Kuhn, Richard, Chemiker, Biochemiker, Nobelpreisträger

 

* 3.12.1900, Wien, rk., + 31.7.1967, Heidelberg

Chemiker, Biochemiker, Nobelpreisträger

 

V Richard Clemens (1860-1935), Wasserbauingenieur, Vorstand d. Seebehörde in Triest.

M Angelika, geb. Rodler (1863-1945), Volksschullehrerin.

G Angelika (*1899), Malerin.

oo 18.12.1928 (Zürich), Daisy, geb. Hartmann (1907-1967).

K 6; Daisy Angelika (*1930), Richard Peter (*1932), Hans-Jürg (*1934), Heidi Julie, verh. Kaempfer (*1937), Elfriede Helene, verh. Schindler (*1939), Linda Birgitta (*1943). 

 

1910-1917           Besuch des Döblinger humanist. Gymnasiums Wien

1918 I. - X.            Militärdienst

1918-1922           Chemiestudium in Wien (2 Sem.) u. München (6 Sem.)

1922 XI. 22         Promotion summa cum laude an der Univ. München, Diss:  "Zur Spezialität von Enzymen im Kohlenhydratstoffwechsel" 

1925 III. 5         Privatdozent ebd.; Habilitationsschrift: "Der Wirkungsmechanismus d. Amylasen; ein Beitrag zum Koordinationsproblem d. Stärke"

1926 X. 1           o. Prof. für allgem. und analyt. Chemie an d. ETH Zürich;  Antrittsvorlesung: "Die Chemie d. Gegenwart u. die Biologie d. Zukunft" (18.6.1927)

1929 IV. 1          Direktor des chemi. Instituts des Kaiser-Wilhelm-Instituts  für medizinische Forschung, Heidelberg

1929 X. 1           Honorarprofessor an d. Naturwiss.-Math. Fakultät d. Univ. Heidelberg

1938 XI. 9          Nobelpreis des Jahres 1938 für Chemie für die Arbeiten über Carotinoide u. Vitamine

1945 X 31-1946 VII1 Dienstentlassung durch die Militärregierung

1950 VI. 10         o. Prof. für Biochemie an d. med. Fakultät d. Univ. Heidelberg

1955-1967           Vizepräsident d. Max-Planck-Gesellschaft

1958                    Verleihung des Ordens Pour le Mérite d. Friedensklasse

1964-1965           Präsident d. Gesellschaft Dt. Chemiker

 

Die außergewöhnlichen Fähigkeiten des zukünftigen Klassikers der Biochemie erkannten die Eltern bereits früh. Deswegen erteilte ihm seine Mutter, eine Lehrerin, den ganzen Volksschulunterricht zu Hause. Nur einmal pro Jahr legte K. eine Prüfung ab. Seine reguläre, glückliche und ausgefüllte Schulzeit begann K. mit 9 Jahren: Die Klasse bestand aus sehr begabten Schülern, sein bester Klassenfreund war der spätere Physiknobelpreisträger W. Pauli, mit dem K. lebenslang eng verbunden blieb.

Der vielseitig begabte Junge dachte zuerst über eine Karriere als Künstler bzw. Schauspieler nach - so spielte er als Geiger bei den Wiener Philharmonikern mit - schließlich gewann aber das Interesse für die Naturwissenschaften die Oberhand, wahrscheinlich unter dem Einfluss eines Freundes der Familie, des Professors für medizinische Chemie an der Univ. Wien, Ernst Ludwig. Der damals 13jährige durfte die Demonstrationsversuche mit ihm vorbereiten und studierte interessiert das ihm von Ludwig geschenkte Lehrbuch der Chemie für Pharmazeuten.

Wegen des Krieges bekam K. seine Matura ohne jegliche Prüfungen, und schon am nächsten Tage begann sein Militärdienst, zunächst im Telegraphen-Regiment, später beim Ordnungsdienst. Kaum entlassen immatrikulierte er sich an der Univ. Wien. K.s Lehrer in Wien waren der Organiker W. Schlenk und der Physikochemiker R. Wescheider. Letzterem verdankte K., das Forschungsprinzip der physikalisch-chemischen Methoden im Bereich der organischen und der biologischen Chemie anzuwenden. Nach zwei Semestern mit ausgezeichnet bestandenen Zwischenprüfungen in Wien wechselte K. nach München, die damalige Metropole der organischen Chemie in Deutschland. Dort fand er den hervorragenden R. Willstätter, dem 1915 der Nobelpreis für seine Forschungen über Chlorophyll verliehen worden war. Bereits nach sechs Semestern konnte K. mit seiner Doktorarbeit anfangen und wurde genau vier Jahre nach der Immatrikulation in Wien mit der besten Note promoviert.

Willstätters Vorschlag folgend blieb K. und vollendete seine Habilitationsarbeit. Gleichzeitig betreute er Doktoranden. K.s Habilitation war "ein glänzendes akademisches Ereignis..., das seine Eltern in meinem Hause mit mir feierten", so Willstätter. Danach arbeitete K. in München nur eineinhalb Jahr: 1926 erhielt Willstätter einen Ruf nach Zürich, den er ablehnte, benannte aber K. und konnte gegen einige Widerstände dessen Ernennung auch durchsetzen.

In Zürich bearbeitete K. zwei Grundprobleme der theoretischen organischen Chemie: Räumliche Anordnung organischer Moleküle und Zusammenhänge zwischen Konstitution und Farbe organischer Substanzen. Es gelang ihm insbesondere, eine Reihe der sog. Polyene zu synthetisieren. Zu seinen Zürcher Studenten gehörte auch Daisy Hartmann, die seine treue Ehefrau wurde..

1927 begann durch Initiative von L. von Krehl die Errichtung eines "Kaiser-Wilhem-Instituts für medizinische Forschung" in Heidelberg. K. wurde zum Direktor der chemischen Abteilung gewählt. Er nahm den Ruf an und beteiligte sich noch bei der Planung und Einrichtung seines zukünftigen Instituts.

Der Wechsel nach Heidelberg bedeutete gleichzeitig die Verschiebung des Schwerpunkts seiner Forschungen zur Biochemie. Seine Arbeiten über Polyene bildeten eine logische Brücke zur Chemie der natürlichen Farbstoffe, da K. erkannt hatte, dass diese auch Polyene sind. Insbesondere erforschte er sog. Carotinoide. Der entscheidende Schritt für die Reindarstellung dieser Stoffe, zuerst a- und b-Carotin, war 1931 die Anwendung und Ausbildung chromatographischer Trennverfahren, der "fraktionierten Adsorption an Faser-Tonerde", 1931. Dies bedeutete die Neugeburt der Adsorptionchromatographie in der Naturwissenschaft. Anschließend konnte K. die chemische Natur von Vitamin A und Vitamin D erklären. Eine weitere Höchstleistung stellte die Isolierung, Strukturerklärung und die Synthese des Vitamins B2; er gewann etwa 1g des reinen Stoffes aus 53000 Liters Molke!Grundlegend war auch die neu entdeckte Beziehung zwischen Vitamin B2 und Atmungsferment. Später konnte K. auch weitere Vitamine, u. a. B6, und Fermente entdecken und ihre Struktur erklären. Insgesamt wurden ca. 300 natürliche Farbstoffe durch K. und seine Mitarbeiter synthetisiert.

Mit Beginn des "Dritten Reichs" änderte sich K.s Arbeit zunächst kaum, war er doch national, nicht aber nationalsozialistisch gesinnt. Er empfand eine große Liebe zu Deutschland und begrüßte den Anschluss Österreichs als Vereinigung der beiden deutschsprachigen Völker, wurde aber nie Mitglied der NSDAP. Es gelang ihm also, den Schein zu wahren. Die Politik holte ihn aber ein. So musste er seinen Briefwechsel mit Willstätter nach dessen Flucht in die Schweiz beenden und den Nobelpreis ablehnen. Es war typisch, dass er sich keine Enttäuschung anmerken ließ; nach Kriegsende teilte er dem Nobelkomitee den wahren Sachverhalt mit, so dass ihm die Medaille und das Diplom - aber keine Geldprämie - 1949 überreicht wurden. Als Entschädigung gleichsam war K mit hohen Inlandspreisen ausgezeichnet worden, z. B. dem Copernicus-Preis der Univ. Königsberg 1940 und dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 1942. K. bekleidete auch einige herausragende Stellungen, war ab 1937, nach dem Tode des ersten Direktors L. von Krehl, Leiter des Instituts für medizinische Forschung, ab 1938 Präsident der Deutschen Chemischen Gesellschaft und Leiter des Bereichs Organische Chemie im 1939 begründeten Reichsforschungsrat. K. benutzte seine einflussreichen Positionen, um hinter den Kulissen wirkend, möglichst viele seiner Mitarbeiter vom Militärdienst zu befreien. Gute Begründungen fehlten ihm nie, weil sein Institut ständig "kriegswichtige Forschungen" ausführte, teilweise im Kontakt mit IG Farben, Ludwigshafen. (Bis zum Lebensende blieb K. Im Aufsichtsrat der BASF).  Damals beschäftigte sich K.  u. a. mit Nervenkampfstoffen und konnte sog. "Soman" synthetisieren. Gleichzeitig trat er entschieden gegen die Tendenz auf, chemische Kampfstoffe im Krieg anzuwenden, worin er einen "Selbstmord für die Nation" sah.

Insgesamt kostete ihn die Loyalität gegenüber den Regime viel Seelenkraft - er älterte sichtbar binnen weniger Jahre, - und auch nach dem Krieg, als ihm abermals Vorwürfe from Ausland gemacht wurden. Seine wahre Einstellung war: "Die Wissenschaft kennt keine politischen Grenzen; sie rekrutiert ihre führenden Kräfte aus allen Ländern und Rassen" - die Worte, die er insbesondere als Epigraph zu seinem glänzenden Essay über Willstätter benutzte.

Unter diesem Motto bemühte sich K. auch, die internationalen Beziehungen der Wissenschaft zu Deutschland nach dem Zusammenbruch wieder aufzubauen. 1949 erhielt er einen verlockenden Ruf der Universität Philadelphia, wo ihn viel bessere Arbeitsbedingungen erwarteten. Seine ältere Tochter Daisy, selbst Wissenschaftlerin, übersiedelte dorthin, und 1951 unterschrieb K. sogar den Vertrag mit dieser Universität. Letztendlich blieb er dann doch in Heidelberg und ging nur für ein Jahr als Gastprofessor nach Philadelphia.

Zahlreiche Reisen zu Gastvorträgen führten ihn in fast alle Teile der Welt, in die USA, nach Brasilien, Japan, Indien und in die Sowjetunion. Das verdeutlicht seine internationale Anerkennung. Neue Erkenntnisse aus diesen Reisen brachte K. dann in die deutsche Fachliteratur ein, so die Herausgabe einer Übersetzung der fundamentalen "Organischen Chemie" von L. F. und M. Fieser.

Die 1950er Jahre, die zweite Periode größter schöpferischer Aktivität in K.s Leben, waren durch die Untersuchungen über Resistenzfaktoren und die damit zusammenhängenden Forschungen über Oligosaccharide der Milch und Gangliosiden des Gehirns gekennzeichnet. Leider war es ihm aber nicht vergönnt, diese drei Richtungen zu vereinigen, was er gehofft hatte. Im Herbst 1965 erfuhr K., dass er unheilbar an Speiseröhrenkrebs erkrankt sei. Mit seltener Gefasstheit und Disziplin ertrug er die Konsequenzen; im Frühjahr 1967 stellte er bei der Max-Planck-Gesellschaft den Antrag auf Berufung eines Co-Direktors für sein Institut. An dieser Sitzung gab K., "temperamentvoll und konzentriert, so wie wir das in besten Tagen von ihm gewohnt waren",- so ein Zeuge, einen Überblick über den Zustand des Instituts und diskutierte weiter Arbeitspläne und schwebende Probleme. Er selbst arbeitete fast bis zu seinem letzten Tag weiter.

Umfang und Vielseitigkeit von K.s wissenschaftlichem Werk sind erstaunlich; es schließt mehr als 700 Publikationen ein, was nicht zuletzt daher rührt, dass K. begeisterte Mitarbeiter zu gewinnen wusste: insgesamt mehr als 150! K.s Genialität ergab sich aus der Vereinigung unterschiedlicher Fähigkeiten: Ein phänomenales Gedächtnis (er behielt auswendig, was er je gelesen hatte) , eine ungeheuer rasche Auffassungsgabe; starkes Konzentrationsvermögen; mächtige räumliche Vorstellungskraft, was für Forschungen in der Welt der komplexen Moleküle wichtig war, kombinatorische Phantasie, mit der er weit auseinander liegende Gedankengänge zu verbinden vermochte. Dazu kamen eine unverwüstliche Arbeitskraft, enorme Präzision und Disziplin in seinem Arbeiten verbunden mit großer Zähigkeit in der Verfolgung angestrebter Ziele.

Eine weitere bedeutende Seite von K.s Erbe stellen seine zahlreichen Vorträge und Artikel allgemeineren Inhalts dar. Er dachte viel über die Geschichte der Naturwissenschaft und Besonderheiten ihrer Entwicklung, über Probleme der Organisation der Forschung und über die Hochschulbildung der jungen Generation nach. Insbesondere suchte er nach Gegengewichten zur "zunehmenden Verästelung des Wissens".

Obwohl "ein großer Schweiger" und immer äußerst zurückhaltend war K. auch in späteren Jahren eine ungewöhnlich fröhliche Natur. Immer war er ein guter Sportler, zu Hause hatte er einen Zoo mit Affe, Alligator, Dachs und exotischen Vogeln. Er konnte auch als unvergleichlicher Erzähler brillieren.

Angesichts der "elektronisch gesteuerten Zukunft, die in manchen Ecken und Enden schon begonnen hat" war er überzeugt: "Gedanken versiegen, Gesetze erstarren und Ideale verblassen; schöpferisch - auch im Zeitalter der Computers - bleibt nur der Mensch".

Q UA Heidelberg Personalakte 1040 u. 4717; Rep. 14, Nr. 20, 51, 569, 591, 734, 736; A d. Akad. d. Wiss. Heidelberg 115-K; UnternehmensA BASF W1, R. K.; StA Heidelberg Auskünfte.

W  Wirkungsmechanismus d. Amylasen. Beitrag zu Konfigarutionsproblem d. Stärke (Habilitationsschrift), 1925; Physikalische Chemie u. Kinetik [d. Enzyme], In: Karl Oppenheimer, Die Fermente u. ihre Wirkungen, Bd. I, 1925, 92-384; (mit E. Lederer) Zerlegung des Carotins in seine Komponenten (Über das Vitamin des Wachstums, I. Mitteilung), Berr. d. Dt. Chem. Ges. 64B, 1931, 1349-1357; Molekulare Asymmetrie, In: K. Freudenberg (Hg.) Stereochemie, 1933, 803-824; Lactoflavin (Vitamin B2), Zs. für Angew. Chemie 49, 1936, 6-10; Über die Synthese höherer Polyene, ebd. 50, 1937, 703-708; Vitamine u. Arzneimittel, ebd. 55, 1942, 1-6; Richard Willstätter (1872-1942), Naturwissenschaften 36, 1949, 1-5; Vom Lehren u. Lernen an unseren Hochschulen, Chemiker-Zeitung 80, 1956, 807-812; Biochemie d. Rezeptoren u. Resistenzfaktoren: Von d. Widerstandsfähigkeit d. Lebewesen gegen Einwirkungen d. Umwelt, Naturwissenschaften 46, 1959, 43-50; Von chemischer Forschung an Instituten d. Kaiser-Wilhelm-Ges./Max-Planck-Ges., ebd. 49, 1962, 1-6; Fragen d. Normung im Bereich d. Wissenschaft, Verband d. Chem. Industrie, Sonderbeilage zu den Verbands-Mitteilungen, Nov. 1962, 1-5; Der Arzneischatz d. Gegenwart u. die pharmazeut. Chemie d. Zukunft, Mitt. aus d. Max-Planck-Ges. H. 6, 1965, 366-387. 

L Poggendorfs Biogr.-literar. Handwörterbuch, Bd. VI, 1428-1429; Bd. VIIa, T. 2, 958-962 (mit Bibliographie); NDB 13, 1982, 266-268; O. Westphal, R. K. zum Gedächtnis, Angewandte Chemie 80, 1968, 501-519; W. Grassmann, R. K. +, Jahrb. d. Bayer. Akad. d. Wiss., 1969, 231-253; G. Quadbeck, R. K., In: Semper Apertus, Bd. III, 1985, 55-72; ute Deichmann, Flüchten, Mitmachen, Vergessen: Chemiker u. Biochemiker in d. NS-Zeit, 2001 (s. Namenregister); Florian Schmaltz, Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus, 2005(s. Namenregister); David States, http://sun0.mpimf-heidelberg.mpg.de/History/Kuhn