Kategorie: Kurzbiografien
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Haas, Carl Josef, Zellstoff- u. Papierfabrikant

26.8.1844 Mannheim, ev., + 4.4.1921 Mannheim

 

V  Johann Conrad H. (1807-1863), Kolonialwarengroßhändler;

Marie Luise Charlotte, geb. Haas (1810-1888);

G 9: Halbbruder Rudolf  H. (1836-1897), Halbschwester Anna, verh. Helwig (1838-1878), Halbschwester Elise, verh. Spengler (1839-1879), Halbbruder Wilhelm H. (1840-1890), Friedrich H. (1843-1872), Unternehmer, Bianca, verh. Löffler (1845-1917), Luise H. (1847-1914), Marie H. (1849-1852), Auguste H. (1851-1865);

 

∞ 6.10. 1866 in Mannheim Anna Forschner (1846-1914);

K 4: Anna, verh. Nieser (1867-?), Rudolf H. (1869-1905), Vorstandsmitglied d. Zellstoff-Fabrik Waldhof, Wilhelm H. (1871-1945) Dr. jur., Direktor d. Bahnges. Waldhof, Hermann H. (1872-?)

 

1853 IX - 1860 VII               Besuch d. Höheren Bürgerschule in Mannheim

1860 VIII - 1863 I                 Lehrling im väterlichen Geschäft

1863 I - 1865 I                      Lehrling in d. Handelsfirma Vivarès Cousins in St.                                                 Peray; Reise nach Spanien u. Algier

Ab 1865                                Teilhaber d. Firma "Conrad Haas & Söhne"

1884 VI 26                            Gründung d. AG "Zellstofffabrik Waldhof"

1893                                      Amerika-Reise als Vertreter d. Zellstofffabrik bei der                                                Weltausstellung in Chicago

1897                                      Kommerzienrat

1898 VIII                                Konstituierung d. AG "Zellstofffabrik Waldhof-Pernau"                                                mit H. als stellvertretendem Präsidenten

1903 VI                                 Vorstandsmitglied des Vereins Deutscher Zellstoff-                                                  Fabrikanten

1904                                     Geheimer Kommerzialrat

1914 XII                                Pensionierung

1915-1919                           Stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats d.                                               Zellstofffabrik Waldhoff

 

H. wurde in die Familie eines erfolgreichen Mannheimer Handelsunternehmers geboren und so eine kaufmännische Laufbahn vorgezeichnet. Da er in der Zeit eines großen industriellen Aufschwung Deutschlands lebte, konnte er über den üblichen Rahmen eines Handelsmanns hinauswachsen und ein bedeutender Industrielle werden.

Ab dem 10. bis zum 16. Lebensjahre besuchte H. die Höhere Bürgerschule seiner Vaterstadt. Offensichtlich hatte er kein Interesse am Schulunterricht, denn er blieb immer im unteren Drittel seiner Klasse; er saß je zwei Jahre in der 3., 4. und 5. Klasse, aus der ihn sein Vater mitten im Schuljahr 1860/61 nahm und in sein Geschäft als Lehrling setzte. Hier zeigte sich H. erfolgreicher, während des dritten Lehrjahres führte er schon selbständige Geschäftsreisen durch.

Nach dem Tod des Vaters sammelte H. noch zwei Jahre lang Arbeitserfahrungen bei einer Handelsfirma, für die er Deutschland bereiste und zum Schluss eine Dienstreise nach Spanien und Algier absolvierte.

Jetzt war er reif für eine selbständige Tätigkeit und trat als Teilhaber in die Firma "Conrad Haas Söhne" ein.

Obwohl das Geschäft blühte, fühlte sich H. nicht zufrieden: Er suchte zusätzliche Ansatzpunkte für seinen Schaffensdrang. So verwaltete er 1870/71 zusammen mit der Mannheimer Firma Mohr & Co die französischen Staatswälder im Elsaß. Später wirkte H. als Mitbegründer der AG "Eichbaum" (die bekannte Bierbrauerei, deren Besitzer sein Schwiegervater gewesen war). Auf der konstituierenden Versammlung im Mai 1881 wurde er zum Präsidenten gewählt. Später war H. Vorsitzender des Aufsichtsrats.

Die ersehnte Möglichkeit für ihn stellte sich erst Ende 1883 ein, als sein Bruder Rudolf, damals bei der Papierfabrik in Aschaffenburg, die Idee vortrug, Zellstoff für die Papierindustrie zu produzieren. H. war begeistert und begann mit enormer Energie  die Vorbereitungen zur Gründung der neuen Firma. Bereits im Frühjahr 1884 gelang es ihm, ein Grundstück von 60 Morgen (21 ha) nördlich von Mannheim, an der Grenze zu Sandhofen, für 60 000 Mark zu erwerben. Das Areal für das zukünftige Unternehmen war sorgfältig ausgewählt. Einerseits befand es sich am Altrhein sehr günstig für die Materialzufuhr wie auch für die Versendung der Fabrikate. Andererseits, und dies war noch wichtiger, gab es dort in hinreichender Menge das reine Grundwasser, für die Zellstoff-Produktion entscheidend. Die Brüder luden, nach dem Rat ihres Bankiers Carl Ladenburg den Chemiker Dr. Carl Clemm (s dort) ein, der eben aus der BASF ausgeschieden war. Im Juni 1884 wurde eine neue Aktiengesellschaft für die Zellstoffproduktion etabliert - anfangs mit nur neun Aktionären und einem Kapital von 750 000 Mark. Clemm wurde technischer Direktor, H. kaufmännischer Direktor und Rudolf H. - Vorsitzender des Aufsichtsrats.

Der erste Schritt war nun die Erwerbung (für 30 000 Mark) der Lizenz für das zur Großfabrikation geeignete sog. Ritter-Kellner-Verfahren der Herstellung von Sulfit-Zellulose. Gleichzeitig wurde ein Gleißanschluss mit der Hessischen Ludwigsbahn vereinbahrt: Von Anfang an plante H. ein großes Unternehmen, was bei dem damals in Keim befindlichen Zustand der Zellstoffproduktion ein kühnes und weitblickendes Vorhaben war. Die Gründung und Entwicklung der ersten großindustriellen Produktion von Zellstoff wurde zum Lebenswerk H.s'.

Nach einjähriger Bauzeit wurde die erste Fabrikanlage im September 1885 in Betrieb genommen. Sie lieferte eine Tagesproduktion von 20 Tonnen, was die damaligen Kapazitäten anderer deutschen Fabriken (von 1 bis 5 Tagestonnen) mehrfach übertraf. Die erzeugte Zellulose besass eine hohe Qualität, die auch skeptische Papierfabrikanten überzeugte, die Leinen- und Baumwoll-Lumpen in der Produktion durch Zellstoff zu ersetzen. Um die künftige Nachfrage zu befriedigen, begann man die zweite, größere Anlage in Waldhof zu projektieren.

1886 tritt H. dem "Verein Deutscher Holzzellstoff-Fabrikanten" bei und erklärt, dass nur die Großfabrikation "die hohen Generalunkosten des Sulfitverfahrens herabzudrücken" erlaube und dass Waldhof diesen Weg gehe. Damals fand er kaum Verständnis, wirkte aber zielstrebig weiter. 1887 wurde die zweite Anlage, mit dreifacher Kapazität, in Betrieb genommen und 1889 - die dritte, noch größere. Das Aktienkapital wuchs bis 1890 auf 4 Mio. Mark, die Tagesproduktion - auf 140 Tonnen.

1893 vertrat H. "Zellstoffabrik Waldhof" auf der Weltausstellung in Chicago, die für die Firma zu einem großen Erfolg wurde: Eine Reihe von Medaillen und viele neue Kunden wurden gewonnen. Auch später, bei der Weltaustellung 1900 in Paris, wirkte H., damals (nach dem Tod Clemms 1899) der einzige Generaldirektor der Firma, sehr erfolgreich und knüpfte weitere Verbindungen an.

Mitte der neunziger Jahre unternahm H. weite Reisen nach Russland, zum Teil im Schlitten, bis nach Archangelsk und selbst zum Ural, um Holzkäufe zu sichern. Ein weiterer Schritt war die Gründung einer russischer Filiale der Firma, und zwar bei Pernau (Livland). Mai-Juni 1898 konnte H. mit der russischen Krone und mit privaten Waldbesitzern Lieferverträge über jährlich 100 000 Festmeter Holz abschließen: zu 6 Mark je Festmeter frei Pernau und zu 15-16 Mark frei Mannheim (gegenüber 19-20 Mark für deutsches Holz). H. besorgte meisterhaft auch den Grundstückskauf und die Beschaffung der nötigen Gelder, ca. 6 Mio. Mark. Im August 1898 fand die Konstituierung der AG "Zellstofffabrik Waldhof-Pernau" statt mit H. als stellvertretendem Präsidenten. Nach Bau und Montage wurde das Werk Anfang Dezember 1900 in Betrieb genommen.

Den Erfolg in diesen und auch vielen anderen öfters sehr schwierigen Verhandlungen verdankte H. seinem zähen Willen vereinigt mit seiner gewinnenden Art des persönlichen Umgangs - zusammen mit dem imponierenden Auftreten seiner Gestalt. Es wird bezeugt, dass von ihm "ein tief beeindrukendes Fluidum" ausstrahlte, das die oftmals unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten beseitigte.

Dem kaufmännischen Blick H.s' lag es nahe, nicht nur Rohstoff für Papierfabrikation (d.h. Zellstoff), sondern auch Papier selbst zu produzieren. So entstand 1907 in Waldhof neben der Zellstofffabrik ein neues Werk, der "AG Papyrus", deren Mitbegründer H. war. Die flüssige Zellstoffmasse ging direkt in die Papierherstellung ohne zu getrocknet, gepackt und transportiert zu werden. Einen weiteren großen Erfolg erreichte H. in demselben Jahr durch die Fusion mit der Zellstofffabrik Tilsit, was insbesondere für den Export sehr günstige Perspektive eröffnete.

Außerdem wirkte H. als Mitbegründer der "Süddeutschen Juteindusrie AG" in Waldhof und der "Sunlight-Seifenfabrik GmbH" in Rheinau. Als Aufsichtsrat-Mitglied in diesen und auch in einigen anderen Unternehmen genoss er hohes Ansehen dank seines klaren Blicks für die wirtschaftlichen Verhältnisse.

Bemerkenswert war die Wohl- und Sozialtätigkeit H.s'. Der städtischen Konkordienkirche stiftete er bei ihrer Rekonstruktion 1893-1895 eine mächtige Glocke, zum Andenken an seine Mutter Louisenglocke genannt. Anlässlich des in Baden gefeierten 40jährigen Jubiläums der Regierung von Großherzog Friedrich I. im Jahre 1898 gründete H. einen Fonds zum Bau von Arbeiter-Genesungsheimen. Eine solche Anstalt wurde in Rohrbach bei Heidelberg für Männer, eine andere in Tretenhof bei Lahr für Frauen errichtet, wobei H. sich bis in die kleinsten Einzelheiten um deren Ausführung kümmerte. Mit dieser Unternehmung erwarb H eine solche Anerkennung, dass die Universität Freiburg ihm im Oktober 1911 die Würde eines Dr. med. h. c. verlieh.

Erholung von den anstrengenden Tätigkeiten suchte H. in der Natur. (Seine Liebe zur Natur fand ihr Ausdruck u.a. in seiner mehrjährigen Mitglidschaft bei dem Verein für Naturkunde Mannheim). Die Pferde waren seine Hauptleidenschaft. Nach Waldhof fuhr er von Mannheim mit seinem bekannten Rappengespann. H. war aktiv im Badischen Rann-Verein. Ab 1907 war er Mitglied des Direktoriums, 1914 wurde er als Nachfolger des verstorbenen Carl Reiß Präsident des Direktoriums des Vereins.

Ende 1914 ging der 70jährige H. in den Ruhestand; er wurde aber zum stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrats gewählt und blieb in dieser Eigenschaft bis 1919 einschließlich.

Der Weltkrieg vernichtete viele H.s' Errungenschaften, insbesondere sein Lieblingskind das Pernau-Werk, wie auch mehrere internationale Verbindungen. Der Zusammenbruch des Kaisersreichs, mit dessen Aufschwung er selbst aufgestiegen war, die demütigende Niederlage seines Heimatlandes und dazu noch die Verdrängung des patriarchalischen Verhältnisses zwischen Unternehmer und Arbeiter bedeuteten für H. den Untergang seiner Welt und fielen ihm zu schwer. Der Tod erlöste den physisch noch kräftigen Mann vom kaum erträglichen psychischen Befinden.

 

Q  StadtA Mannheim: S1/2058 (Biographische Sammlung H.); Bestand Tulla-Gymn., Zug. 68/1993, Nr. 2 u. Nr. 3 (Höhere Bürgerschule); Auskunft des UA Freiburg vom 24.04.2008 u. d. Firma SCA Hygiene Products GmbH (Mannheim, Waldhof) vom 28.5.2008.

 

L Rud. Haas, in: NDB 7 (1966), 377; Rud. Haas, in: Florian Waldeck (Hg.), Alte Mannheimer Familien, Teil V (1924), 23-43 (B); 75 Jahre Zellstofffabrik Waldhof. Chronik 1884-1959 (1959), S. 9-35 (B); J. Wysocki, Spuren. 100 Jahre Waldhof ? 100 Jahre Wirtschaftsgeschichte, 1984, S. 9-46 (B)

 

Ölgemälde von E. Zoberbier, 107x86 cm o.J. [1914?] im Besitz d. Firma SCA Hygiene Products GmbH (farbige Reproduktionen in: ?Chronik 1884-1959?, [1959], 12 u. in: Wysocky, 1984, 28, vgl.L).; Aus dem Werdegang d. deutschen Zellstoffindustrie, Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Vereins Deutscher Zellstoff-Fabrikanten e.V, 1930, zwischen S. 48 u. 49.