Ladenburg, Albert, Chemiker

*03.07.1842, Mannheim; isr., seit 1891 ev.; +15.08.1911, Breslau

 

 

Eine etwas verkürzte Version wurde in den "Badischen Biographien, Neue Folge", Bd. V (2005), S. 168-170  publiziert.

 

V Leopold L.(1809-1889), Jurist

M Delphine, geb. Picard (1814-1882)

G Heinrich L. (1840-?), Kaufmann in London; Louise, verh. von

Maltzahn (1843-?); Clara L. (1853-1862) und zwei Schwester, geb.

1845 und 1853, die im ersten Lebensjahr gestorben sind

oo 19.09.1875 in Berlin Margarete Prinsheim (1855-1909)

K Erich Robert L. (1878-1908); Rudolf L. (1882-1952); Kurt L. (1884-1901).

 

 

1852-1858                                     Besuch der Höheren Bürgerschule in Mannheim;

                                                                          Absolutorium "sehr gut"

 

Herbst 1858-Frühjahr 1860         Studium an der TH Karlsruhe (Mathematik,

                                                        Maschinenbau, moderne Sprachen)

 

1860 X -.1861 IV                          Studium Chemie an d. Univ. Heidelberg bei

                                                        Bunsen

 

WS 1862-1863                             Studium an d. Univ. Berlin (Physik bei Magnus,

                                                                          Meteorologie, Geschichte)

03.06.1863                                    Promotion zum Dr. phil. mit summa cum laude 

                                                        an  d. Univ. Heidelberg (Chemie, Physik,   

                                                        Mathematik)

Herbst 1863-Herbst 1864           Studium der organischen Chemie in Heidelberg  

                                                        bei  Carius und der theoretischen Physik bei

                                                        Kirchhof

 

Frühjahr 1865- Winter 1867        Studium der organischen Chemie in Gent bei

  Aug. Kekulé, danach in Paris bei Ad. Wurtz

 01.02.1868                                   Habilitation zum Privat-Dozent an d. Univ.

                                                                          Heidelberg; Probevorlesung: "Darlegung der

                                                                          Prinzipien der Bestimmung des specifischen   

                                                       Gewichtes elastisch-flüssiger Körper und der

                                                                          Berechnung der Versuche"

30.03.1872                                   a.o. Professor ebenda

25.10.1872                                   o. Professor der Chemie und Direktor des neuen

                                                       chemischen Instituts an d. Univ. Kiel

1884-1885                                    Rektor ebenda

04.08.1884                                   Dr. med. h.c. Univ. Bern

25.09.1889                                   Geh. Regierungsrat

01.10.1889                                   o. Professor der Chemie an d. Univ Breslau

Frühjahr 1897                               Einweihung des neuen chemischen Instituts

                                                                         an d. Univ. Breslau

21.09.1903                                   Vortrag "Einfluss der Naturwissenschaften auf

                                                       die Weltanschauung"

01.10.1909                                   Niederlegung der Lehrtätigkeit wegen Krankheit

06.01.1910                                   Wahl zum korrespondierenden Mitglied der

                                                                         Akademie der Wissenschaften zu Berlin

 

 

L. gehörte einer angesehenen und reichen Familie an. Sein Vater, Advokat beim Obersten Gerichtshof in Mannheim, trug viel zum Gesetz über die rechtliche Gleichstellung von Juden bei. L. wurde am Sonntag, den 3. September, geboren; spätere Unterlagen geben aber den 2. September, also Samstag, an. Wahrscheinlich wurde sein Geburtsdatum verschoben, weil ein "Schabes-Kind" im Judentum immer als besonderes Glück für die Familie gilt.(Cf. Fall A. Horstmann, s. dort). L. war der einzige der Geschwister, der seiner Mutter sehr ähnlich war; er erbte insbesondere ihre musikalischen Neigungen und daher stammten seine späteren guten Beziehungen zu Klara Schumann und Joh. Brahms. Ebenso wie sein Bruder, besuchte L. die Höhere Bürgerschule zu Mannheim, an deren Begründung sein Vater beteiligt war. Als Schüler war er sehr erfolgreich, besonders in Mathematik und vor Ostern 1857 bekam er das Zeignis der Reife mit dem Prädikat "sehr gut".

 Die Studienjahre L.'s waren vielseitig. Er begann mit Mathematik und modernen Sprachen an der TH Karlsruhe, danach folgte je ein Wintersemester in Heidelberg (Chemie und Physik) und Berlin (Physik); Promotion zum Dr. phil. in Heidelberg (Fächer: Chemie Physik und Mathematik; eine Dissertation wurde damals noch nicht verlangt), anschließend die erste selbständige Arbeit im Privatlabor von Carius und endlich ein halbjähriger Aufenthalt bei A. Kekulé in Gent, wo L. von den brennenden Problemen der Strukturchemie erfuhr. Um darüber weiter zu arbeiten, ging L. nach Paris und hier hatte er das Glück, 18 Monate in einem sehr einfach ausgestattetenen Raume der Ecole des Mines zur zweit mit Ch. Friedel zu arbeiten, der ihm, "dem Jüngeren, bald Lehrer, bald Freund, den Genuss des glücklichen Forschens verschaffte" (L.,1899). Es waren Pionierarbeiten über siliciumorganische Verbindungen; später setzte L. sie allein zielstrebig fort und erweiterte sie auf zinnorganische Verbindungen.

 Auf Grund seiner schon publizierten Arbeiten habilitierte L. in Heidelberg ohne besondere Habilitationsschrift. Eine der Thesen, die er für die Disputation vorbrachte, lautete: "Die sechs Wasserstoffatome des Benzols sind gleichwertig" - dies war ein durch scharfsinnige Experimente gut begründeter und sehr wichtiger Beitrag zur Strukturchemie. L. hatte als erster die bekannte Kekulésche Benzolstrukturformel publiziert und gleichzeitig Kritik an dieser geübt. Die durch L. vorgeschlagene prismatische Struktur wurde zur stimulierenden Alternative, die jedoch passte nicht auf Benzol. Der entsprechende Kohlwasserstoff, "Prisman", wurde aber 1973 synthetisiert.

 Bereits zur Zeit seiner Habilitation besaß L. eine breit angelegte naturwissenschaftliche Bildung. Dies war der Boden der auffallenden Vielseitigkeit seiner experimentellen und literarischen Tätigkeit. Sie ermöglichte dem damals relativ jungen Mann, eine glänzende Darstellung der Entwicklung der Chemie seit Lavoisier zu verfassen und vorzutragen. L. aktualisierte dieses Werk durch drei weitere Auflagen; es erschien auch in Englisch und in Russisch. Außerdem las L. über organische Chemie und arbeitete in seinem Privatlaboratorium vorwiegend über Strukturchemie (aromatische Verbindungen, organische Silicium- und Zinnverbindungen).

 Bald nach der Beförderung zum a.o. Professor wurde L. nach Kiel als Ordinarius berufen, aber unter der Voraussetzung, dass er ein neues chemisches Institut errichte. Diese Aufgabe erwies sich, wegen der verwickelten Verhältnisse, als sehr kompliziert. Erst im Herbst 1878 konnte das nach L.'s Plänen gebaute und ausgestattete Institut eröffnet werden. Danach fing L. seine später berühmten Forschungen über Pflanzenalkaloide an, wobei ihm die Synthese des Coniins (o-Propylpiperidin) gelang. Das war die erste vollständige Synthese eines natürlichen Alkaloids überhaupt, eine Leistung, die mit Recht zu den bedeutendsten Erfolgen der gesamten synthetischen Chemie gerechnet wird. Gleichzeitig untersuchte L. gründlich Pyridin und seine Derivate im allgemeinen; hier, so E. Fischer, sind seine Beiträge "so groß, dass sein Name dauernd mit der Geschichte dieser interessanten Basen... verknüpft bleiben wird". Auch als Lehrer war L. erfolgreich; während seiner Ära in Kiel promovierten zum Dr. phil. 25 Chemiker und noch mehr bereiteten sich zur Promotion vor. Die Autorität, die L. in Kiel gewann, äußerte sich insbesondere darin, dass er 1884 zum Rektor gewählt wurde, nachdem er einige Jahren Dekan gewesen war.

 Die Kieler Jahre waren auch für L.'s Privatleben entscheidend. 1875 heiratete er aus "Liebe auf den ersten Blick" Margarete Pringsheim, die älteste Tochter eines bekannten Berliner Professors. Das Haus der L.s war ein Mittelpunkt des kulturellen, insbesondere des musikalischen Lebens der Stadt. Seine Frau stand L. auch wissenschaftlich zur Seite. Mehrere Artikel für die "Allgemeine Deutsche Biographie" wie auch deutsche Übersetzungen für Ostwalds Klassiker (und zwar für Nr. 22, 28 und 170) hatte sie zusammen mit L. vollendet. Als L. sein synthetisches Coniin in die rechts- und linksdrehenden Isomeren zerlegte, also Coniin in der optisch aktiven Form herstellen konnte, schickte er als Telegramm an seine Frau: "Gretchen, es dreht"- ein rührendes Zeugnis davon, wie eng beide miteinander verbunden waren.

 1889 verlangte Althoff, Hochschulreferent des Ministeriums, dass L. jetzt in Breslau die Chemie fördern solle. Auch in Breslau musste L. ein neues Chemieinstitut einrichten. Der neuesten Entwicklung der Chemie entsprechend organisierte er hier auch eine Abteilung der physikalischen Chemie. Eine Neuigkeit war, dass eine Reihe von Forschungen bei Temperatur von flüssiger Luft durchgeführt wurde. Am bedeutendsten waren hier seine Arbeiten über Ozon. Das Ausmaß der Arbeit im Chemischen Institut Breslau ist darin zu sehen, dass 160 Studierende unter L. zum Dr. phil. promovierten.

 1900 begründete und bis 1910 leitete L. die Chemische Gesellschaft Breslau, wo reges wissenschaftliches Leben stattfand und viele hervorragende Gäste Vorträge hielten. 1903 hielt L. den Vortrag "Über den Einfluss der Naturwissenschaften auf die Weltanschauung", wo er den Vorrang der Naturwissenschaft vor der Religion hervorhob. Dies hatte viel Staub aufgewirbelt und löste auch persönliche Anfeindungen aus. L. beharrte aber bei seiner Position.

 Der Lebensabend L.'s war traurig. Ein böses Fußleiden führte 1905 zur Amputation des rechten Beines, und auch der linke Fuß fing zu erkranken an, so dass L. an den Rollstuhl gefesselt blieb. Trotzdem setzte er seine Vorlesungen fort. Als 1908 sein ältester Sohn ertrank und im März 1909 seine geliebte Frau starb, legte L. seine Professur nieder. Auf den Tod wartend schrieb er seine Lebenserinnerungen, die postum erschienen und uns einen Menschen zeigen, dessen Streben nach Wahrheit stärker war, als Behutsamkeit und die Angst, sich zu beschädigen.

 Die seltene Vielseitigkeit des Lebens und der Aktivitäten L.'s ist nur teilweise in seinen insgesamt etwa 320 Publikationen zu erkennen. Mehrere davon sind übrigens von polemischem Inhalt, jedoch auch diese trugen zur Entwicklung der Chemie bei. Klassisch geworden sind seine Arbeiten in der Strukturchemie, über organische Silizium- und Zinnverbindungen, erstrangig aber seine Forschungen über Alkaloide wie auch seine Vorlesungen über die Geschichte der modernen Chemie. Seine Bedeutung spiegelt auch darin wider, dass es in fast allen Enzyklopädien der Welt Artikel über L. gibt.

 Q StadtA Mannheim (12/1982, Nr. 143; 68/1993, Nr. 2); UA Heidelberg (Matrikel; PA 1888; H-IV-102/68, Nr. 37); GLA Karlsruhe (76/9979); UB Heidelberg Hs 3628, a20-a22; 3835, 6).

 W Eine neue Methode der Elementaranalyse, Ann. Chem. Pharm., 1865, 135, 1-24; Über die Synthese eines Kohlenwasserstoffs und dessen Constitution (mit Ch. Friedel), ebd., 1867, 142, 310-322; Über das Siliciumchloroform und dessen Derivate, ebd. 1867, 143, 118-128; Bemerkungen zur aromatischen Theorie, Ber. Dt. Chem. Ges., 1869, 2, 140-142; Vorträge über die Entwicklungsgeschichte der Chemie in der letzten hundert Jahren, Braunschweig, 1869, 2. Aufl. 1887, 3. Aufl. 1902, 4. Aufl. 1907; Über Zinnverbindungen, Ber. Dt. Chem. Ges. 1870, 3, 353-358; Künstliches Atropin, ebd., 1879, 12, 941-944; Synthese der activen Coniine, ebd. 1886, 19, 2578-2583; Über das Ozon, ebd., 1898, 31, 2508-2513, 2830-2831; Charles Friedel +, ebd., 1899, 32, 37-21-3744; Überdas Atomgewicht des Jods, ebd., 1902, 35, 2275-2285; Handwörtebuch der Chemie, Bde. 1-13 (Encyclopädie der Naturwissenschaften, Bde. 16-26, 36), Breslau, 1882-1895 (Herausgeber des Werkes und Verfasser von einigen Artikeln); Naturwissenschaftliche Vorträge in gemeinverständlicher Darstellung.1909; 2. Aufl. Leipzig, 1911; Lebenserinnerungen, Breslau, 1912.

 L W. Hertz. A. L.+, Chem. Ztg. 26.08.1911, Jg.35, S. 933-934 (B); C. Liebermann. A. L.+, Ber Dt. Chem. Ges., 1911, 44, 2807-2810; W. Hertz. A. L., ebd., 1912, 45, 3597-3644 (mit B u. Bibliographie); F. S. Kipping. Ladenburg memorial lecture, J. Chem. Soc. (London), 1913, v. 103, 1871-1895 (B); E. Zerner. A. L., Biogr. Jb. u. Dt. Nekrolog f.1911, Bd. 16, 171-178; Fl. Waldeck. Alte Mannheimer Familien, Mannheim 1920 (repr. 1987); W. Schneider, A. L. und seine ersten alkaloidchemischen Untersuchungen, Pharm. Ind., 1954, 16, 184-186; A. A. Baker, L., Dict. Sci. Biography, vol.VII, p. 551-552; C. Priesner. L., A., NDB, Bd.13, 390-391 (1982); G. P. Schiemenz, A. L. und die "Kekulé-Formel" des Benzols. Mitteil. d. Fachgruppe Geschichte d. Chemie d. Ges. Dt. Chemiker,1988, Nr.1, 51-69. Hans-Erhard Lessing. Mannheimer Pioniere, 2007: S. 65-76 A. L. Ein Naturforscher beziet Stellung (mit Bildern aus Familienbesitz)

B s. L; UA Heidelberg; UB Heidelberg (Chem. Inst.); Kekulé und seine Benzolformel: Vier Vorträge, Weinheim, 1966, S. 53. Vgl. L