Brauer, Georg Karl, Chemiker

11. Apr. 1908 Bochum, ev., später konfessionslos, + 26. Febr. 2001, Freiburg i. Br.

V Otto Eberhard Hermann B. (1875-1958), Industriechemiker

M Elisabeth, geb. Ostwald (1884-1968)

G Peter Sven B. (1911-1995), Physikprofessor in  Karlsruhe u.Freiburg; Hellmut B. (1913-1940); Margarete B. (geb. 1918)

 1) 27.04 1935 in Darmstadt Babette Meß (1912-2002); geschieden 14.07.1959 in Freiburg; K Renate (geb. 1935), Ursula (geb. 1937); Lore (geb. 1945)

2) 6.08.1959 in Freiburg Doris Hagner (1936-1992); K Anselm B. (geb. Jan.1960), Solvejg B. (Dez. 1960.-1985)

 

Michaelis 1916-Ostern 1920  Volksschule u. Progymnasium in Markranstädt bei Leipzig

1926 IV                                   Abschluss d. Oberrealschule Nord in Leipzig

SS 1926- SS 1928                 Studium d. Naturwissenschaften an d. Univ. Leipzig;

1. Verbandsexamen in d. Chemie

WS1928/29- SS 1932            Studium Chemie an d. Univ. Freiburg; Juni 1930 -            2.  Verbandsexamen

1932 XI 18                              Promotion ebd.; Diss. "Über kubisch-raumzentrierte Legierungsphasen u. die Atomradien unedler Metalle in Legierungen"

1932 XI - 1933 IX                   Assistent (Liebig-Stipendium) an d. Anorganischen Abteilung des Chemischen Laboratoriums d. Univ. Freiburg

1933 X                                    Assistent am Institut f. Anorganische u. Physikalische Chemie d. TH Darmstadt

1937 VII                                   Oberassistent ebd.

1939 XII                                   Gleichzeitig Oberingenieur ebd. (Beamtenverhältnis)

1941 VI 16                              Habilitation ebd.; H.-schrift: "Über Oxyde, Nitride u. Carbide des Niobs"

1942 III 11                               Ernennung zum Dozenten ebd.

1944 V 1                                 Vertretung d. ao. Professur f. anorganische u. analytische Chemie an d. Univ. Freiburg

1946 I 1                                   pl. ao. Prof. f. Anorganische Chemie u. Leiter d. Anorganischen Abteilung des Chemischen Laboratoriums ebd.

1959 X 12                               o. Prof. f. Anorganische Chemie ebd.

1968 I 17                                 Co-Direktor am Chemischen Laboratoriums ebd.

1976 IX 3                                Emeritierung

 

B.s Vater war Schüler, langjähriger Assistent und ab 1907 Schwiegersohn von Wilhelm Ostwald (1853-1932). Er hatte in Bochum die erste technische Anlage zur Gewinnung von Salpetersäure aus Ammoniak (sog. Ostwald-Verfahren) aufgebaut und betrieben. Anschließend arbeitete er selbständig 1908-1911 in Leipzig, ab 1911 wirkte er als Chemiker bei der Firma Schimmel & Co AG in Miltitz bei Leipzig. So   verbrachte B., obwohl in Bochum geboren, seine jungen Jahre in Leipzig und Umgebung. B. wurde zuerst durch seine Mutter unterrichtet, danach besuchte er nach einem Halbjahr Volksschule das Progymnasium, dem sich das Realgymnasium in Leipzig  anschloss. Die Basis für die ausgezeichnete Allgemeinbildung B.s, die später seine Kollegen bewunderten, wurde in der Familie gelegt. Mehr als ein Jahr seiner Schulzeit - von Ostern 1923 bis Michaelis 1924 - verbrachte B. in Großbothen als Privatassistent seines berühmten Großvaters und unterstützte ihn bei den Experimenten zur Farblehre. Lebhaftes Interesse an die Farben der Natur bewahrte B. bis ins hohe Alter, zu seinen Liebhabereien gehörte die Aufzucht bunter Schmetterlinge und die Suche nach einheimischen Orchideen, aber auch die Erforschung von kräftig gefärbten Verbindungen seltener Metalle.

Nach dem Abitur studierte B. Naturwissenschaften in Leipzig, wobei er zuerst zwischen Biologie und Chemie schwankte. Unter dem Einfluß der faszinierenden Persönlichkeit von Wilhelm Böttger (1871-1949), der damals das Anfängerpraktikum leitete, entschied er sich endgültig für Chemie, bestand das Erste Verbandsexamen und wechselte "so weit wie möglich weg vom Elternhaus und dem dominierenden Großvater" (H. Bärnigshausen) nach Freiburg. Dort lehrte seit einem Semester der geniale Anorganiker Eduard Zintl (s. dort), der die Chemie der Metalle und Legierungen durch neuartige Konzepte wesentlich bereicherte. Bei ihm promovierte B. magna cum laude mit einer gediegenen Arbeit über eine Klasse von intermetallischen Verbindungen, die später unter Sammelbegriff "Zintl-Phasen" eingereiht wurden. Als Nebenfächer wählte B. Physik und Zoologie.

Schon vor seiner Promotion arbeitete B. als Assistent bei Zintl. Als Zintl 1933 auf ein Ordinariat an die TH Darmstadt berufen wurde, nahm er B. mit. B. bekleidete die Posten eines Assistenten bzw. Oberassistenten und später des Oberingenieurs am Institut für Anorganische und Physikalische Chemie und führte gleichzeitig eigene Forschungen auf dem Gebiet der Festkörperchemie durch. Im Juni 1941 habilitierte er sich mit der bedeutenden Arbeit über die Oxide, Nitride und Carbide des Niobs. Im März 1942 wurde B. als Dozent bestätigt; er hielt die Vorlesungen "Kristallstruktur der Metalle und Legierungen" sowie "Seltene Elemente" und betreute den Bereich "Spektral- und Röntgenanalyse" im Praktikum.

B. wurde 1933 zur SA eingezogen, in die NSDAP trat er aber nie ein und stand der herrschenden Ideologie stets fern; wie seine Schwester schreibt. "war er nicht der Blut- und Boden-Ideologie verfallen". Innerhalb der Dozentenschaft der TH führte er das Presseamt. Zum Militär wurde B. dank der Unterstützung seines Chefs Zintl und nach dessen Tod des Dekans, des Physikochemikers Carl Wagner (1901-1977), nicht einberufen, die B. als UK einstellen konnten.

1943 wurde die Stelle des planmäßigen ao. Professors für Anorganische Chemie und gleichzeitig des Leiters der Anorganischen Abteilung des Chemischen Laboratoriums an der Universität Freiburg vakant. In der Vorschlagsliste der Kommission stand B. an erster Stelle als "klarer Kopf mit guten Allgemeinkenntnissen, der mit eigenen Problemstellungen völlig selbständig arbeitet." B. folgte dem Ruf seiner Alma Mater und hielt ab Sommersemester 1944, zuerst vertretungsweise, Vorlesungen in anorganischer, aber auch analytischer Chemie.

 

In der neueröffneten Universität wurde B. Anfang 1946 auf dieser Stelle Beamter auf Lebenszeit und begann unter schwierigen Nachkriegsverhältnissen mit dem Aufbau seiner Abteilung. Ein Entnazifizierungsverfahren entlastete ihn im Herbst 1948 ohne Sühnemaßnahmen. Trotz dieser harten Zeit nahm B. die große literarische Arbeit am "Handbuch der präparativen anorganischen Chemie" auf. B. verfasste einige bedeutende eigene Beiträge und konnte sich als Herausgeber die Mitwirkung von vielen deutschen Anorganikern sichern. "Nöte der Lebenshaltung, politische Wirren, Schwierigkeiten der Literaturbeschaffung, der Ausfall von Laboratorien zum Experimentieren, ganz besonders aber die allgemeine Arbeitsüberlastung, kennzeichneten diese Periode der oft opfervollen Tätigkeit der 31 Autoren", so B. selbst. Das 1954 erschienene Werk hat wie erhofft eine klaffende Lücke in der chemischen Literatur ausgefüllt.

B. hat wesentlich zum Wiederaufbau der Naturwissenschaftlichen Fakultät beigetragen; 1959/60 fungierte er als Dekan.

Bis zu seiner Emeritierung hielt B. die große Experimentalvorlesung über anorganische Chemie, die Generationen von Freiburger Studenten verschiedener Fachrichtungen am Anfang des Studiums die Grundzüge der Chemie nahebrachte. B. war brillanter Vortragender; seine außerordentlich klare und kultivierte Sprache machte seine Vorlesungen und Vorträge druckreif. Auch auf den Fachtagungen war er sehr gefragt. Er nahm insbesondere an elf Seltenerd-Konferenzen in den USA (vom 1960 bis 1979), an fünf "Plansee-Seminaren" über metallische Hartstoffe in Österreich, aber auch an Fachversammlungen in Frankreich teil, wo ihm 1971 die Lebeau-Medaille der Französischen Gesellschaft für Hochtemperatur-Keramik verliehen wurde.

Nach Überwindung der schweren Nachkriegsjahre setzte B. den allmählichen Ausbau seines Faches in Freiburg konsequent fort. Erweiterte Möglichkeiten boten sich durch den 1957 fertiggestellten Neubau sowie durch die 1959 vollzogene Umwandlung seiner Stelle in ein Ordinariat für Anorganische Chemie. Die zunehmende Bedeutung des Faches führte 1973 sogar zur Einrichtung eines zweiten Lehrstuhls, und im Zuge von B.s Nachfolge wurde schließlich das Institut für Anorganische und Analytische Chemie als selbständige Einheit gegründet (1981).

Mehr als drei Dutzend Doktoranden  von B. wurden promoviert; vier seiner Mitarbeitern habilitierten sich.

Als Lehrer und Doktorvater war B. "liebevoll, geduldig, vornehm zurückhaltend, viel zu großzügig", so Prof. H. Vahrenkamp. Andere charakterisieren ihn als  uneigennützig, hilfsbereit, verständnisvoll. Kein Wunder, dass ihn seine Kollegen, Mitarbeiter und Schüler verehrten und seine Familienangehörigen ihm viel Liebe entgegenbrachten. Noch lange nach seiner Emeritierung rundete B. sein Lebenswerk durch weitere Arbeiten ab. Der Unfalltod seiner Tochter und der allzu frühe Tod seiner Frau trafen ihn aber hart und lösten bei ihn eine tiefe Schwermut aus.

 

Von B. stammen ca. 150 Publikationen, fast alle über anorganische Chemie; sie sind bemerkenswert vielseitig. B. leistete bedeutende Beiträge zur Chemie und Kristallchemie intermetallischer Verbindungen und Legierungen. Er untersuchte binäre Systeme von Übergangsmetallen, besonders von Oxiden, Nitriden, Carbiden und Hydriden des Niobs, Tantals und Vanadiums, beschäftigte sich intensiv mit den  Oxiden der Seltenerdmetalle und widmete sich auf chemisch breiter Basis sog. Gemischtvalenzverbindungen. Dabei wurden viele neue Verbindungen entdeckt, vorbildlich charakterisiert und meist ihre Kristallstrukturen aufgeklärt. Des öfteren waren sogar bis dahin unbekannte, ganz fundamentale Strukturtypen dabei wie z. B. wie der Li3N-, Li3Bi-, Al3Zr-, ThSi2- und der ungewöhnliche NbO-Typ.

B. arbeitete exakt und zuverlässig. Auch heute noch können viele  seiner Publikationen, dank ihrer Fragestellungen und ihrer experimentellen Bewältigung - gemeint ist insbesondere die Technik des Arbeitens mit luft- und feuchtigkeitsemfindlichen Substanzen, -  als beispielhaft gelten.

Im Gegensatz zu manchen Wissenschaftlern, die ihre Publikationen aufbauschen, indem sie dieselbe Ergebnisse in verschiedenen Versionen darstellen, wiederholte sich B. in seinen Artikeln nicht. Sie sind knapp, sachlich und sprachlich meisterhaft formuliert. Aus B.s Feder gibt es zwar kein zusammenfassendes Werk, wohl aber einige wichtige Übersichtsartikel.

Der bekannteste Teil seines Lebenswerks ist das erwähnte "Handbuch", kurz der "Brauer" genannt. Von diesem Standardwerk gibt es drei Auflagen in deutscher Sprache und mehrere Übersetzungen. Inzwischen wurde die ursprüngliche Konzeption unter Prof. Wolfgang Herrmann als Herausgeber erweitert zu "Synthetic Methods of Organometallic and Inorganic Chemistry" (1996-2002), erschienen in 10 Bänden. Der "Herrmann/Brauer", ein edles Erbe des edlen Mannes!

 

Q UA Leipzig, Quästurkartei 1926-1928; UA Darmstadt, Auskunft vom 22.08.2006; 
StA Darmstadt, Best. ST 12/18 (Jüngere Melderegistratur), Auskunft vom 20.09.2006;
 Magistrat d. Stadt Neckarsteinach, Bürgerbüro, Auskünfte vom 26. u. 28.09.2006; 
StA Freiburg, Auskunft vom 4.09.2006; Bürgerservice Freiburg, Auskunft vom 
2.10.2006; UA Freiburg: B 331/799 (Promotionsakte B.); B 15/136 (Wiederbesetzung
des Lehrstuhls f. Anorg. Chemie);  B 15/133  u. B 15/279 (Akten d. Naturwiss. Fak. 
1956-1959 u. 1968); B 17/344 (Akad. Quästur B., 1944-1953); Materialien u. 
Informationen von Frau Gretel Brauer (Großbothen) und von Prof. Hartmut 
Bärnighausen; Informationen von den Professoren Gerhard Thiele (5.10.2006) 
und Heinrich Vahrenkamp (10.10.2006)..

 

W (mit E. Zintl) Über die Valenzelektronenregel und die Atomradien unedler Metalle in Legierungen, Zs. f. physikal. Chemie, B, 20, 1933, 245-271; (mit E. Zintl) Konstitution des Lithiumnitrids, Zs. f. Elektrochemie, 41, 1935, 102-107; (mit E. Zintl) Konstitution von Phosphiden, Arseniden, Antimoniden u. Wismutiden des Lithiums, Natriums u. Kaliums, Zs. f. physikal. Chemie, 37, 1937, 323-352; Über die Kristallstruktur von TiAl3, NbAl3, TaAl3 u. ZrAl3, Zs. f. anorgan. u. allg. Chemie242,, 1939, 1-22; Die Oxyde des Niobs, ebd., 248, 1941, 1-31; (mit R. Rudolph) Röntgenuntersuchungen an Magnesiumamalgamen, ebd., 405-424; (mit A. Mitius) Kristallstruktur des Thoriumsilicids ThSi2, ebd. 249, 1942, 325-339; (Hg.) Handbuch d. präparativen anorganischen Chemie, 1954 (Übersetzung ins Russische 1956, ins Spanische 1958, ins Chinesische 1959), 2. Aufl., 2 Bde., 1960, 1962 (Übersetzung ins Englische 1963, 1965), 3. Aufl., 3 Bde. 1975-1981 (Übersetzung ins Russische 1985-1986); (mit H. Gradinger) Über heterotype Mischphasen bei Seltenerdoxyden, Zs. f. anorgan. u. allg. Chemie, 276, 1954, 209-226, 277, 1954, 89-95; (mit R. Esselborn) Nitridphasen des Niobs, ebd., 309, 1961, 151-170; (mit W. u. H. Morawietz) Das Zustandsdiagramm der Indiumbromide, ebd., 316, 1962, 220-230; (mit H. Bärnighausen u. N. Schultz) Darstellung u. Kristallstruktur d. Samarium-, Europium- u. Ytterbium-oxidbromide, ebd., 338, 1965, 250-265; (mit B. Pfeiffer) Über Mischkristalle zwischen Praseodymdioxid u. Terbiumdioxid, Journal f. praktische Chemie, 34, 1966, 23-29; Structural and solid state chemistry of pure rare earth oxides, in: L. Eyring (Ed.), Progress in the science and technology of the rare earths, vol. 2, 1966, 312-339; (mit H. Reuther) Phasen des ternären Systems Vanadium-Kohlenstoff-Sauerstoff, Zs. f. anorgan. u. allg. Chemie, 402, 1973, 87-96; (mit H. Kristen) Sauerstoff-Perowskite mit vierwertigem Neodym, ebd. 456, 1979, 41-53; (mit W. Kern) Zersetzungsdrücke u. Phasengrenzen von Niobnitriden, ebd. 507, 1983, 127-141; (mit W. Kern) Gezielte Präparation von Niobnitridphasen, ebd., 512, 1984, 7-12.  

 

L Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch, VIIa, Teil 1 (1956), 249f; VIII, Teil 1 (1999), 511-513; G. Thiele, G. B. zum Gedenken, Freiburger Universitätsblätter, Jg. 41, Heft 156, 2002, 158-160 (B).

 

B Zs. f. anorgan. u. allg. Chemie, 357, 1968, H. 4-6, vor d. S. 161; Berr. d. Bunsen-Ges. f  physikal. Chemie, 87, 1983, 296; s. L; W. A. Herrmann, Synthetic Methods of Organometallic and Inorganic Chemistry, 10 vols., 1996-2002, Preface to the Series.