Wittig, Georg Friedrich Karl, Chemiker, Nobelpreisträger,
*16.06.1897, Berlin, ev., + 26.08.1987, Heidelberg


V Gustav Ewald Hermann W., Kunstmaler, Professor an d. Kunstgewerbeschule, Kassel (1867-1945);

M Martha Albertine, geb. Dombrowski (1874-1944);

G 3 Walter W. (1899-?), Olga Bertha (1902-?), Gustav Adolf W. (geb. 1905)
oo 21.04.1930 Waltraut Ernst (1900-1978)

K Erika, verh. Gesuato (geb.1933); Waltraut (1935-1958); Ursula (geb. 1937)

 

1907-1916                      Humanistisches Wilhelmsgymnasium in Kassel
1916 V - 1916 VII            Student in Tübingen
1916 VII - 1918 X            Kriegsteilnehmer
1918 X - 1919 XII            Kriegsgefangener
1920 I - 1923 IV              Student in Marburg
1923 IV 25                      Promotion zum Dr. phil. ebd. Diss.: "Untersuchungen über

                                       o-Oxydphenil u, über die Bildung von Diphenochinonen"
1923 V - 1932 VI            Assistent, ab 1930 Oberassistent ebd.
1926 II 10                        Habilitation ebd. H.schrift: "Zur Erschliessung d. Benzo-

                                       g-pyrone"

1932 IV                    a.o. Prof. ebd.
1932 VII -1937 X             a.o. Prof. u. Abteilungsleiter des Chemischen Institut d. TH

                                       Braunschweig
1937 XI 1 -1944 I            planmässiger a.o. Prof. f. organische Chemie an d. Univ.

                                       Freiburg
1944 II - 1956 IX             o. Prof. u. Institutsdirektor an d. Univ. Tübingen
1956 X 1 -1967 X           o. Prof. u. Institutsdirektor an d. Univ. Heidelberg
1957                               Ehrendoktor der Universität Sorbonne, Paris
1979                               Nobelpreis f. Chemie (zusammen mit H.C. Brown)


W. wurde in eine Künstlerfamilie geboren. Sein Vater stammte aus Glogau, Schlesien, studierte in Berlin und landete mit seiner Familie schließlich im Frühjahr 1902 in Kassel, wo er bis 1932 als Professor an der Kunstbewerbeschule tätig war. Der junge W. schwankte längere Zeit, ob er Maler oder Musiker werden sollte. Es existiert ein ausgezeichnetes Selbstportrait von 1912, als begabter und begeisterter Pianist spielte er täglich stundenlang. Ein Zufall, das Handbuch "Chemie im Haushalt", erweckte sein Interesse für die Chemie. Er begann leidenschaftlich zu experimentieren, die elterliche Küche dazu nutzend. Seine Versuche, so sein Bruder Gustav, gingen nicht ohne Überraschungen und Geruchsbelästigungen für die Familie aus. W. entschied, dass er für die Kunst nicht genug begabt sei, behielt sie aber als Hobby.

 

Nach dem humanistischen Gymnasium begann er sein Chemiestudium in Tübingen, musste aber bald unter die Fahne stehen. Er war offensichtlich ein guter Soldat, und wurde zum Leutnant befördert. 1918 geriet er in englische Gefangenschaft, blieb dort bis Herbst 1919. Als er zurückkehrte, kam W. an die Univ. Marburg, aber nur mit Mühe, mit dem Hinweis "Kriegsteilnehmer", erkämpfte er sich einen Laborplatz bei dem Organiker K. von Auwers. An den Wochenenden kehrte W. nach Kassel zurück, um mit Freunden zu wandern. Später folgte dem Wandern die noch stärkere Leidenschaft - das Bergsteigen. Im Alter verglich W. die wissenschaftliche Arbeit eben mit den Erlebnissen eines Bergsteigers.


Nach seiner Promotion, die 1923 folgte, bekam W. die Stelle eines Unterrichtsassistenten in der anorganischen Abteilung, setzte aber seine Arbeit in der organischen Chemie fort, obwohl er den Arbeitsplatz für die Habilitation mit anderen zu teilen und nachmittags den Schreibtisch auszuräumen hatte. W.'s erste Arbeiten betrafen Untersuchungen zur Synthese heterocyklischer Verbindungen und führten ihn in die Probleme der Stereochemie, die ihm nun stetigen Hintergrund bildeten. Nach der Habilitation las W. über "Heterocyklische Ringsysteme", über "Synthetische Methoden der organischen Chemie", aber auch eben über "Grundzüge der Stereochemie". Der Stereochemie widmete er später sein einziges Lehrbuch (1930).


In die Jahre in Marburg fallen zwei wichtige Ereignisse im Leben W.'s. Er hatte seine zukünftige Ehefrau kennengelernt, die 1926 ebenfalls über heterocyklische Verbindungen bei K. von Auwers promovierte. Während des ganzen Lebens stand sie an der Seite ihres Mannes auch professionell, einige literarische Arbeiten publizierten sie zusammen. Das andere Ereignis war die Freundschaft mit Karl Ziegler, der sein Partner im Bergsteigen wurde und das Gebiet der metallorganischen Verbindungen für W. eröffnete.


1932 folgte W. dem Ruf an die TH Braunschweig. Als a.o. Professor las er dort über "Chemie der aromatischen Verbindungen" und "Chemie der heterocyklischen Verbindungen". Seine Forschungsarbeiten schlossen damals stereochemische Probleme von behinderten Reaktionen und behinderten Drehungen ein. Vorwiegend untersuchte er aber Reaktionen der Mono- und Diradikale, insbesondere im Zusammenhang mit Autooxidationserscheinungen und deren Inhibition. Außerdem erweiterten sich seine Interessen auf metallorganische, besonders auf lithium-organische Verbindungen, da letztere als Schlüssel für Synthesen von Modellsubstanzen dienten, die er für seine Studien benötigte.


Nach 1933 sah sich W. nach einigen Jahren schweren politischen Drucks gezwungen, im Mai 1937 der NSDAP beizutreten. "Nur diese formelle Bindung an die Partei ermöglichte es mir, so erklärte er später, an der Hochschule für wissenschaftliche Leistung und weltanschauliche Duldsamkeit zu kämpfen". Die Umstände in Braunschweig blieben jedoch schwierig, deshalb nahm W. nach Freiburg Urlaub, wo die Atmosphäre nicht so stickig war und wo er unter H. Staudinger die Stelle eines planmäßigen a. o. Professors bekam. In Freiburg blieb W. bis Frühjahr 1944, wo er zum o. Professor und Institutsdirektor nach Tübingen berufen wurde. Er meldete sich in Freiburg beim Zellenleiter der NSDAP ab und unterließ die Anmeldung bei der Partei in Tübingen. Trotzdem wurde er im Herbst 1945 durch die französischen Besatzungsbehörde seines Amtes enthoben und nur dank energischer Unterstützung durch den Rektor und die Kollegen rehabilitiert. Die endgültige politische Entlastung durch die Spruchkammer folgte erst Juni 1949.

 

Trotz alle Schwierigkeiten der Kriegs- und Nachkriegszeiten waren die Jahre in Freiburg und in Tübingen besonders fruchtbar. Sein Hauptgebiet war damals die Entwicklung eines besonderen Zweiges der organischen Chemie, die W. "organische Anionochemie" nannte. (Heute bezeichnet man dieses Gebiet als "Chemie der Carbanionen"). Hier entdeckte W. einen überraschenden Halogen-Metall-Austausch, nämlich den von Lithium gegen Brom und danach gegen Jod und gegen Chlor bei der Wechselwirkung des Phenyllithiums mit aromatischen Halogenderivaten. (Gleichzeitig und unabhängig davon wurde eine gleiche Reaktion in den USA entdeckt). Diese Austauschreaktion wurde rasch zu einer wichtigen präparativen Methode.

 

Aus der organischen Anionochemie stammte auch die grundlegende Entdeckung von "Yliden", einer neuen Klasse der organischen Verbindungen (insbesondere der von Phosphor und Stickstoff), die gleichzeitig zwei verschiedene Typen der chemischen Bindung, homeopolare und ionische, besitzen. Auch der Terminus "Ylid" wurde durch W. vorgeschlagen. Mit den Yliden des Phosphors entdeckte W. 1953 seine berühmteste, nach ihm benannte Reaktion, nämlich die Olefinierung von Verbindungen, die eine CO-Gruppe enthalten wie Aldehyde, Ketone, Ketene usw.. Ein weiteres wichtiges Arbeitsgebiet bildeten neuartige metallorganische Komplex-Verbindungen, die W. "at-Komplexe" nannte. Unter diesen errang Tetraphenylbornatrium die weltweite Bedeutung als Reagenz (unter dem Handelsnamen Kalignost) zur quantitativen Bestimmung von Kalium- und Ammonium-Ionen.


1956 nannte K. Freudenberg (s. dort) W. als seinen einzigen passenden Nachfolger in Heidelberg. W. nahm den Ruf an. Er konnte das überreife Problem des Institutstrennung in ein "Organisch-chemisches" und ein "Anorganisch-chemisches" lösen und stand ab 1959 an der Spitze des ersteren. In Heidelberg kam für W. "die Zeit der Ernte", er entwickelte seine früheren Ideen und Ergebnisse mit zahlreichen Mitarbeitern. Er unternahm auch viele Vortragsreise.


W. erzog mehr als 300 Doktoren der Chemie. Bemerkenswert ist dabei der für die damalige Zeit ungewöhnlich hohe Anteil von Studentinnen, die unter W. promovierten. Mit Dankbarkeit erinnerten sich seine Schüler, daß W. immer mit jedem einzelnen ausführlich arbeitete und bereit war, auch bei außerwissenschaftlichen Problemen hilfreich zu sein. "W. regierte mit strenger Hand, er war jedoch stets auf Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit bedacht", so eine seiner Schülerinnen.


Die Besonderheit der ganzen chemischen Tätigkeit W.'s war, dass er sich außergewöhnlich klar die Moleküle im Raum vorstellte und daraus die möglichen Reaktionswege dieser Moleküle entwickelte, wobei er auch die Lehre über chemische Bindungen heranzog. W. formulierte eine ganze Reihe fruchtbarer strukturchemischer und reaktionsmechanistischer Konzepte. Er unterwarf seine Hypothesen über Reaktionsmechanismen der experimentellen Prüfung und konnte so entweder bestätigen oder weiter entwickeln. Seine außerordentliche Kunst, mit empfindlichen und instabilen Stoffen zu experimentieren und seine Fähigkeit, die feinsten Besonderheiten der Reaktion zu beobachten, lagen dieser Arbeitsweise zugrunde, in der etwas vom Stil des Künstlers steckte. Er war immer bereit, dem Anspruch des Neuen in seinen Versuchsergebnissen zu folgen. Diese Arbeitsweise läßt sich von seinen frühen bis zu den letzten Forschungen verfolgen.

 

Als unerwartetes Ergebnis einer solchen Überprüfung entstand insbesondere die erwähnte "Wittig-Reaktion". Als eine der wichtigsten Methoden der synthetischen organischen Chemie fand diese Reaktion bald ihre industriellen Anwendungen (allerdings ohne W.'s Teilnahme) insbesondere für die Herstellung des Vitamins A und vieler anderer Naturstoffe. Diese Leistung wurde mit dem Nobelpreis für die Entwicklung von Phosphorverbindungen "in wichtigen Reagenzien innerhalb organischer Synthesen" gekrönt. Es geschah aber zu spät; W. gab seinem Nobelvortrag den Titel "Von Diylen über Ylide zu meinem Idill". Unter dem "Idill" meinte er "den Abschluss meiner Forschertätigkeit als Emeritus, der es mir gestattete, frei von Verpflichtungen des Lehrers weiter als Chemiker zu arbeiten, um mich schließlich ganz den musischen Neigungen zu widmen".


Die Bedeutung und Vielfältigkeit des wissenschaftlichen Werkes W.'s machten ihn zum Klassiker der organischen Chemie.


Q StadtA Kassel (Auskunft; Kasseler Meldekartei); ATU Braunschweig (Auskunft); UA Freiburg (B133/206; B24/4165; B15/131); UA Tübingen (126a/534; 149/36; 149/38; 149/39); StadtA Heidelberg (ZGS2-246; Auskunft); UA Heidelberg (PA 1254, 3076; Rep. 14, Nr.308, 441, 797); A Akad. Wiss. Heidelberg (Personalakten Wittig).

 

W Über einfache Chromon- und Cumarin-Synthesen, Berr. d. Dt. Chem. Ges., 57, 1924, 88-95; Stereochemie, Akad. Verlag, Leipzig, 1930; (mit U. Pockels u. H. Dröge) Über die Austauschbarkeit von aromatisch gebundenen Wasserstoff gegen Lithium mittels Phenyl-lithiums, Berr. d. Dt. Chem. Ges., 71, 1938, 1903-1912, 72, 1939, 89-92; Synthesen mit lithiumorganischen Verbindungen, Angew. Chem. 53, 1940, 241-247; Phenyl-lithium, der Schlüssel zu einer neuen Chemie metallorganischer Verbindungen, Naturwissenschaften 30, 1942, 696-703; (mit G. Felletschin) Über Fluorenylide und die Stevonssche Umlagerung, Liebigs Ann. Chem. 555, 1944, 133-145; Alkalimetall-organische Verbindungen, In: Präparative organische Chemie (FIAT Review of German Science 1939-1946, Bd. 37), S. 2-12; Über metallorganische Komplexverbindungen, Angew. Chem. 62, 1950, 231-236; Über Ylide und Ylid-Reaktionen, ebd., 63, 1951, 15-18; (mit P. Davis u. G. Koenig) Phenantrensynthesen über intraionische Isomerisationen, Chem. Berr. 84, 1951, 627-632; (mit G. Geissler) Zur Reaktionsweise der Pentaphenyl-phosphors und einiger Derivate, Liebigs Ann. Chem. 580, 1953, 44-57; Fortschritte auf dem Gebiet der organischen Aniono-Chemie, Angew. Chemie, 66, 1954, 10-17; (mit L. Pohmer) Über das intermediäre Auftreten von Dehydrobenzol, Chem. Berr. 89, 1956, 1334-1351; Komplexbildung und Reaktivität in der metallorganischen Chemie, Angew. Chem. 70, 1958, 65-71; Old and new in the field of direkted aldol condensations, Topics in Current Chemistry 67, 1976, 1-14; (mit U. Schch-Grübler) Kombination von Carbonyl-Olefinierungsreaktion und gezielter Aldolkondensation, Liebigs Ann. Chem., 1978, 362-375; Von Diyliden über Ylide zu meinem Idyll (Nobelvortrag), Les Prix Nobel en 1979, S. 157-167.

 

L R. E. Oesper, G. W., Journal of Chemical Education, 31, 1954, 387-388; H. Plieninger, G.W. 80 Jahre, Ruperto Carola, 29, H. 60, 1978, S. 106-107; D. Hellwinkel, Persönlichkeit und wissenschaftliches Werk des Nobelpreisträgers G. W., ebd., 33, H. 65-66, 1981, S. 88-90; R. Huisgen, G. W.+, Jb. d. Bayer. Akad. d. Wiss., 1987, S.275-278 (B); J. J. Eisch, G. W.: A life of chemical fantasy become reality, J. Organometallic Chemistry, 356, 1988, 271-283 (B).

 

B s. L, Alma mater philippina, SS 1965, S. 3; Ärzteblatt Rheinland-Pfalz, 37, 1984, 695-697; Hessische Allgemeine, 1979, 18. Okt.; UA Heidelberg