Mediziner"), insgesamt 4 Stunden wöchentlich. Seine dienstliche Hauptaufgabe war die tägliche Arbeit mit Studenten, die "Anleitung zu wissenschaftlichem Arbeiten über Biochemie" hieß. Diese Arbeit fand später ihren Niederschlag im knapp und äußerst klar geschriebenen kleinen Buch "Praktikum der physiologischen Chemie".
Ab SS 1924, als Kossel emeritiert war, wurde E. mit dem Lehrauftrag für Physiologische Chemie betraut, weil, so begründete die Fakultät ihr Gesuch vor dem Ministerium, E. "die physiologische Chemie als ein besonderes Arbeitsgebiet gewählt und auf diesem Gebiete hervorragende Leistungen verrichtet hat". So wirkte E. als direkter Nachfolger Kossels (obwohl auf dessen Lehrstuhl ein reiner Physiologe berufen wurde), so gilt E. als erster, der in Heidelberg das Fach Physiologische Chemie selbständig vertrat. Vor Weihnachten 1924 beförderte man E. zum a.o. Professor. Auf dem durch Kossel erschlossenen Gebiet arbeitete E. eine Zeit lang weiter, unter effektiver Verwendung mikrochemischer Methoden bei Eiweißkörpern und deren Bausteinen. Seine Ergebnisse hat er in der Monographie "Die Strukturchemie der Aminosäuren und Eiweißkörper" zusammengefasst. Als Kossels Nachfolger hat E. auch dessen letztes Werk "Protamine und Histone" postum herausgegeben. Mit der Übernahme der Hauptvorlesung über Physiologische Chemie erweiterte er sein Forschungsgebiet von den Strukturen auf die Vorgänge, nämlich auf die Stoffwechselvorgänge, die sich in den Zellen abspielen und das Wachstum, die Erhaltung und die Leistung des Organismus bestimmen. Das zeigt sich bereits in seinem zum "Standardwerk von seltener Qualität" (Rintelen, 1980) gewordenen Buch "Kurzgefasstes Lehrbuch der physiologischen Chemie" (1929) zu sehen: Mehr als ein Drittel des Buchs ist eben dieser Problematik gewidmet. E. war ein ausgezeichneter Vortragender, der seine Hörer durch Anschaulichkeit in Wort und Versuch zu fesseln wusste. Seine meisterhaften Vorlesungen über Physiologische Chemie zogen immer mehr Studenten an, in seinen letzten Semestern in Heidelberg mehr als dreihundert.
Im Dezember 1931 fand die Feier zum 75-jährigen Bestehen des Naturhistorisch-medizinischen Vereins zu Heidelberg statt. E. hielt dabei einen wohl formulierten Vortrag über den Stand der Physiologischen Chemie in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, der seine tiefe Einsicht in die historische Entwicklung seines Fachs zeigte. Auch andernorts trug E. interessante Gedanken und Materialien zur Geschichte der Biochemie bei.
Zum WS 1932/33 erhielt E. einen Ruf nach Basel: Dort wurde die Stelle des Professors für physiologische Chemie vakant. E. kam nach Basel als "Vorsteher der Physiologisch-chemischen Anstalt Basel". Obwohl er als o. Professor für Physiologische Chemie galt, hatte er zuerst keinen Lehrstuhl inne, nur den Lehrauftrag im Rahmen des Lehrstuhls für Physiologie. Erst ab Oktober 1937 wurde an der Universität ein selbständiger Lehrstuhl für Physiologische Chemie eingerichtet - nicht zuletzt dank der erfolgreichen Arbeit E.s.
In Basel hielt E. vor allem die zweisemestrige Vorlesung über Physiologische Chemie, daneben leitete er praktische Übungen in quantitativer Analyse und physiologischer Chemie und die täglichen Arbeiten in seiner Anstalt. Ab 1935 kam das Kolloquium über chemische Regulationsvorgänge dazu, das E. zusammen mit dem a. o. Professor der Pharmakologie Ernst Rothlin (1888-1972), wöchentlich durchführte. Insgesamt war es ein sehr reichliches Lehrprogramm, das viel Zeit verlangte. Wie früher in Heidelberg waren die Vorlesungen E.s auch in Basel durch ihre "Klarheit der Problemstellung, treffsichere eindringliche Sprache" und "eindrückliche Experimente" gekennzeichnet, so E. Rothlin. Deswegen war E. auch als beliebter Vortragender bei vielen wissenschaftlichen Gesellschaften gefragt. Insbesondere sprach er viel anlässlich von Tagungen des Schweizerischen Vereins der Physiologen und Pharmakologen. Der Physiologisch-chemischen Anstalt wurde auch die Schweizerische Vitamin-Prüfungsstation angegliedert, was E. mit organisatorisch-administrativen Sorgen belastete. Dem bescheidenen und empfindlichen Menschen passten solche Aufgaben wohl wenig. Hier war seine Tätigkeit kaum effektiv.
Zu E.s 60. Geburtstag verlieh ihm die medizinische Fakultät Basel den Doktor med. h. c. In der Laudatio wurde betont, dass E, "durch seine wissenschaftlichen Arbeiten über den Auf- und Abbau der Eiweißkörper der medizinischen Wissenschaft große Dienste geleistet hat" und "insbesondere durch seine Enzymforschung die biologischen Kenntnisse der Lebenserscheinungen der Körperzellen in hohem Maße gefördert hat". Diese Ehrung wurde zur letzten Freude seines Lebens. Bald starb seine geliebte Frau an eine unheilbare Krankheit. Nach zwei Wochen folgte E. ihr freiwillig. Beide wurden nach ihrem Wunsch in Salzburg bestattet.
Von E. stammen mehr als 150 Publikationen, davon 6 Bücher. Wie schon gesagt, wechselte er von der Erforschung der Strukturen in der Eiweißchemie hin zur Forschung an den Prozessen. In diesem Zusammenhang beschäftigte sich E. hauptsächlich mit den Enzymen, d.h. Biokatalysatoren, unter deren Wirkung die chemischen Reaktionen in lebenden Zellen ablaufen. Insbesondere gelang ihm die Entdeckung und Erforschung des Enzyms Histidase (ab 1926), das die Abbauumwandlungen der wichtigen Aminosäure Histidin reguliert. Die Erforschung der Stoffwechselvorgänge führte E. auch an Probleme des anomalen Wachstums von Geweben heran, insbesondere an Krebserkrankungen. Er hielt das Krebsproblem für ein Stoffwechselproblem und bemühte sich, den malignen Typus des Stoffwechsels zu entziffern.
Als Forscher konzentrierte sich E. auf den intermediären Stoffwechsel von Eiweißkörpern und Aminosäuren. Andere Bereiche der Biochemie bearbeitete er nicht. In dieser Einschränkung der Problemstellung sah er eine Bedingung für erfolgreiche Forschung. So kann sein Lebenswerk als die Erforschung der regulierenden Prinzipien der Enzyme im Zellstoffwechsel bezeichnet werden. In seinen experimentellen Forschungen folgte E. der goldenen Regel: die weise Selbstbeschränkung macht den Meister. Doch sein tiefstes Bedürfnis war, sich dem gewaltigen Geheimnis des Lebens anzunähern. Hier erlaubte er sich auch zu philosophieren (er hatte ja Philosophie in Graz studiert). So begann er z. B. seinen Vortrag über chemische Grundprinzipien des Lebens mit den Worten: "Theoretische Naturforschung muss, losgelöst von allen Zwecken, danach streben, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die als konstruktive Elemente eines Weltbildes dienen können". In seinem Gebiet dachte er tief und konnte es mit dem Denken des allgemeinen Problems des Lebens verbinden. Im Zusammenwirken der Enzyme erblickte E. ein harmonisches System hierarchischer Ordnung von immer höher organisierten Einheiten und hoffte, dass die Forschung auf diesem Weg "zu einem allmählichen, teilweisen Verständnis desjenigen Bereiches der Lebensvorgänge führen wird, der naturwissenschaftlich überhaupt erkennbar ist" (E., 1946).
 
 
Q UA Heidelberg: PA 887, PA 3625 (Personalakten E.), Rep. 27, Nr. 254 (Akademische Quästur E.) ; StaatsA des Kantons Basel-Stadt: Sammlung biographischer Zeitungsabschnitte, E., Universitätsarchiv F6.2 (Personalkarte E.), Auskunft vom 10.06.2009; Auskünfte aus: UA Gießen vom 23.06.2009, UA Graz vom 23.06. 2009, StadtA Heidelberg vom 25.06.2009.
 
 
(mit R. Scholl) D. Abbau des Indathrens zum Dioxy-pyrazinoanthrachinon u. sein Verhalten gegen Benzoylchlorid u. Natriumalkoholat, in: Berr. d. Deutschen Chem. Ges. 44, 1911, 1727-1737; (mit A. Kossel) Über einige Spaltungsprodukte des Thynnins u. Percins, in: Zs. für physiologische Chemie 88, 1913,186-189; Das Vorkommen d. Arginase im tierischen Organismus u. ihr Nachweis mittels d. Formoltitration, in: ebd. 95, 1915, 81-87; Über die Pregl?sche mikroanalytische Bestimmung von Methylgruppen am Stickstoff, in: ebd. 101, 1918, 278-287 (auch in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Abt. A 8, 1917, 1-12); Über die freien Amidogruppen d. Eiweisskörper, in: ebd. 107, 1919, 52-72, 108, 1919, 287-294, 110, 1920, 153-155, 112, 1920, 80-85; Über die Proteinsäuren des Harns, in: ebd. 120, 1922, 71-84, 127, 1922, 186-189, 131, 1923, 177f.; Zur Kenntnis des intermediären Stoffwechsels des Histidins, I, II, III (II u. III mit J. Kraus), in: ebd. 157, 1926, 106-114; 191, 1930, 225-242; 195, 1931, 267-272; Die Strukturchemie d. Aminosäuren u. Eiweißkörper, 1927 (Einzeldarstellungen aus dem Gesamtgebiet d. Biochemie, Bd. 1); Albrecht Kossel zum Gedächtnis, in: Zs. für physiologische Chemie 177, 1928, 1-14; Kurzgefasstes Lehrbuch d. physiologischen Chemie, 1929, 81946; Fritz Pregl zum Gedächtnis, in: Zs. für angewandte Chemie 44, 1931, 29f.; Die Abartung des Chemismus d. Krebszelle, in: Strahlentherapie 42, 1931, 929-938; Praktikum d. physiologischen Chemie, 1932, 21940, 31948; Die Chemie d. Krebszelle, in: Schweizerische Med. Wochenschrift 63, 1933, 897-899; Die Chemie d. Wachstumsvorgänge, 1934; The metabolism of proteins and amino acids, in: Annual Review of Biochemistry 6, 1937, 269-290; Protein-Synthese u. Gen-Struktur, in: Schweizerische Med. Wochenschrift 68, 1938, 959-961; Chemische Grundprinzipien des Lebens, in: Verhandlungen d. Naturforschenden Ges. Basel 53, 1942, 285-299; Histidase u. Urocaninase, in: Ergebnisse d. Enzymforschung 9, 1943, 131-154; Die biochemischen Arbeiten Friedrich Mieschers, in: Helvetica physiologica et pharmacologica acta 2, Supplementum II, 1944, 31-41; Das Ganzheitsproblem in d. Biochemie, in: Experientia 2, 1946, 7-18.
 
 
L Poggendorffs Biogr.-liter. Handwörterbuch VI, Teil 1 (1936), 637f., VIIa, Teil 1 (1956), 468f.; W. Kutscher, E., in NDB 4 (1959), 314; R. Jürgens, S. E.+, in: Experientia 2, 1946, 231; E. Röchlin, S. E. (1886-1946), in: Helvetica chimica Acta 30, 1947, 1564-1561 (mit Schriftenverzeichnis) [dasselbe, aber ohne Schriftenverzeichnis in: Helvetica Physiologica et Pharmacologica Acta 4, 1946, 359f.]; Fr. Rintelen, Geschichte d. Medizinischen Fakultät in Basel 1900-1945, 1980, S. 168, 328-333; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803-1932, 1986, 56; P. Voswinkel, in: Biographisches Lexikon d. hervorragenden Ärzte d. letzten fünfzig Jahre von Isidor Fischer. Nachträge u. Ergänzungen, Bd. III, 2002, 356.
 
 
B UA Heidelberg: Pos I 00691; StaatsA des Kantons Basel-Stadt: Sammlung biographischer Zeitungsabschnitte, E.