Kategorie: Kurzbiografien
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Mittasch Paul Alwin, Chemiker und Histori­ker der Naturwissenschaft

*27.12.1869, Großdehsa bei Lobau (Lau­sitz), Sachsen, ev., + 4. 6.1953 Heidelberg


Johann (1830-1917), Lehrer.

Carolina, geb. Beckel (1836-1922).

5: Oswald (1863-1938); Paula Beckel (1865-1939); Fanny Maune (1867-1959); Clara Schenker (1874-1958) u. ein im ersten Lebensjahr ver­storbener Bruder.

oo 16.05.1908 in Mannheim Dora Martha, geb. Jäger (1885-1978).

Heinz (1909-1932), Helmut (1912-1997).

 

1875-1883                              Volksschule in Großdehsa

1883-1889                               Landständiges Lehrerseminar zu Bautzen

1889-1892                                Hilfslehrer u. Hilfsorganist in d. Dorfschu­le                                       Klix b. Guttau

1892-1902                             Lehrer in Leipzig (Ostern 1897 - Ostern                                    1902 - in 1. Bezirkschule nahe d. Univer­sität)

1896-1901                                Hörer d. Univ. Leipzig, Studium d.                                       Naturwissenschaften;

1901, XII                                     Promotion sum­ma cum laude b. W. Ostwald

1902 III-1903 VII                     Assistent in d. Univ. Leipzig b. Wilh. Ostwald                                      u. M. Boden­stein; gleichzeitig (1902-1904)                                        Mitarbeiter bei "Chemi­sches Centralblatt"

1903 VIII-1904 II                  Analytischer Chemiker in AG für Bergbau,                                        Blei- u. Zinkfabrikation, Stol­berg bei Aachen

1904 III                                  Eintritt in die BASF als Assistent Carl Boschs

1909-1912                              Chemische Grundlegung d. katalytischen                                      Ammoniakdrucksynthese

1913-1914                               Katalytische Ammoniakoxydation

1918                                          Eröffnung des Oppauer Forschungslaboratoriums

1922 I                                           Ernennung zum stv. Direktor

1923 V                                       Dr. Ing. e.h., TH München

1926 III                                       Übersiedlung nach Mannheim

1928 X 1                               Dr. d. Landwirtschaft e. h., Landwirt­schaftliche                                       Hochschule Berlin

1933 XII 31                                Eintritt in den Ruhestand

1934 III                                      Übersiedlung nach Heidelberg

1949                                          Ernennung zum Professor durch die Regierung                                                     Baden-Württembergs.

 

M.s Biographie ist die Geschichte eines Mannes, der sich vom bescheidenen Dorf­schullehrer zum weltanerkannten Experten der chemischen Technologie entwickelte. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er: "Das ganze Leben in und außer dem Hause stand im Zeichen unermüdlicher Arbeit". Diese Prägung bestimmte sicher auch sein eigenes Leben. Seine Kindheit war glücklich: Die Eltern waren besorgt um eine allseitige Ent­wicklung der Kinder. Der spartanische Le­bensstil des Vaters fand ein Gegengewicht in der Liebe und Weichheit der Mutter.

Nach der Grundschulbildung im Heimatdorf trat M. ins Internat zu Bautzen ein und beendete dort das Lehrerseminar. Seinen Dienst als Lehrer begann er in einer dörflichen Volks­schule; nach drei Jahren, dem Rat seines Bruders Oswald folgend, zog er nach Leip­zig um. So wurde eine weitere Lehrerausbil­dung an der Universität möglich. Als Lehrer hatte er beste Zeugnisse, doch ein rein wissenschaftlicher Weg spielte zu dieser Zeit noch keine Rolle.

 

In der Universität belegte M. viele verschie­dene Kurse, sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften. Schritt für Schritt nahm ihn die Chemie ein, der er sich so weitverschrieb, dass seine Studien schließlich in der Promotion zum Dr. phil. in W. Ostwalds Abteilung mündeten. Der talentvolle und freundliche Physikochemiker M. Boden­stein wurde sein Doktorvater. M.s Dissertation war der Bildung und Zerle­gung des Nickelcarbonyls gewidmet, und man kann nur bewundern, wie der Verfasser, mit einem Vollzeitschuldienst belastet, im Laufe von anderthalb Jahren eine derart grundlegende Forschungsarbeit durchführen konnte. Sie erhielt das Prädikat "egregia". M. selbst hatte wichtige physikalisch-chemische Erfahrungen gesammelt, die ihm später gute Dienste leisteten. Diese hervorragende Ar­beit wurde zur physikalisch-chemischen Ba­sis für die weitere Entwicklung des Mond-Langer-Carbonylverfahrens der Nickelge­winnung. Es gibt Hinweise, daß M.s Experimentalergebnisse noch in den 1960er Jahren durch Fachleute benutzt wurden.

 

Die Universitätsjahre beeinflussten M. auch in  einer  anderen  Richtung, der philosophischen. Außer Ostwalds Kolleg über Ener­getik war M. sehr durch W. Wundts Vorlesungen beeindruckt; seine Vorle­sungsnachschriften bewahrte er bis an sein Lebensende. Bemerkenswert ist, dass M. ne­ben Chemie und Physik die Philosophie statt der üblichen Mathematik oder Mineralogie für seine Doktorprüfung ausgewählt hatte. Offensichtlich war es Wundts Einfluss, dass M.s Weg "von der Chemie zur Philosophie" seine letzten zwanzig Lebensjahre bestimmte.

 

Das fehlende Abitur machte die Habilitation unmöglich. So wurde M. gezwungen, anstatt der akademischen eine industrielle Karriere einzuschlagen. Erste Erfahrungen machte er im Centrallaboratorium Stolberg bei der Blei- und Zinkfabrikation; bereits nach we­nigen Monaten hielt ihn der Direktor wegen seiner Kenntnisse, Pflichttreue und Lei­stungsfähigkeit "für fähig zur selbständigen Leitung eines Laboratoriums für Metallhüt­tenwesen". M. wechselte jedoch, dank M. Bodensteins Empfehlung, zur BASF, wo seine fast dreißigjährige Tätigkeit ihm Zu­friedenheit, Anerkennung und Wohlstand einbrachten.

 

M. begann als Carl Boschs Assistent und wurde bald einer seiner engsten Mitarbeiter, wobei sich M. und Bosch einander auf das glücklichste ergänzten. Zuerst nahm M. teil an Versuchen, Stickstoff über Metallnitride oder -cyanide zu fixieren; seit 1909 wurde diese Richtung durch ausführliche Arbeiten über die direkte Ammoniaksynthese nach dem Haberschen Verfahren geändert. M. trat an die Spitze der chemisch-katalytischen Forschungen und hatte Erfolg. 1918 wurde er zum Leiter des neugegründeten Ammoni­aklaboratoriums berufen, das sich innerhalb von zehn Jahren zu einer großen vielseitigen Forschungseinrichtung mit etwa 1000 Mit­arbeitern entwickelte. M. erarbeitete eine ef­fektive Organisationsstruktur und Arbeits­verteilung. Als Leiter nahm er Boschs Mu­ster an. Dabei waren, wie sein Sohn schreibt, "Ellenbogen ein unbekannter Begriff für ihn."

 

Dank der durch M. geleiteten zielgerichteten systematischen Forschungen wurde nicht nur der effiziente und billige Katalysator der Ammoniaksynthese gefunden, der bis heute mit geringen Modifikationen benutzt wird, sondern ein bahnbrechender neuer Weg der industriellen Katalyse eingeführt. Der nachste Schritt auf diesem Weg wurde die Ge­winnung der Salpetersäure durch katalytische Ammoniakoxydation (1914); später folgte das dritte bedeutende Verfahren: Hochdruckmethanolsynthese (1923). M. steht in der Geschichte der Chemie vor al­lem als einer der erfolgreichsten Forscher der Industriekatalyse, der in planvoller Ar­beit für zahlreiche Synthesen immer neue und neuartige Katalysatorsysteme erarbeite­te. Als seine zentrale Leistung soll die Ent­deckung der Mischkatalysatoren genannt sein, die all jenen Verfahren zugrunde liegt. Auf ihn geht auch die Schaffung sehr inter­essanter chemisch-metallurgischer Verfah­ren zurück, wie der Hochdruckcarbonylprozess zur Gewinnung reinster Metallpulver (Fe und Ni) über die entsprechenden Carbonyle. Seine technologischen Ergebnisse sind in 85 Patenten beschrieben (teilweise zusammen mit C. Bosch, meistens mit sei­nen Mitarbeitern).

 

Tief getroffen durch den unerwarteten Berg­tod seines ältesten Sohnes im Sommer 1932 tritt M. vorzeitig in den Ruhestand und fin­det allmählich die Kraft, literarisch zu arbei­ten. Er schreibt viel über die Geschichte der Chemie, später mehr und mehr über die Phi­losophie der Naturwissenschaften, wobei das Phänomen der Katalyse, im Sinne einer "Auslösung", im Zentrum seiner Überlegun­gen stand. Seine letzten philosophischen Ar­beiten wurden auch von Bundespräsident Heuss geschätzt.

 

M.s Erholung war zeitlebens die Musik. Zu­erst dachte er sogar über eine Pianistenkar­riere nach, verwarf diesen Gedanken aber wieder wegen seiner kleinen Hände, die ein Teil seiner ganzen Statur waren. Auch sei­nen Garten liebte er, mit dem er sich ebenso systematisch-wissenschaftlich beschäftigte wie mit der Chemie.

 

M. war kein politischer Mensch. Wenn er auch 1933 seine Stimme für den Nationalso­zialismus, als der einzigen Alternative gegen den Kommunismus, abgab, war er doch nie mit der Judenverfolgung und anderen Grau­samkeiten des NS-Regimes einverstanden. Während des schwersten Kriegsjahres, ab Oktober 1944, schrieb M. die über 400Schreibmaschinenseiten umfassende "Chro­nik meines Lebens", ein hochinteressantes Werk, das seine Gründlichkeit, seine Liebe zur Systematik und seinen Fleiß widerspiegelt, aber noch der Veröffentlichung harrt. Sein Leben faßte M. selbst zusammen als "Viel Mühe und Arbeit, im ganzen mit gu­tem Gelingen; Jahre erfüllt von Erfolg und Glück und Zeiten tiefsten Schmerzes".

 

Q  Dokumente im Familienbesitz; UnternehmensA BASF, Ludwigshafen: W 1 (Mittasch); StadtA Mannheim; StadtA Heidelberg; ÜB Heidelberg.

 

W Chemische Dynamik des Nickelkohlenoxyds [Diss.] Zs. für physik. Chem., 1902, 40, 1-88; Bemerkun­gen zur Katalyse, Ber. Dt. Chem. Ges. 1926, 59, 13-36; Über Eisencarbonyl u. Carbonyleisen, Z. angew. Che­mie 1928, 41, 827-833; Von Davy u. Döbereiner bis Deacon. Ein halbes Jahrhundert Grenzflächenkatalyse, 1932 (mit E. Theis); Kurze Geschichte d. Katalyse in Praxis u. Theorie, 1939; Von d. Chemie zur Philoso­phie. Ausgewählte Schriften u. Vorträge, 1948 (mit Au­tobibliographie); Geschichte d. Ammoniaksynthese, 1951; Salpetersäure aus Ammoniak, 1953; Erlösung u. Vollendung. Gedanken über die letzten Fragen, 1953. - Die wichtigste d. 85 Patente M.s bei K. Holdermann u. E. Farber, vglL.

 

L R. Oesper, A. M., J. Chem. Education, 1948, v. 25, p. 531-532; K. Winkler, Wunder d. Katalyse, Die Rheinpfalz 11. März 1950 (mit Photo); Anonym, A. M., Nachrichten aus Chemie und Tecnik, 1, 1953, 99 (mit Zeichnung); K. Holdermann, A. M., Chem. Ber. 1957, 90, S. XLI-LIV (mit Biblio­grafie); A. v. Nagel, A. M., in: Ludwigshafener Chemi­ker, 1958, 137-170 (B.); E. Farber, From Chemistry to Philosophy: the Way of A. M., Chymia, 1966, v. 11, 157-178; R. Heinrich, A. M., NDB, 17,1994, 574-6.

 

B Porträt im Familienbesitz ("Zeitlos", gemalt 1952 durch Martin Ritter, Reproduktion bei A. v. Nagel, vgl. L); Bronzebüste 1925 von H. Heibel, BASF; Photo: Zs. Elektrochem. 1940, 46, 1 Vgl. L.