Kutscher, Waldemar, Biochemiker
*15.9.1898, St.Petersburg, griech.-kath., + 28.10.1981, Wiesloch
V Albert (1873-1943), Ingenieur.
M Helene (Elena Karlowna), geb. Martinson (1878-1950).
G 3; Sergej (ca. 1895-1974), Anatol (ca. 1900-1980), Lydia (+ ca.1970).
oo 15.08.1931 (Heidelberg) Maria, geb. Gabriel, Dr. med. (1903-1989). K 2; Ingrid, (*1938), Dr. med., verh. Schäfer, u. Ursula (*1939), Dr. med., verh. K.-Diemer.
1898-1914 St.Petersburg, Besuch des Realgymnasiums d. dt. St.Katharinenschule
1914 VIII. Verschleppung d. Familie nach Sibirien
1918 VI. Flucht nach Deutschland
1918 X1-1920 IV1 Dienst im Heere u. beim Freikorps "Grenzschutz Ost"
1923 III. Reifeprüfung am "Alten Realgymnasium" München
als Privatschüler
1926 III. 23 Diplom-Vorprüfung in Chemie an d. TH München
1927 III. 22 Diplom-Hauptprüfung
1929 III. 20 Dr.-Ing. „mit Auszeichnung“: Diss: „Über substitutionierte Acetylpyrrole u. Homologe“
1930 X 30 Immatrikulation an d. Univ. Heidelberg für das Medizinstudium
1932 X. 1 ordentl. Wiss. Assistent am Physiologischen Institut
d. Medizin. Fakultät Heidelberg
1934 VI 26 Promotion zum Dr. med. "magna cum laude
superato"; Diss.: "Vergleichende
Stickstoffuntersuchungen an Mittelohrsekreten bei
akuter Otitis u. beim Tubenmittelohrkatarrh".
1936 IV 6 Grad eines habilitierten Doktors d. Medizin, Habilitationsschrift: "Über Phosphatase"
1936 XII 7 Dozentur für physiolog. Chemie Probevorlesung (30. Sept. 1936): "Über den Blutfarbstoff"
1938 X 24 Ernennung zum planmäßigen ao. Professor für physiolog. Chemie
1961 V 8 o. Professor
1970, Frühjahr Ende d. Lehrtätigkeit
1971 VI. Bundesverdienstkreuz I. Klasse
Es gibt fast keine Informationen über K.s Abstammung und Familie. Sein Vater, ein deutscher Ingenieur, hatte durch Errichtung mehrerer Industriebauten im Ausland großes Ansehen gewonnen. In St. Petersburg leitete er eine große Eisengießerei. K.s Mutter entstammte einer großbürgerlichen Familie in St. Petersburg. K. besuchte das Realgymnasium der deutschen Gemeinde in St. Petersburg bis zur Obersecunda. Kurz nach dem Ausbruch des I. Weltkrieges wurde die Familie, wie damals fast alle in Russland lebenden Deutschen, nach Sibirien deportiert. Im Sommer 1918 gelang K. eine abenteuerliche Flucht nach Deutschland. Nach anderthalb Jahren Militärdienst kam er nach München, wo sein Onkel, der Theaterwissenschaftler Professor Artur K., wohnte (Später, im August 1932, begleitete K. als Dolmetscher dessen Studienreise mit 35 Personen nach Leningrad, Moskau, Charkow und Kiew).
Im November 1920 schrieb sich K. an der chemischen Abteilung der TH München als "Hörer" ein, unterbrach aber sein Studium "wegen Kriegsleiden", so er selbst, vielleicht aber auch, um mit seinen Eltern zusammenzutreffen. Diese waren inzwischen durch Vermittlung des Roten Kreuzes ausgetauscht worden und bei Neapel gelandet. Sein Vater leitete dort bis zum seinem Tod eine Maschinen- und Waggonfabrik. K. begann in Neapel Chemie zu studieren, wechselte dann aber wieder nach München. Nachdem er im Frühjahr 1923 die Reifeprüfung am Alten Realgymnasium als Privatschüler abgelegt hatte, konnte er sich als ordentlicher Student an der TH ab Sommersemester 1923 immatrikulieren. Im Frühjahr 1927 bestand er die Diplomhauptprüfung mit der Note "gut". Vom Sommersemester 1927 an arbeitete er beim bekannten Organiker und Biochemiker Hans Fischer, dem 1930 der Nobelpreis für seine Arbeiten über Pyrrolen verliehen wurde. Fischer schlug K. vor, eine Reihe neuer Pyrrolverbindungen zu synthetisieren, was K. erfolgreich gelang. Seine "mit außerordentlichem Fleiß und Gewissenhaftigkeit durchgeführte Arbeit", so Fischer, "förderte eine ganze Anzahl neuer Pyrrole zu Tage, lehrte ihr Verhalten kennen und bedeutet einen wichtigen pyrrolchemischen Beitrag". Im März 1929 wurde K. zum Dr. Ing. "mit Auszeichnung" promoviert.
H. Fischer, der selbst sowohl zum Dr. chem., wie auch zum Dr. med. promoviert
und mehrere Jahre "medizinische Chemie" doziert hatte, beeinflusste ohne
Zweifel den wissenschaftlichen Weg seines fleißigen Schülers. Denn kaum
promoviert, wandte sich K. dem Medizinstudium zu. Vielleicht trug aber auch
der damalige Einstellungsstopp in der Chemie zu diesem Entschluss bei.
K. ging nach Heidelberg und war dort zunächst als "Volontärassistent", später
dann als ordentlicher Assistent beim Physiologischen Institut tätig. Bereits nach
vier Jahren wurde er zum Dr. med. promoviert. Sein Heidelberger Lehrer war
der ao. Professor für physiologische Chemie Siegfried Edlbacher (s. dort), der
die Chemische Abteilung des Physiologischen Instituts leitete. Im Herbst 1932
ging Edlbacher nach Basel, K. wurde de facto sein Nachfolger und nach seiner Habilitation wurde die Chemische Abteilung unter seiner Leitung als
Physiologisch-Chemisches Institut verselbständigt. Der Lehrstuhl wurde erst
1960 eingerichtet. K. leitete beide Institutionen bis zu seiner Pensionierung.
K.s Einstellung gegenüber dem "Dritten Reich" war indifferent. Er folgte aber
den Spielregeln, so dass "keinerlei Bedenken politischer Art" vorlagen. 1937
wurde K. "Parteianwärter", damals Bedingung für eine Professur; Mitglied der
NSDAP wurde er aber nie. Tatsächlich war K. eher ein unpolitischer Mensch.
Nach dem Krieg wurde er aufgrund einer Untersuchung vom Oktober 1945 bis
Ende Februar 1946 "unbeschränkt wiederverwendet". In den schwierigen Nachkriegsjahren bemühte sich K. erfolgreich, Kontakte mit chemischen Firmen herzustellen, um die nötigsten Reagenzien für sein Laboratorium zu erhalten.
K. publizierte, teilweise allein, teilweise mit seinen Mitarbeitern, knapp 60
Aufsätze, wobei die eher unzulänglichen Räume des Physiologischen Instituts
aber immer wieder hinderlich wirkten. Seine Arbeiten befassen sich mit dem Grenzgebiet zwischen organischer Chemie und Physiologie und betreffen vor
allem die Biologie und Physiologie der Fermente, sowie den
Intermediarstoffwechsel der Kohlenhydrate. Von besonderer Bedeutung war die im Jahr 1935 erfolgte Entdeckung der Prostata-Phosphatase, des Ferments, das sich
später als diagnostisch wichtiger Tumormarker bei Prostatakrebs erweisen
sollte: Die quantitative Bestimmung der Prostata-Phosphatase im Blutserum
war die erste praktisch verwendbare Methode für die Diagnostik und Therapie-
Kontrolle einer bösartigen Geschwulst. Diese grundlegenden Arbeiten wurden jahrzehntelang in der Fachliteratur zitiert und erst unlängst durch die Entwicklung neuer immunologischer Tests in den Hintergrund gedrängt.
In den letzten Jahren seiner Tätigkeit widmete sich K. Untersuchungen über krebserregende Bestandteile in der Luft und wurde deswegen auch in die
Kommission zur "Reinhaltung der Luft" berufen. Außerdem prüfte er Lebensmittelzusätze auf ihre Verträglichkeit und warnte beispielsweise immer
wieder vor den gesundheitsgefährdenden Folgen, die der Einsatz von
Polyphosphaten bei der Herstellung von Wurst- und Fleischwaren bringen kann.
Kennzeichen seiner literarischen Tätigkeit war auch, dass K. die russische und italienische Sprache ebenso beherrschte wie die deutsche, so referierte er
mehrfach russische Arbeiten zur physiologischen Chemie für das "Chemische Zentralblatt".
Seine reichen Kenntnisse hat K. erfolgreich bei der Ausbildung von Studenten
weit über das übliche Pensionsalter hinaus eingesetzt, zuletzt als Vertreter
seines Lehrstuhls. K., ab 1949 auch Vorsitzender der
Studentenstipendienkommission für die Fakultät und zuletzt für die gesamte
Universität, war ein außerordentlich beliebter Professor, und Immer wieder
wurde nicht nur die Klarheit seines didaktisch vorbildlichen Vortrags sondern
vor allem die überaus menschliche Art hervorgehoben, mit der er Mitarbeitern
und Studenten begegnete.
K. lässt sich mit seinen eigenen Worten über Edlbacher charakterisieren: "Er
war ein ausgezeichneter Lehrer und ein anregender und fruchtbarer Forscher"
Q HistA d. TU München, PromAkten K.; StA Heidelberg, Auskünfte; UA Heidelberg, Studentenakten 1930-1940; Personalakte 1042, 2829 u. 4740,
H-III 862/64, Rep. 35-8; Rep. 36-5; Rep. 40-289; UB Heidelberg Hs 3824; Informationen von Frau Ursula K.-Diemer.
W (Auswahl) Harnphosphatase (Drei Mitteilungen), in: Naturwissenschaften 23, 1935, 558-559; Zs. für physiolog. Chemie 235, 1935, 62-73, 238, 1936, 275-279; Prostataphosphatase (Drei Mitteilungen) ebd. 236, 1935, 237-240, 239, 1936, 109-126, 255, 1938, 169-189; Über Nucleinsäurespaltung im Gewebe maligner Tumore, in: Zs. für Krebsforschung 56, 1949, 253-257; Edlbacher, Siegfried, NDB 4, 1959, 314; Über die kondensierten Phosphate (Polyphosphate), in: Dt. Lebensmittel-Rundschau 57,1961, 140-144; Formen u. Gesetze des Stoffwechsels, in: Universitas 21, 1966, 121-129; (mit R. Tomingas) Untersuchung von Rußen u. Luftstäuben in Mannheimer Raum, in: Staub. Reinhaltung d. Luft 26, 1966, 230-235; (mit R. Tomingas u. H. P. Weisfeld) Untersuchungen über die Schädlichkeit von Rußen u. Luftstäuben unter bes. Berücksichtigung ihrer kanzerogenen Wirkung, in: Archiv für Hygiene u. Bakteriologie 151, 1967, 646-668, 152, 1968, 260-264 u. 285-288; Über Vorkommen von Benzpyren im Ruß d. Luft, in: Schutz unseres Lebensraumes, hg. v. H. Leibundgut, 1971, 297-311.
L Poggendorfs Biogr.-literar. Handwörterbuch Bd. 7a, T. 2, 1958, 975; Heidelberger Tageblatt vom 15.9.1958 u. vom 14/15.9.1968 (mit B); RNZ vom 16.9.1958 (mit B) u. vom 14.9.1963; Ruperto Carola 31. Jg., 1979, H. 62/63, 102f..
B UA Heidelberg; Heidelberger Tageblatt u. RNZ (vgl. L)