Kiliani, Heinrich, Chemiker
* 30.10.1855 Würzburg, rk., + 25.2.1945 Freiburg i.Br.

Eine etwas verkürzte Version wurde in den "Badischen Biographien, Neue Folge", Bd. V (2005), S. 143-145  publiziert.

 

 

 

V Josef (1827-1893) Polizeiaktuar zu Würzburg, dann Gerichtssekretär zu München.

M Marie, geb. Dietz (1825-nach 1885).

G Martin (1858-1895).

oo 1883 (München) Magdalena Maria Eleonora, geb.Wiedmann (1861-1947 oder später).

K Martin Josef Eduard (1885-1911)

 

1873                              Abschluss des humanist. Gymnasiums Regensburg Note l

1873-1877                    Studium d. Chemie an d. TH München

1876 X                           Prüfung für das Lehramt in Naturwissenschaften, 

                                       München; Note 2

1877 I 1                         Unterrichtsassistent an d. TH München

1877 X                          Prüfung für das Lehramt in Chemie, München; Note 1

1879 IX -1884 VII        Assistent für Chemie an d. Industrieschule u. Lehrer für    

                                       chem. Technologie an d. Baugewerkschule in München

1880 II 6                        Promotion summa cum laude zum Dr. phil. an d. Univ.

                                       München: Diss.: "Über Inulin"

1883 I                            Privatdozent d. allg. u. angewandten Chemie an d. TH 

                                       München

1884 X l                        ao. Professor für analyt. u. angew. Chemie

1892 VI l                        o. Professor für analyt. u. angew. Chemie

1895 VIII 9                    Direktor d. Chemisch-Technischen Abteilung

1897 IV l                       o. Professor d. Chemie an d. med. Fakultät d. Univ. 

                                      Freiburg

1902 II 8                        Laborunfall, danach progressive Taubheit

1903/1904                    Dekan d. med Fakultät

1908 XII 23                   Geh. Hofrat

1920 X l                        Emeritierung; Dr. med. h. c., Univ. Freiburg

1932 XII                        Ende d. Experimentalarbeiten

 

 

K. stammte aus einer Beamtenfamilie. Sein Vater, zuerst Landsgerichtsassessor in Höchstadt, dann Notar in Ebern, war 1854 nach Würzburg als "geprüfter Rechtspraktikant" gekommen, wo er seine Familie gründete. K. besuchte das Gymnasium in Regensburg, woher seine Mutter stammte. Der begabte Junge gab bereits als Gymnasiast schwächeren Schülern Unterricht und trug so zum sehr bescheidenen Einkommen der Familie bei. Diese engen finanziellen Umstände zwangen ihn, sich nicht an der Universität, sondern an der TH München zu immatrikulieren, wobei er die Chemie als Grundlage für einen guten praktischen Beruf auswählte.

 

 

Dank seines Lehrers, des bekannten organischen Chemikers Emil Erlenmeyer bekam K. eine ausgezeichnete Schulung. Bis zum Ende seiner Tätigkeit blieb er ein Meister der akribischen Experimentalforschung in der organischen Chemie. Schon früh machte Erlenmeyer ihn zu seinem Unterrichtsassistenten. Während dieser ersten Jahre an der TH München bestand K. auch Prüfungen für das Lehramt in Naturwissenschaften und in der Chemie. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Lehrer an zwei Fachschulen in München.

 

 

Nach dem Ende seiner Studienzeit schlug Erlenmeyer vor, dass K. folgende Preisaufgabe bearbeite: "Es sollen die chemischen und physikalischen Eigenschaften des Inulins [ein Kohlenhydrat] genauer untersucht und auch festgestellt werden, zu welchem der bekannten Kohlenhydrate dasselbe in nächster chemischer Beziehung steht". So betrat K. das Gebiet der Chemie der natürlichen Stoffe, insbesondere der Zuckerchemie, dem er künftig treu blieb.

 

Krankheiten - er war bereits wegen schwacher Gesundheit für den Militärdienst untauglich gewesen - verzögerten diese schließlich als preiswürdig erkannte Arbeit, mit der K. dann auch promoviert wurde, bis Anfang 1880. Da er "Fremder" war, bestand K. sein Doktorexamen vor einer strengen Kommission: Ad. v. Baeyer (Chemie), Ph. Jolly (Physik), F. v. Kobell (Mineralogie). Nach seiner Promotion arbeitete K. in der Zuckerchemie weiter, und seine ersten Artikel aus den Jahren 1880 bis1882 erlaubten ihm, sich an der TH München zu habilitieren. Nach einem Jahre wurde er zum a. o. Professor. Er las "Analytische Chemie" und "Brennmaterialien und Feuerungsanlagen mit Einschluss der technischen Gasanalyse", wofür er eigens das Labor für technische Gasanalyse eingerichtet hatte. Außerdem war er als Gutachter für Behörden und Unternehmen tätig, so verfaßte er z. B. den Beitrag "Lagerung von Kohlenvorräten" für die 1. Armee von Bayern.

 

Sein Hauptinteresse lag aber bei eigenen Forschungen. So gab er Konstitutionsbeweise für Glukose, Fruktose und Arabinose. Von besonderer Bedeutung wurde die nach ihm benannte "Cyanhydrin-Synthese" - eine Aufbaureaktion, die bis heute eine der wichtigsten Methoden der Zuckerchemie darstellt. K. fand auch mehrere Abbauverfahren für Kohlenhydrate. Die Zuckerchemie wurde damals noch kaum bearbeitet und K.s Ergebnisse hatten grundlegende Bedeutung, insbesondere für das Schaffen von Emil Fischer, der diese Ergebnisse benutzte und verallgemeinerte.

 

1888 eröffnete sich K. ein weiteres Forschungsgebiet. Fr. Engelhorn jr. (s. dort) bat ihn, auf A. v. Baeyers Empfehlung, Untersuchungen über die Digitalisstoffe für die Firma "Boehringer & Söhne" in Mannheim) durchzuführen. Obwohl K. zuerst schwankte, ein fremdes Gebiet zu bearbeiten, begeisterte das Problem ihm bald. Bereits nach zwei Jahren lag das praktische Ergebnis vor, ein einfaches Fabrikationsverfahren zur Herstellung von Digitalinum verum. Die Zusammenarbeit von K. und "Boehringer" dauerte bis 1914. Sie brachte keine weiteren unmittelbaren praktischen Erfolge, aber reiche wissenschaftliche Ernte: viele neue Erkenntnisse über Digitalisglykoside. Ein Nebenprodukt dieser Forschungen war die sog. "Kilianische Mischung" - ein besonderes Gemisch von Chrom- und Schwefelsäuren zur Oxidation von organischen Verbindungen, das bis heute gebräuchlich ist.

 

In München erweiterte K. seine Forschungen auch auf eine dritte Gruppe von Naturstoffen, wozu der Leipziger Pharmakologe R. Boehm ihn angeregt hatte und begann, die sog. Antiaris-Stoffe zu bearbeiten, die ein als Pfeilgift verwendetes pflanzliches Exkret bildeten. Seine mühsamen Forschungen - um einige Gramm reinen Stoffs zu erhalten, musste K. mehrere Kilogramm von Milchsaft des Upas-Baumes verarbeiten - ergaben hier die Isolierung neuer Stoffe, wie die Glykosiden α- und ß-Antiarin und den glykosidisch gebundenen Zucker Antiarose.

 

 

Dank seiner pharmakologisch wichtigen Ergebnisse wurde K. 1897 als ordentlicher Professor und Direktor des chemischen Instituts der medizinischen Fakultät nach Freiburg berufen. Damals gab es in Freiburg zwei voneinander unabhängige chemische Institute, eines an der philosophischen, das andere an der medizinischen Fakultät. Hier las er anorganische und organische Experimentalchemie für Mediziner, daneben "Ausgewählte Kapitel aus der physiologischen Chemie". Täglich führte er auch Arbeiten und Übungen im chemischen Laboratorium durch, die K. für besonders wichtig hielt. Große Mühe verwandte auch permanent auf die Modernisierung seines Labors. Als diese Arbeit nach einigen Jahren zum Ende kam, ereignete sich ein Unfall: Bei einer Demonstration explodierte der Löschapparat, so dass K. "rücklings über eine 7-stufige Steintreppe flog und mit dem Kopfe auf einen Cementboden aufschlug". Für einige Monate war K. ans Bett gefesselt und sein Hörvermögen verschlechterte sich zusehends, was seine Kontakte mit anderen Menschen einschränkt, die einsame Arbeit im Labor aber stimulierte, weswegen er auch nur wenige Schüler hatte. Von etwa 110 Artikeln K.s wurden nur 17 gemeinsam mit Studenten publiziert; seine Forschungen führte er fast ausschließlich allein durch. Dies trug letztlich dazu bei, dass die Bedeutung seiner Arbeiten, selbst im Bereich der Zuckerchemie, gerne unterschätzt wurde.

 

 

Als K. 1920 emeritiert wurde, behielt er sich die Möglichkeit vor, weiter im Labor zu arbeiten. "Dabei", - so schrieb er in seinem Gesuch, "darf ich wohl als selbstverständlich annehmen, dass die im Institut befindlichen wissenschaftlichen Präparate meiner eigenen Forschung als mein persönliches Eigentum anerkannt werden." So beschritt er weiter den einsamen Weg eines allein arbeitenden Forschers und führte seine Experimentalarbeiten insbesondere über einzelne Probleme der Zuckerchemie fort.

Sein Privatleben war ohnehin überschattet vom frühen Tod seines einzigen Sohnes, der - eben in Freiburg zum Dr. med. promoviert - 1911 im Alter von 26 Jahren verstorben war. Während der folgenden zehn Jahre publizierte er neun ausführliche Mitteilungen unter dem Titel "Neues aus der Zuckerchemie". K. arbeitete im Labor bis ins hohe Alter von fast 80 Jahren. Auch danach bewahrte er geistige Frische. Sein letzter Artikel, ebenfalls über Zuckerchemie, erschien 1943!

 

 

Q StadtA Würzburg (Einwohnermeldebogen); Stadt A München (Auskunft; PMB G 220); A d. TU München (PA, Kiliani; Auskunft); UA Freiburg (B24 Nr. 1709); StadtA Freiburg (Auskunft); FirmenA Roche Diagnostics [früher: Boehringer Mannheim] (Auskunft).

 

W Ueber Inulin. Diss. , München 1880; Über das Cyanhydrin der Lävulose, Berr. d. Dt. Chem. Gesellschaft 18, 1885, 3066-3072; ebd. 19, 1886, 221-227; Über Arabinose, ebd. 3029-3036; Über die Zusammensetzung und Constitition d. Arabinosecarbosäure bzw. d. Arabinose, ebd. 20, 1887, 339-346; Über die Einwirkung von Blausäure auf Galactose, ebd. 21, 1888, 915-919; Digitalin verum, A d. Pharmacie 230, 1892, 250-261; Über den Milchsaft von Antiaris toxicaria, ebd. 234, 1896, 438-451; (mit B. Merck), Über Digitogenin u. Digitogensäure, ebd. 34, 1901, 3562-3577; Über Digitalisgrykoside, ebd. 254, 1916, 255-295; (mit W. v. Miller), Kurzes Lehrbuch d. analytischen Chemie 1894, 61909; Über den Löschapparat Excelsior (System Carré), Chem. Ztg. 26, 1902, 169, 421-422; Dem Andenken von Emil Erlenmeyer gewidmet, Zs. für angew. Chemie 22, 1909, 481-483; My life and work, Journal of Chem. Education 9, 1932, 1908-1914 (mit B); Zur Kenntnis d. Mannozuckersäuren, Berr. d. Dt. Chem. Ges.76, 1943, 540-541.

 

Poggendorffs Biogr.-literar. Handwörterbuch Bd. III, 1898, 717 f., ebd. Bd. IV, 1904, 747 f.; ebd. Bd. V, 1926, 628 f.; ebd. Bd. VI, 1937, 1315; ebd. Bd. VII a, 1958, 744 (mit Verzeichnis der Werke); W. Hückel, H. K., Chem. Berr. 82, Nr. l, 1949, I-IX (mit B); A. Wankmüller, K. H. , in: NDB 11, 1977, 606; W. Wolz, Pharmazeutische Ausbildung an d. Univ. Freiburg i. Br. u. im Oberrheingebiet, 1960, 114-117 (mit Verzeichnis der Werke); J. R. Partington, A History of Chemistry, vol. IV, 1964, 822 f.

 

B Journal of Chem. Education 9 (vgl. W); Chem. Berr. 82 (vgl. L)