Kistner, Adolf, Pädagoge, Historiker der Naturwissenschaft und Technik

*15.07.1878 Mannheim, ev., + 20.11.1940 Heidelberg

V Christian August Adolf Berthold K.(1831-1905), Friseur in Mannheim;

M Adolphine, geb. Vogt (1845-1893);

G 3 Wilhelmine (1869-1874); Gabriele K. (1870-nach 1916), Richard (1881-?)

∞ 30.07.1902 in Sinsheim Julie Antonie (Toni) Reinhardt (1876-1945)

K keine

 

1887 IX - 1896 VII                Besuch des humanistischen Gymnasiums in                                                                 Mannheim

1896 XII - 1899 V                 Studium d. Mathematik u. Naturwissenschaften an d.                                                  Univ. Heidelberg

1900 I                                     Staatsprüfung für das höhere Lehramt an Mittelschule                                                 mit dem Zeugnis I. Grades (Oberlehrerzeugnis)

1900 I - 1901 VII                   Ablegung des Probejahrs im Realgymnasium                                                             Mannheim  u. (III-VI 1901) Weinheim

1901 IX -1904 VIII                Lehramtpraktikant an d. Oberrealschule Heidelberg                                                    (bis IV 1902) u. Sinsheim

1904 IX - 1909 III                 Professor an d. Oberrealschule Sinsheim

1909 IV - 1914 III                 Professor am Gymnasium Wertheim

1914 IV -1936 II                    Professor am Gymnasium Karlsruhe

1939 IV                                  Umzug nach Heidelberg

 

 

K.s Vater, ein Friseur, kümmerte sich um die Ausbildung seines ältesten Sohns: zunächst besuchte K. eine private Lehranstalt ("Institut Wilhelm Schwarz"), nach deren Abschluss er die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium bestand. Der. Gymnasialunterricht lag K. offenbar wenig: Ab dem zweiten Schuljahr wurde sein Fleiß mit durchschnittlich 3 bewertet, auch zeigte er kaum Erfolge im Lernen, mit Ausnahme der Mathematik und Naturwissenschaft. Wie K. später mitteilte, verbrachte er als Gymnasiast "manche Stunde auf der Sternwarte, im Naturalienkabinett und in dem alten astronomischen Turm des ehemaligen Jesuitenkollegs." Damals erwachte  in ihm Interesse zur Geschichte der Naturwissenschaften. Andere Fächer blieben weiter vernachlässigt. Allerdings wurde K. jährlich in die nächste Klasse "promoviert" und verließ das Gymnasium regular mit dem Reifezeugnis. Natürlich wählte er für sein Studium "Mathematik und Naturwissenschaften".

Bestimmt entsprach das humanistische Bildungssystem seinen Neigungen nicht. Kein Wunder, dass K. das Auftreten eines "realistischen Bildungsideals" gegen Jahrhundertswende später als "Aufschwung" im Bildungswesen bezeichnete. Seine humanistische Schulbildung war jedoch nicht folgenlos: Ihr verdankte K. einen guten Einblick in die allgemeine Geschichte, aber auch den ausgezeichneten literarischen Stil seiner Schriften, die seine humanistische Bildung deutlich erkennbar machen.

Wahrscheinlich wurde ihm seine berufliche Laufbahn als Schullehrer schon früh vorgezeichnet: K. studierte - an der nahen Universität Heidelberg - nur fünf Semester, um anschließend das Staatsexamen für das höhere Lehramt zu bestehen.

Nach ersten Jahren als Lehramtspraktikant wurde K. "Großherzoglicher Professor".

In seinen Schulen - zuerst in Sinsheim, dann in Wertheim und schließlich in Karlsruhe - unterrichtete K. jeweils Mathematik und Physik, er leitete auch das physikalische Kabinett und das chemische Labor. Als begnadeter Lehrer wusste er, das Interesse zur Naturwissenschaft bei seinen Knaben zu erwecken. Es ist, z. B. überliefert, dass er seine Schüler bei der Errichtung einer Telefonleitung zwischen seiner Schule und der städtischen Töchterschule mitarbeiten ließ und ihnen erlaubte, per Telefon zur Probe zu sprechen. Eine sichere pädagogische Methode K.s war die lebhafte und zielgerichtete Verwendung wissenschaftsgeschichtlicher Informationen. "Lieber gar keine geschichtlichen Bemerkungen, als das trockene und sinnlose Aufzählen von Namen und Daten, dem man allenthalben begegnet", behauptete K. mit Recht. Er verfügte über ein System von Experimenten, die auf klassischen Versuchen basierten - und damit verband er den geschichtlichen Hintergrund, die Zusammenhänge der Erscheinungen und Begriffe aufzeigend. "Er arbeitete sicher wie ein Wissender, einfach wie ein Könner oder Weiser und eindringlich wie ein heilig Besessener", lautet ein zeitgenössisches Zeugnis.

Dieser Drang, naturwissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln, prägte die umfangreiche literarische Tätigkeit K.s: Er verfasste acht Bücher, mehr als 80 Publikationen in Zeitschriften und auch mehrere Zeitungsartikel zur Geschichte von Kultur, Naturwissenschaft und Technik. Seine Honorare gab er für die Beschaffung einer reichhaltigen Bibliothek und für weitere Forschungen aus. Eine chronische Herzkrankheit erlaubte ihm wenig Bewegung, den größten Teil seiner Zeit verbrachte er so am Schreibtisch.

K. fühlte die Notwendigkeit, mehr Kenntnisse über seinen Arbeitsbereich möglichst weit zu verbreiten, und das sah er als Lebensaufgabe. Er begann mit einer elementaren "Geschichte der Physik" in zwei Teilen (1906), die eine gute Aufnahme fand, deren 3. Auflage schon 1934 erschien auch in der Übersetzung in Spanisch. Auch später verfasste K. solch allgemeine Darstellungen, die insbesondere für die Lehrer und auch für die fortgeschrittenen Schüler von hohem didaktischem Wert waren. Sie zeigen K.s großes pädagogisches Talent und seine meisterhafte Fähigkeit, Inhalte klar, knapp und immer interessant zu vermitteln.

Zugleich mit den allgemeinen Arbeiten führte K. seine Forschungen über ausgewählte Themen aus der Geschichte von Naturwissenschaft und Technik durch, so: die Anfänge der Luftfahrt mit Ballons; frühe Blitzschutzversuche; Physiker und Chemiker des 18. Jahrhunderts; wissenschaftliche Instrumente der Vergangenheit u. a.. Sehr früh begann er das Problem "Messung der Zeit" zu bearbeiten. Sein erstes Werk dazu, eher mathematisch, aber mit stark historisch-kulturell geprägtem Hintergrund, war dem Kalender der Juden gewidmet.

Bald wandte K. sich der Geschichte der Uhr zu, seine erste Publikation darüber erschien jedoch viel später: Aus Anlass der Einrichtung des Badischen Landesmuseums im Karlsruher Schloss, wohin eine große Uhrensammlung (früher im Kunstbewerbemuseum) gelangte, publizierte K. eine knappe, aber inhaltsreiche Beschreibung dieser Sammlung. Die weitere Bearbeitung dieser Sammlung brachte K. in Kontakt mit der Badischen Uhrmacherschule in Furtwangen. Er bekam den Auftrag vom Badischen Ministerium für Kultus und Unterricht, ein Verzeichnis der aus 1012 Objekten bestehenden Uhrensammlung der Furtwanger Schule zu fertigen, ehrenamtlich. So entstand das Buch über diese Sammlung, das, außer dem Inventar mit Erklärungen, mehrere einführende Kapitel enthält - über Kalenderkunde, über "Die Uhr und ihre Teile", über die Schwarzwälder Uhr wie auch über einige bedeutende Persönlichkeiten des Uhrenwesens im Schwarzwald.

Als Höhepunkt von mehr als zwanzigjährigen sorgfältig vorbereitenden Arbeiten

publizierte K. die einzigartige Monographie "Die Schwarzwälder Uhr". Sie basierte einerseits auf der Untersuchung von etwa 1200 alten Schwarzwälder Uhren in verschiedenen deutschen und ausländischen Sammlungen, andererseits auf der Besichtigung von allen Uhrenwerkstätten und -fabriken des Schwarzwalds, zahllosen mündlichen Anfragen bei alten Uhrmachern und Schildmalern, wie auch auf Archivalien und Auskünften von Pfarrern, Ämtern, Fabriken und Museen. Als Ergebnis ist die Entwicklungsgeschichte des Uhrengewerbes in technischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht inhaltsreich und volkstümlich dargestellt. Mit mehr als 130 Photographien illustriert, enthält sie auch zahlreiche  biographiche Einzelheiten. So gehört das Werk zu den interessantesten Beiträgen zur  Geschichte des Uhrenwesens. Dem Buch folgte während des nächsten Jahrzehnts noch ein Dutzend Artikel mit biographischen Nachträgen zum Thema, so dass K. dieses Forschungsfeld bis zum Lebensende bearbeitete, was sein Ruf als bedeutender Historiker des Uhrenwesens begründete.

1930 erschien das zweite große Werk K.s - über die Naturwissenschaft in der Kurpfalz zur Zeit des Kurfüsten Carl Theodor. Unermüdlich sammelte K. nach und nach Materialien, zerstreut in vielen Archiven und Bibliotheken Deutschlands, wie auch in Privatsammlungen des In- und Auslands. Letztendlich, wie K. es metaphorisch ausdrückte, "haben sich nach der Analyse von insgesamt 493 Faszikeln die verschiedenartigen Atome und Atomgruppen gewinnen lassen, deren Synthese schließlich gelungen ist".

In diesem Werk schildert K. nach der allgemeinen Übersicht lebhaft alle Seiten der damaligen Naturwissenschaft in der Kurpfalz - von der Astronomie bis zur Medizin, jeweils in Verbindung mit geschichtlichen Ereignissen und geistigen Strömungen der Zeit, wie auch mit biographischen Daten und Einzelheiten ihrer Akteure. Dabei zeigt es sich, über welch reiches naturwissenschaftliches und allgemeines Wissen K. verfügte. Erfüllt von der "Entdeckerfreude", die der Verfasser "beim Sammeln des Stoffes haben durfte", stellt dieses hevorragendes Werk ein großes Monument der damaligen Naturwissenschaft dar. Dank der Fülle von Tatsachen und Gedanken, wie auch dank der geschickten Darstellungskunst K.s, ist das Buch noch heute lesenswert; es wird durch moderne Historiker zitiert und gilt als Standardwerk zum Thema.

Aus gesundheitlichen Gründen ging K. 1936 frühzeitig in den Ruhestand. Einige Zeit blieb er noch in Karlsruhe und bemühte sich, seine weiteren Forschungsergebnisse zu publizieren. In der Hoffnung auf Genesung und Erholung siedelte er 1939 nach Heidelberg um. Es half ihm aber nicht: Nach einem Jahr starb er. Seine reiche Bibliothek vermachte K. der Universität Heidelberg.

Der Nachlass K.s bezeugt seinen akribischen Umgang mit Quellen und Objekten der materiellen Kultur und die Zuverlässigkeit seiner Arbeit. Jedes seiner beiden großen Werke stellt einen musterhaften "case study" dar und ist nicht überholt. Noch heute bleiben Werke K.s ein wertvoller Schatz für Historiker der Naturwissenschaft und Technik.

 

Q  StadtA Mannheim: Familienbogen; Meldekartei; Bestand Karl-Friedrich Gymnasium, Zug. 4/1977, Nr. 4, 5, 32 (Konferenzen; Abiturientenzeugnisse), Nr. 80-83 (Schülerlisten); UA Heidelberg: Studentenakten, K.; GLA Karlsruhe: 235/31654; 466/10360 (Akten K.); Abt. N, Kistner (Nachlass K.); UB Heidelberg: O 243-6 (Sammlung von Zeitschriften- u. Zeitungsaufsätzen aus dem Nachlass K.)

 

W  Der Kalender der Juden. Vollständige Anleitung zu seiner Berechnung für alle Zeiten, 1905; Geschichte d. Physik, 2 Bde. 1906, 21919, 31934 (Übersetzung ins Spanische); Deutsche Physiker u. Chemiker, 1908, 21925 unter dem Titel ?Deutsche Meister d. Naturwissenschaft u. Technik?, 2 Bde.; Physikalische Experimente auf historischer Grundlage, in: Pädagogisches Archiv 55, 1913, 296-307; Geschichtliche Hilfsmittel für den naturwissenschaftlichen Unterricht, in: ebd. 56, 1914, 363-371; Zur Entwickelung des Bunsensbrenners, in: Chemische Apparatur 2, 1915, 187-189; Goethes physikalische Apparate, in: Central-Ztg. für Optik u. Mechanik 37, 1916, 139f., 154f.; Zur Geschichte des Luftschiffers Bittorf u. d. Ballonverbote in: Geschichtsbll. für Technik, Industrie u. Gewerbe 4, 1917, 38-50; Physik u. Chemie im Weltkrieg, 1917; Die geschichtliche Entwicklung des Bombenswurfs aus Luftfahrzeugen, in: Geschichtsbll. für Technik u. Industrie 5, 1918, 89-109; Die Geschichte d. Schwarzwalduhr u. das Badische Landesmuseum, in: ebd. 7, 1920, 30-42; Graf Karl Heinrich Josef von Sickingen u. seine ?Versuche über die Platina? (1782), in: Mannheimer Geschichtsbll. 22, 1921, 85-93, 105-109; D. Feinbau d. Materie, 1923; Die historische Uhrensammlung Furtwangen, 1925; Die Schwarzwälder Uhr, 1927; Mannheimer Stadtrat u. kurpfälzische Regierung gegen das alchemistische Laborieren, in: Studien zur Geschichte d. Chemie, Festgabe für Edmund O. von Lippmann, 1927, 109-114, nachgedruckt in: Die BASF 15, 1965, 49-54; Die Pflege d. Naturwissenschaften in Mannheim zur Zeit Karl Theodors, 1930; Beiträge zur Geschichte deutscher Uhrmacher u. Uhrmacherfamilien, in: Uhrmacher-Woche 35,1928, 661-663, 38, 1931, 128-130, 160f., 217-219, 254f., 44, 1937, 609-611, 632f.; Planetarium u. Globen im Büchersaal des Mannheimer Schlosses, in: Mannheimer Geschichtsbll. 36, 1935, 203-210; Paulus Kreuz, d. erste Uhrenglockengießer des Schwarzwalds, in: Uhrmacher-Woche 43, 1936, 556-561; Die Anfänge d. Experimentalphysik an d. Universität Heidelberg, in: Zs. für die Geschichte des Oberrheins 50, 1936, 110-134; W. A. Mozart u. d. Chemiker Graf K. H. J. von Sickingen, kurpfälzischer Gesandter in Paris, in: Mannheimer Geschichtsbll. 38, 1937, 42-48.

 

L  Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch VI, Teil 2 (1937), 1326; VIIa, Teil 2 (1958), 760f.; S. v. Weiher, A. K., d. Erforscher des Schwarzwälder Uhrengewerbes, in: Badische Heimat 30, 1950, 82-84 (mit Bibliographie); K. Broßmer, Professor A. K.(1878-1940), Historiker d. Naturwissenschaften, in: ebd. 34, 1954, 77-79 (dasselbe in: Südwestdeutsche Schulbll.53, 1954, 54f.); H. Maierheuser, Professor A. K., d. Erforscher des Schwarzwälder Uhrengewerbes, als Lehrer u. Mensch, in: ebd., 79-81.

 

B Bisher nicht gefunden