Horstmann, August Friedrich, Chemiker.
*21.11.1842 Mannheim, ev. +8.10.1929, Heidelberg
Publiziert in den "Badischen Biographien, Neue Folge", Bd. IV (1996), S. 145-147.
Hier erscheint mit wenigen Korrekturen und Zusätzen.
V Georg Friedrich H. (1805-1876), Kaufmann in Mannheim;
M Charlotte Friedericke, geb. Köhler (187-1893);
G Christine Josefine, verh. Mohr (1845-1929); Friedrich Wilhelm Otto H. (1847-1893); Carl Gustav Martin H. (1850-1915);
oo 5.4.1873 in Mannheim Clothilde Gernandt (1844-1921)
K Georg Michael Bernhard H. (1874-1920); Max Carl H. (1875-1937); Charlotte Elisabeth H. (1877-1959); Hans H. (1882-1882); Erich Otto H. (1884-1920).
1853 X - 1856 XII Schüler des Lyzeums Mannheim
1857 -1859 Lehre in d. Höheren Bürgerschule ebd.
1859 Herbst-1862 Herbst Kaufmännische Lehre bei Horstmann&Köhler,
Mannheim
1862 X Immatrikulation Univ. Heidelberg
1865 I Promotion zum Dr. phil. ebd.
Sommer 1865 Studium der Thermodynamik bei R. Clausius in
Zürich
1865 Herbst-1867 Sommer Experimentalstudien bei H. Landolt in Bonn
1866 XI Mitglied des Naturhistorisch-medizinischen
Vereins zu Heidelberg
1867 XI Habilitation als Privatdozent in der Chemie, Univ.
Heidelberg
1868 II Auswärtiges Mitglied der Dt. Chemischen
Gesellschaft zu Berlin
1872 II a.o. Prof. an der Univ. Heidelberg
1873 "Theorie der Dissociation", Schaffen der
Grundlagen der chemischen Thermodynamik
1875-1879 Experimentalarbeiten für die Bestätigung des
Massenwirkungsgesetzes
1881-1894 Referent der "Berichte der Dt. Chemischen
Gesellschaft"
1889 XI 14 Honorar-Professor in Heidelberg
1893 III 20 Ritterkreuz 1. Klasse des Ordens des Zähringer
Löwen
1899 Ende der Vorlesungen
1908 II o. Honorar-Professor
1910 IX Titel Geheimer Hofrat
1912 Ehrenmitglied: Dt. Bunsengesellschaft;
Naturhist.-Med. Verein zu Heidelberg; Dt.
Chemische Gesellschaft
1922 XI Dr-Ing. e. h. der Chemie, TH Karsruhe
H. wurde in der Nacht zum Montag, dem 21. November 1842 geboren. Da seine Mutter ihrem Erstling das Glück des Sonntagskindes hold sein lassen wollte, wurde der Geburtstag auf den 20. November gelegt. Dieses Datum wird überall genannt, mit Ausnahme der Mannheimer Kirchenbücher.
Kindheit und Schuljahre verbrachte A.F. Horstmann in Mannheim. Schon früh traten seine Neigungen zu den Naturwissenschaften in Erscheinung. Dafür bildete seines Vaters Geschäft, ein Materialienhandel, einen guten Nährboden. So verließ er das Lyceum und wechselte in die Höhere Bürgerschule. Dr. Heinrich Schröder, Direktor und Professor der Chemie und der Physik hat stark H.s Fortbildung beeinflußt.
Nach 7 Klassen endete seine Schulzeit ohne Abschlußzeugnis, weil ein Industrie- bzw. Wirtschaftsberuf wegen seiner Kurzsichtigkeit für kaum möglich gehalten wurde. Also trat er als Lehrling in die väterliche Firma ein, doch seine Augen erwiesen sich, nach drei Jahren, auch hier als Hindernis, und die Idee, Kaufmann zu werden, mußte fallengelassen werden. Erst nach dem Scheitern dieser Laufbahn entstand der Gedanke, Naturwissenschaften in Heidelberg zu studieren.
Dank des Dreigestirns - H. Helmholtz, R. Bunsen, G. Kirchhoff - hat H. seine allgemeine wissenschaftliche Vorbereitung erhalten. Sein eigentlicher Lehrer wurde aber E. Erlenmeyer.
Nach seinem Doktorexamen musste H. seinen eigenen wissenschaftlichen Weg finden; er studierte Mathematik, las aktuelle chemische und physikalische Artikel und besuchte Helmholtz's Vorlesungen über Fortschritte in den Naturwissenschaften. Dann zog die mechanische Wärmetheorie, hauptsächlich durch R. Clausius in Zürich herausgearbeitet, seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. H. war nach Zürich gekommen, wo er die neue Wissenschaft der Thermodynamik direkt vom Verfasser erfahren hatte.
Im Herbst 1865 siedelte H. nach Bonn um. Dank Erlenmeyers Empfehlung konnte er im Laboratorium H. Landolts seine erste Arbeit (über anomale Dichte der Dämpfe) ausführen. Diese Arbeit legte er seiner Alma mater in Heidelberg vor. Nach entsprechender Disputation und Probevorlesung wurde H. als Privat-Dozent der philosophischen Fakultät zugelassen. In seiner Eigenschaft als Dozent blieb er bis 1899. Seine Vorlesungen waren meistens drei Gebieten gewidmet : "Thermochemie mit Rücksicht auf die mechanische Wärmetheorie"; "Physikalisch-theoretischen Chemie" über die neuesten Entwicklungen der theoretischen Chemie (anfangs Dissoziation, später, seit 1890, physikalische Theorien der Lösungen); "Repertorium der Physik" (bis 1884), eine Übersicht unter dem Aspekt des Satzes der Erhaltung der Energie.
Viel interessanter für ihn, erfolgreicher und bedeutender war seine wissenschaftliche Tätigkeit. H.s Arbeitsfeld war von Anfang an ein breites Gebiet, das als "Chemische Mechanik" bezeichnet worden war. In seinem kleinen Privatlabor hat H. vier Reihen der physikalisch-chemischen Forschungen durchgeführt: Dichte der Dämpfe; die Dissoziation der Festkörper; die unvollkommene Verbrennung von Gasen (d. h. das Wassergasgleichgewicht); der Doppelaustausch zwischen Lösungen und Niederschlägen.
Am wichtigsten waren die theoretischen Grundlagen, die H. in Zusammenhang mit diesen Experimentalforschungen entwickelte. Dabei handelte es sich um das Entstehen einer neuen Disziplin, der chemischen Thermodynamik. Zuerst versuchte er die chemischen Gleichgewichte mit Hilfe der für Verdampfungserscheinungen entwickelten Clapeyron-Clausiusschen Gleichung zu beschreiben - für eine Klasse der chemischen Systeme erfolgreich -, aber erst 1873 gelang es ihm, die allgemeine Lösung zu finden. H. gestaltete den Clausiusschen Aphorismus - "Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu" - in ein grundlegendes wissenschaftliches Prinzip um, in dem Sinne, dass alle Veränderungen in einem geschlossenen System dann beendigt sind und der Gleichgewichtszustand dann eintritt, wenn die Entropie des Systems so groß geworden ist, wie es durch die in Betracht kommenden Veränderungen möglich ist. Weiter zeigte er, wie dieses Prinzip in der Chemie angewendet werden kann: Er leitete das Massenwirkungsgesetz thermodynamisch ab und bestätigte es später mit vielen eigenen Experimenten.
Gewiss ist H. ein Ehrenplatz in der Geschichte der Wissenschaft als Begründer der chemischen Thermodynamik bestimmt. Dennoch war die Thermodynamik für ihn kein Selbstzweck, sondern bloß ein Werkzeug zur Erkennung der chemischen Prozesse. Er dachte viel über Mechanismen chemischer Reaktionen nach, einen Begriff, den er in der Chemie als einer der ersten einführte. Seine interessantesten Leistungen in diesem Gebiet betreffen Katalyse, Reaktivität und Phasenbildung; insbesondere gab er die erste allgemeine Beschreibung der Beschleunigung eines Prozesses durch seine Produkte (Autokatalyse).
H. hatte für seine Experimentalarbeit insgesamt nur 10 bis 11 Jahre Zeit. Sein Sehvermögen verschlechterte sich ständig, und seit den achtziger Jahren sah er sich gezwungen, sich ausschließlich auf Schreibtischarbeit umzustellen. Die "Epoche der Schreibmaschine" begann mit der Arbeit über "Theoretische Chemie". Das Werk steht in der chemischen Weltliteratur als der letzte -und inhaltreichste -Versuch, alle theoretischen Probleme der gesamten Chemie in einem einzigen Buch zu behandeln. Aus derselben Zeit stammen auch einige Artikel, die der Verbreitung der neueren chemischen Theorien dienen sollten und etwa 1500 Referate, die er für "Die Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft" schrieb.
Leider ging H.s Arbeitsvermögen zu Ende. Seit Mitte der neunziger Jahre konnte er nicht mehr publizieren. Er hatte noch die Blindenschrift gelernt und bemühte sich, so vollwertig zu leben, wie es ihm irgend möglich war. Zu Weihnachten 1925 kam er mit den "Lebenserinnerungen eines Kurzsichtigen" zu Ende, die er mit seiner Schreibmaschine druckte. Es ist dies ein erstaunlich interessanter Text, der seinen lebendigen und klaren Geist, aber auch seine humorvolle Mentalität widerspiegelt.
Seine Tätigkeit dauerte etwa ein Viertel Jahrhundert und lag hauptsächlich in der Zeit, die dem Entstehen der physikalischen Chemie als selbständiger Wissenschaft unmittelbar vorausging. Das weist ihm seinen Platz in der Geschichte der physikalischen Chemie zu. Sein Werk bildet die Brücke, die als Bindeglied der Zeit zwischen "alter" und "neuer" physikalischer Chemie dient. Die epochemachende Verwandlung der alten theoretischen Chemie zur klassischen physikalischen Chemie nahm mit H.s Werk ihren Anfang.
Q StadtA Mannheim; UA Heidelberg; Dokumente im Familienbesitz.
W Über die Beziehungen zwischen dem Molekulargewicht und specifischen Gewicht elastisch-flüssigen Körper. Habilitationsschrift, Heidelberg, 1867; Dampfspannung u. Verdampfungswärme des Salmiaks, Ber. Dt. Chem. Ges., 1869, Bd. 2, S. 137-140; Zur Theorie d. Dissociation, ebd., 1871, Bd. 4, S. 635-639; Theorie d. Dissociation, Liebigs Ann. d. Chemie u. Pharmacie, 1873, Bd. 170, 192-210; Verbrennungs-Erscheinungen bei Gasen, Verhandl. des Naturhist.-med. Vereins zu Heidelberg,
N. F., 1 (1876), 177-189, 2, H. 1 (1877), 33-52, H. 3 (1878), 177-219; Zur Dissociationslehre, Ber. Dt Chem. Ges., 1876, Bd. 9, 749-758; Über ein Dissociationsproblem, Liebigs Ann. d. Chem. u. Pharmacie, 1877, Bd. 187, S. 48-63; Theoretische Chemie, Braunschweig, 1885; Über die Vergleichbarkeit flüssiger Verbindungen in Bezug auf ihr Volum bei Siedepunkten u. bei andern Temperaturen, Ber. Dt. Chem. Ges., 1886, Bd. 19, S. 1579-1595; Über die Theorie der Lösungen, Verhandl. des Naturhist.-med. Vereins zu Heidelberg, N. F. 4, H. 5 (1892), 587-617; Abhandlungen zur Thermodynamik chemischer Vorgänge, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 137, herausgegeben von J. H. van't Hoff, Leipzig, 1903.
L M. Trautz , A. F. H., Ber. Dt. Chem. Ges. 1930, Bd. 63A, S. 51-86; Deutsches Geschlechterbuch, Bd. 135 (1965); Grete Ronge, H., NDB, 9, 1972, S. 644-645;
A. Kipnis, A. H. (1842-1829). Eine große Übergangsfigur in der Geschichte der Physikalischen Chemie, in. Ges. Deutscher Chemiker, Fachgruppe Geschichte der Chemie, Mitteilungen, Nr. 11 (1995), S. 26-44; A. Kipnis, A. F. H. u. die physikalische Chemie, Berlin, 1997(mit Bibliographie u. Bildern).
B Zs. für physik. Chemie, 1899, Dez.; Ber. Dt. Chem. Ges., 1930, April; 2 Portätgemälde (ca. 1910) von H.s Tochter Charlotte und Photographien im Familienbesitz.