Schlack, Paul Theodor, Polymerchemiker


* 22. Dez. 1897, Stuttgart, ev., +19. August 1987, Stetten (Leinfelden-Echterdingen).
V Theodor Gottlieb von Schlack (1859-1921) Direktor beim Landesfinanzamt Stuttgart
M Johanna, geb. Herzog (+1942)
G sechs jüngere Brüder und Schwester
oo I 1924, 22. Dez. Sigrid Elisabeth Nielsen (1904-1970);
ooII 1972 Lilly Wendt
K Niels Jürgen (geb. 1925), Anneliese, verh. Lange (geb. 1927)

1915 VI                          Abitur am humanistischen Eberhard-Ludwigs-  

                                       Gymnasium Stuttgart.
1915 X                           Beginn des Chemiestudiums an der TH Stuttgart
1916 III 16 -1919 I 9     Militärdienst (Württ. FAR 65 und Württ. Flakzug 64)
1919 I - 1921 VII          Chemiestudium an der TH Stuttgart;
1921 VII 25                   Diplomexamen
1921 IX - 1922 X         Assistent an einem wissenschaftlichen Privatlabor
                                      in Kopenhagen
1922 XI - 1924 I          Assistent an der TH Stuttgart
1924 II 1                       Dienstbeginn bei der Kunstseidenfabrik der Agfa in Wolfen
1926 X 1                      Leiter der Laboratorien und des Versuchsbetriebs der   

                                     Acetakunstseidenfabrik (AcetaGmbH) der IG Farbenidustrie in Berlin-

                                     Lichtenberg
1935 XI - 1936 IV       Dienstreise in die USA
1938 I                          Entdeckung der Caprolactampolymerisation; Erfindung des Polyamid-6 (Perlon)
1945 III 5                     Promotion mit der Dissertation "Über lineare Polyamide mit 

                                    Disulfidgruppen"  an der Univ. Jena
1945 IV 12                 Flucht aus Berlin
1946 III 12                  Fabrikleiter in der Kunstfaserfabrik der IG Farben (ab 1952 Hoechst) in 

                                   Bobingen
1955 VIII 1                Abteilungsdirektor für Faserforschung bei Hoechst AG in Frankfurt/M
1961 IX 22               Honorarprofessor des Instituts für Textilchemie an der TH Stuttgart
1963                        Ehrenmitglied des Britischen Textilinstituts
1968 XI 26              Verleihung des Großen Verdienstkreuzes BRD


S. entstammte einer vielköpfigen Beamtenfamilie. Schon als Kind fiel er durch Einfallsreichtum und besondere Lebhaftigkeit auf. Er kam früher als üblich in die Schule, sein Abitur machte er mit 17½ Jahren. Die Noten seines Reifezeugnisses sprachen für seine Neigung zu den Naturwissenschaften: Er erhielt "gut" nur in Mathematik, Naturgeschichte und Erdkunde (in allen anderen Fächern - "befriedigend"). Sein Hobby, Photographie, das S. "als Primaner fast wissenschaftlich betrieb", erweckte sein Interesse an der Chemie. Das Vorstellungsgespräch vor dem Chemieprofessor W. Küster, "bei dem schon ein Funke übergesprungen war", entschied seine Wahl: S. immatrikulierte sich für das Chemiestudium an der TH Stuttgart. Nach dem ersten Semester wurde er aber als Soldat einberufen. S. erfüllte seinen Kriegsdienst in Frankreich, meistens als Flaksoldat. 1917 wurde er schwer verwundet, überlebte aber und bewahrte seine starke Energie.
Erst ab 1919 konnte S. sein Studium fortsetzen. "Vater Küster", ein sehr bedeutender Organiker und Biochemiker, "begeisternder Lehrer und begnadeter Forscher" (so S. in seinem unveröffentlichten Vortrag "Leben und Wirken von William Küster", 1960) prägte ihm die höchsten Standards wissenschaftlichen Arbeitens ein. Bereits im Mai 1920 bestand S. die Vorprüfung und im Juli 1921 die Hauptprüfung, beide mit Auszeichnung. Durch Vermittlung Küsters ging S. nach Kopenhagen, wo er sich als Assistent am Privatlabor von N. Troensegaard mit der Chemie der Proteine und Polypeptide beschäftigte. Die 13 Monate in Kopenhagen waren für das weitere Leben S.s äußerst bedeutend. Einerseits erwarb er tiefe Kenntnisse im Gebiet von Eiweißchemie, was für S.s spätere Arbeitsrichtung grundlegend war. Andrerseits lernte S. seine zukünftige Ehefrau, Tochter des Fabrikdirektors in Frederiksberg, kennen.
S. sah aber bald, dass die Hypothesen, die sein Chef entwickelte, keine gute Begründung hatten. So kehrte er zu Küster zurück. Als Privatassistent Küsters wirkte S. zwei Jahre. Er erreichte einige interessante Resultate in der Chemie der Peptide. Nur eines davon wurde damals publiziert, nämlich ein wichtiges Verfahren, das als "Thiohydantoinabbau" bekannt wurde.
Da S. damals eine Familie zu gründen vorhatte, beschloss er, in die Industrie zu gehen. Küster schlug ihn für ein von Hoechst gestiftetes Stipendium vor "als den befähigsten von allen meinen Doktoranden". Wegen der damaligen französischen Okkupation des Gebietes scheiterte dieser Plan, und Anfang 1924 beginnt S. beim eben gegründeten AGFA Werk in Wolfen. Er wollte über Photochemie arbeiten. Zu seiner Enttäuschung wurde er jedoch mit der Faserforschung betraut: Man übertrug ihm die Entwicklung von Verfahren zur Herstellung von Acetatkunstseide aus Acetylzellulose.
Bald fand S. Interesse daran und auch seine Chance in diesem Arbeitsfeld.
Seine Aufgaben waren mehr verfahrenstechnischer als chemischer Art. Mit rein chemischen Forschungen beschäftigte sich S. außerhalb der Dienststunden, indem er im Labor von fünf bis zehn Uhr abends arbeitete. Obwohl nichts von seinen damaligen Ergebnissen publiziert werden konnte, halfen sie ihm später doch.
1926 kam die Herstellung der Acetatseide in Gang in dem inzwischen von der IG-Farbenindustrie und der Vereinigten Glanzstoff-Fabrik gemeinsam gegründeten Unternehmen Aceta GmbH in Berlin-Lichtenberg. S. wurde Leiter der Laboratorien mit 70 Mitarbeitern und blieb auf diesem Posten fast bis zum Kriegsende.
S. beschäftigte sich hier vorrangig mit Verfahren der Färbung von Zellulosefasern. Dem ist seine erste Patentanmeldung vom September1928 gewidmet, der weitere folgten. Er erfand einige Verfahren, die Zellulosefasern so mit chemischen Mitteln zu modifizieren, dass die Acetatseide etwa so gut wie die Naturseide anfärbbar wurde. Weiter kam S. der Gedanke, dass es vielleicht möglich wäre, Fasern rein chemisch herzustellen, ohne natürliche Makromoleküle zu benutzen.
Seit 1929 versuchte S. insbesondere spinnbare Polyamide zu erhalten, erreichte aber keine guten Resultate. Die wirtschaftlichen Bedingungen waren nicht günstig. Niemand in der großen IG zeigte Interesse für S.s Untersuchungen, und diese Arbeit wurde verschoben. Erst als 1937 Patente von du Pont Corporation (U.S.A.) bezüglich des Polyamides "Nylon" erschienen, kam S. zum alten Arbeitsfeld zurück, diesmal aber eingeschränkt durch die Unmöglichkeit, das amerikanische Verfahren zu nutzen. (Man bedenke, dass alles dies außerdienstliche Tätigkeit war!) Nach wenigen Monaten wurde die Polymerisation des Caprolactams entdeckt, die das Produkt ergab, dessen Schmelze zu einem festen Faden ausgezogen werden konnte.
Die Geschichte dieser bahnbrechenden Entdeckung und seiner weiteren Entwicklung wurde mehrmals in der Literatur beschrieben, insbesondere durch S. selbst. Es wurde aber nicht betont, - und nur ein Fachmann könnte es einschätzen - welch tiefgreifende Einsicht in das Gebiet man haben musste, um in verstreuten Beobachtungen einen unerwartet einfachen Weg zur Herstellung der polyamiden Fasern herauszufinden. Bald stellte sich heraus, dass S.s Verfahren nicht nur patentrechtlich unabhängig, sondern auch wirtschaftlich mit "Nylon" konkurrenzfähig war, so dass IG Farben 1939 einen Lizenzvertrag mit Du Pont über die Interessensphären auf diesem Gebiet und über den Erfahrungsaustausch darüber schließen konnte. Die entsprechende deutsche Faser bekam zuerst die Tarnbezeichnung "Perluran", später "Perlon". Großproduktion des Perlons und Krieg begannen fast gleichzeitig, und erster Perlon-Konsument wurde die Luftwaffe. S. selbst befasste sich intensiv mit chirurgischen Nähfäden, hochfest und besonders geschmeidig.
Auch in dieser hochpolitischen Zeit blieb S. ganz unpolitisch (Mitglied der NSDAP war er nie gewesen). Nach seiner Entdeckung und nach dem Anfang der Perlon-Produktion findet er Zeit, seine Promotion mit der Arbeit über Polyamide zu organisieren: Im Wintersemester 1941/42 hört S. an der Universität Jena über "allgemeine Geologie". Am 21. Februar 1945 gibt er seine Doktorarbeit dort ab und am 5. März 1945 besteht er die Doktorprüfung in Fächern Chemie, Physik und Geologie mit dem Gesamturteil "sehr gut"!
In seinem Berliner Labor wurde gearbeitet bis Anfang April, als die Leitung entschied, das Labor nach Bobingen (bei Augsburg) zu verlagern.
Vor dem Zusammenbruch gelang es S., aus Berlin fliehend, auf abenteuerliche Weise, ohne Begleiter, neun Kisten Perlon-know-how zu retten, nach Wolfen mitzubringen und schließlich nach Bobingen kommen zu lassen, wo er selbst Anfang Juli 1945 als Abteilungsleiter eingesetzt wurde. Dies ermöglichte ihm, in unermüdlicher Aufbauarbeit eine neue Produktion von Perlonfasern in Gang zu bringen - diesmal für friedliche Zwecke. Bald wurde Perlon zum Synonym für das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre.
Als das Werk Bobingen durch die Hoechst AG erworben wurde, bekam S. wieder die Möglichkeit sich ausschließlich der Forschung in einem neuen Labor zu widmen. Er begleitete die Produktion von Perlon wissenschaftlich, arbeitete aber, wie seine Patente zeigen, auch über weitere makromolekulare Produkte wie Polyakrylonitril, Polyester, Polyvinyle.
1961 bekam S. einen Ruf von seiner alma mater: Die TH Stuttgart war schon seit einigen Jahren zu einem Schwerpunkt der makromolekularen Chemie geworden und wollte solch einen renommierten Experten wie S. gewinnen.
Als Honorarprofessor las S. über Chemie und Technologie der Chemiefasern und leitete das Chemiefasernpraktikum. Ein Jahr später, mit 65 Jahren übernahm S. die Aufgabe, eine Abteilung für Chemiefasern an der TH Stuttgart aufzubauen, und er erfüllte diese Aufgabe "mit einer seltenen jugendlichen Aktivität", so ein Zeuge. (Eben in dieser Zeit war S. in sein neu erbautes Haus in Echterdingen eingezogen). Er hatte einige Doktoranden, die auf seinem Forschungsgebiet, besonders über Polyamide, erfolgreich promovierten. In den Ruhestand ging S. erst als 70-jähriger.
S. lebte lang genug, um Ruhm und Ehre für sein Lebenswerk zu ernten. Ihm wurden zahlreiche Ehrungen zuteil. Ab den fünfziger Jahren publizierte S. mehrmals über die Entwicklungsgeschichte und den gegenwärtigen Zustand der Chemiefaser. Er hielt auch zahlreiche Vorträge zum Thema vor internationalen und deutschen Tagungen der Fachleute. Seinen letzten Vortrag, unter dem Titel "Die Polyamide - ein Erlebnis", hielt S. im Oktober 1985 (mit fast 88 Jahren!) an der Technischen Universität zu Berlin.
Leute, die ihn kannten, bezeichneten ihn als eine bescheidene, liebenswerte, eher zurückhaltende Persönlichkeit. Sein immer arbeitsamer Geist trat hervor im "Beschwingten seines Schrittes", im "Insichgekehrten des Auges", in der "Klarheit und Kürze der Satzbildung".
Während seines Lebens bekleidete S. leitende Positionen. Er war aber kein Standardmanager, sondern Forscher, Besessener seiner Ideen, die er konsequent verfolgte. (Übrigens wusste er sehr diplomatisch zu verhandeln, um seine Arbeit durchzusetzen - ob gegenüber seinen Chefs in der IG Farben oder gegenüber der U.S. Administration in 1945 und den folgenden Jahren). S. war nicht nur geschickter Experimentator und ausgezeichneter Kenner der Fachliteratur, sondern einer der ideenreichsten Chemiker Deutschlands: Ihm gehören 270 Erfindungen die sich in wenigstens 750 deutschen und ausländischen Patenten widerspiegeln. (Von ihm stammt, z. B., das älteste Patent bei Epoxidharzen). Das berühmteste ist "Herstellung von Polyamiden", über das zukünftige Perlon (DRP 748253 angemeldet am 11. Juni 1938, ausgestellt am 23. März 1944; das amerikanische Analog: USP 2241321, angemeldet am 20.7.1938, ausgestellt am 6.5. 1941). S.s Platz in der Geschichte der Wissenschaft und Technik ist eben durch die Entdeckung der Lactamepolymerisation und die Erfindung des Perlons für immer gesichert.


Q UnternehmensA BASF (W2, Schlack); UA Stuttgart (SM 29 [Nachlass Schlack]; 57/111; SA2/2144; 57/204).

W Über die Bildung von Pyrrol-Derivaten aus Amiden von -Diketonsäureestern (mit W. Küster), Ber. Deutsch. Chem. Ges., 1924, 57, 409-413; Über eine neue Methode zur Ermittlung der Konstitution von Peptiden (mit W. Kumpf), Zs. physiol. Chemie, 1926, 154, 125-170; Fasern aus Polyamiden (mit K. Kunz), in: R. Pummerer (Hrsg.), Chemische Textilfasern, Filme und Folien: Grundlagen und Technologie, Stuttgart, 1953, S. 629-717; Die Entwicklung der Polyamid-Faserstoffe in historischer Sicht, Zs. für die gesamte Textilindustrie, 1954, 56, 823-825; Die Polyamidfasern vom Standpunkt des Chemikers [Vortrag in Helsinki, Oktober 1955], Finska kemists medd., 1958, 67, No. 1, S. 1-35; Stand der Technik auf dem Gebiet der Chemiefasern, Tendenzen und Ziele in Forschung und Entwicklung, Melliand Textilberichte, 1962, 43, 543-548, 681-684, 802-807; Neue Carbodiimid-Synthesen, Liebigs Ann. Chem., 1963, 661, 164-172; Zur Polymerisation von -Aminocarbosäurelactamen, Abh. d. Deutschen Akad. Wiss. Zu Berlin, Kl. F. Chemie, Geologie und Biologie, 1965, Nr. 3: 2. Int. Chemiefaser-Symposium, S. 9-17; Die Polyamide mit besonderer Berücksichtigung von Nylon 6 und 66 sowie deren Anwendung, Melliand Textilberichte, 1966, 47, 1175-1182; Oxidationserscheinungen an Polyamiden, Zs. angew. Chem., 1968, 80, 761; Hochtemperaturbeständige Polyheterocyclen: Poly-(benz-3,1-oxazione-(4)) und Poly-(chinazolone-(4))(mit G. Zuber), Die Angewandte Makromolekulare Chemie, 1971, 15, 25-36; Möglichkeit zum Nachweis semicyclischer Amidinendgruppen in Polycaprolactam durch Abspaltung des Amidinheterocyclus (mit J. Rieker), ebd., 203-217.

L Robert Bauer, Unternehmen Chemiefaser bei der deutschen Farbenindustrie, Frankfurt/M, 1962 (mit dem Bild auf S. 80); Hermann Klare, Geschichte der Chemiefaserforschung, Berlin, 1985 (mit dem Bild auf dem S. 170); Lexikon bedeutender Chemiker, Frankfurt/M, 1989, S. 381-382; Stefan Winneke, P. S. (1897-1987), in: Schwäbische Forscher und Gelehrte, Lebensbilder aus sechs Jahrhunderten, Leinfelden-Echterdingen, 1992, S. 121-127 (mit Bildern); Anna Döpfner, Textiltechnik: Zwei "Karrieren"? In: Ich diente nur der Technik. Sieben Karrieren zwischen 1940 und 1950, Berlin, 1995, S. 99-114 (mit Bildern).

B UA Stuttgart; s. L; Zs. f. gesamte Textilindustrie, 1954, 56, 823; Nachrichten aus Chemie und Technik, 1958, 6, 4; Melliand Textilberichte, 1963, 44, 99; Künstliche Versuchung. Nylon - Perlon - Dederon. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der BRD, Bonn. Köln, 1999, S. 35 und 69; Stuttgarter Nachrichten, 1985, 26. Okt., Nr. 249, S. 27; Chemiefasern/Textilindustrie, Dez. 1977, S. 1047; ebd., 1987, Okt., S. 938; Stuttgarter Ztg., 1982, 22. Dez., Nr. 294, S. 16; ebd., 1997, 20. Dez., Nr. 294, S. 30.