Sackur, Otto,
Physikochemiker, ein Begründer der statistischen chemischen Thermodynamik

 

28.9.1880, Breslau, isr., 17.12.1914, Berlin
 
Eine sehr knappe Version dieser Kurzbiographie wurde in der "Neue Deutsche Biographie", Bd. 22 (2005), S. 344 publiziert.

 


 

J. Sackur, Fabrikdirektor [in Breslau?]

 

M Olga, geb. Weigert.

Verh.

Irene S.

 

 

 

1886, Herbst -1898 Frühjahr              Besuch des König-Wilhelm-Gymnasiums zu

                                                                                    Breslau

1898 SS                                               Studium in Heidelberg

1898/99 WS und 1899 SS                 Studium in Breslau

1899/1900 WS                                    Studium in Berlin

1900 SS und 1900/01 WS                 Studium in Breslau

1901 VII 31                                           Promotion zum Dr. phil., Diss.: "Die

                                                                                  Theorie und Messung der Flüssigkeitsketten"

1901 X 1 - 1902 X 1                           Unterrichtsassistent zu Breslau

1902 X 1 - 1904 X 1                           Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am

                                                                                  Kaiserlichen Gesundheitsamt zu Berlin

1904 X - 1905 V                                 Arbeit an der Univ. London (bei W. Ramsay)

                                                                                  über die Radioaktivität

1905 SS                                              Arbeit an der Univ. Berlin (bei W. Nernst)

                                                                                  über die Elektrochemie des Wasserstoffs

1905 X 19                                           Habilitation an der Univ. Breslau mit der

                                                                                 Schrift "Zur Kenntnis der Blei-Zinn- und der

                                                                                 Kupfer-Zink-Legierungen" und mit der

                                                                                Antrittsvorlesung "Über die Bedeutung der

                                                                                Elektronentheorie für die Chemie"

1905 X 1 - 1909 X 1                         Unterrichtsassistent am Chemischen

                                                                                Laboratorium Breslau

1912 Frühjahr                                    Prädikat "Professor"

1913 IV                                              Übersiedlung nach Berlin.

1914 V                                               Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für

                                                                               physikalische Chemie und Elektrochemie

 

 

Mit sechs Jahren trat S. ins Kaiser-Wilhelm-Gymnasium seiner Heimatstadt ein und beendete es im Frühjahr 1898. Danach studierte er Chemie in Heidelberg, Berlin (je ein Semester) und Breslau und schon 1901 konnte er zum Dr. phil. mit der Arbeit über das Verhalten starker Elektrolyten promovieren.

Sein Doktorvater, Professor für physikalische Chemie R. Abegg hatte S. als Unterrichtsassistenten angestellt, und zwar mit der außeretatmäßigen Assistentenstelle von jährlich 1200 Mark, die für ihn selber 1900 eingerichtet worden war, um ihn in Breslau zu halten.

Nach einem Jahr folgte S. im Oktober 1902 einem Ruf aus Berlin: Er kam als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in die chemisch-hygienische Abteilung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes. Während etwa zwei Jahren führte S. praktisch und theoretisch wichtige Untersuchungen durch über die chemische Angreifbarkeit von Legierungen, besonders von Blei-Zinn-, Kupfer-Zinn- und Kupfer-Zink-Legierungen.

Im Oktober 1904 ging S. mit einem Empfehlungsbrief von Abegg nach London und beschäftigte sich ein halbes Jahre im Laboratorium W. Ramsays mit damals brennenden Problemen der Radioaktivität. Er maß insbesondere die Zerfallskonstante der «Radiumemanation» und, zusammen mit O. Hahn, diejenige der «Emanationen» von zwei anderen radioaktiven Elementen (die sich identisch erschienen).

Nach seiner Rückkehr arbeitete S. während des Sommersemesters 1905 bei W. Nernst in Berlin über das elektrochemische Verhalten des Wasserstoffs. Damit kamen seine Lehr- und Wanderjahre zu Ende: Im Oktober 1905 habilitierte sich S. in seiner alma mater mit der Schrift «Zur Kenntnis der Blei-Zinn- und der Kupfer-Zink-Legierungen» und mit der interessanten Antrittsvorlesung «Über die Bedeutung der Elektronentheorie für die Chemie».

Als Privatdozent las S. insbesondere über «Radioaktivität», «Thermochemie und Thermodynamik», «Physikalische Chemie technischer Prozesse». Gleichzeitig hatte er die Stelle eines Unterrichtsassistenten inne und führte bis Sommersemester 1909 einschließlich (bis zur Emeritierung des Institutsdirektors A. Ladenburg) das physikalisch-chemische Praktikum.

 

Unter Ladenburgs Nachfolger (E. Buchner) fand die physikalische Chemie im Breslauer Chemischen Institut keinen Platz mehr. S. musste den größten Teil seiner gewohnten Lehrtätigkeit aufgeben - eine herbe Enttäuschung, für die er später durch Erteilung eines Lehrauftrages (Chemie für Zahnärzte) einigermaßen entschädigt wurde. Auch hier zeigte sich seine große Lehrbefähigung, seine Vorlesungen wurden 1911 als erfolgreiches Lehrbuch publiziert. S. hatte auch einige Doktoranden, u. a. Otto Stern, und arbeitete experimental und theoretisch. Er trug seine Ideen und Ergebnisse in Sitzungen der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Kultur vor, deren Mitglied er 1906 wurde. 1911 wurde S. der Professorentitel verliehen. Trotzdem blieb sein Wirkungsfeld in Breslau ziemlich eingeschränkt.

 

So ergriff S. gerne die Einladung als wissenschaftlicher Gast in das neue Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem überzusiedeln. In Breslau wurde er zunächst beurlaubt und bekam seine Besoldung vom Kultusministerium, was der Direktor des Instituts, Prof. Fr. Haber bewirken konnte. Haber schätzte S.s Fähigkeiten sehr hoch und setzte durch, dass S. ein Jahr später als Abteilungsleiter eingestellt wurde. (Es gibt Hinweise, dass die Einladung nach Berlin durch S.s Kommilitonin in Breslau, Habers Frau Clara Immerwahr inspiriert wurde).

Das wissenschaftliche Milieu in Berlin, die Arbeitsbedingungen und -perspektiven waren für S. ausgezeichnet, und man erwartete von ihm viel, wie schon seine erste damalige Ergebnisse versprachen. Das Schicksal aber steuerte anders.

 

Durch den Krieg wurde S.s wissenschaftliche Arbeit unterbrochen. Zusammen mit Haber stellte er sich dem Kriegsministerium zur Verfügung, nach dem Motto der Wissenschaftler gehöre im Frieden der Menschheit, im Krieg aber dem Vaterland. Auf Veranlassung des Chefs des Generalstabes unternahm das Institut Untersuchungen mit dem Ziel, einen wirksameren Stoff zur Füllung der Haubitzengeschosse zu finden. Als S. einige Tropfen des Dichloramines zu einigen Milliliter des Kakodylchlorides hinzufügte, erfolgte eine heftige Explosion. Tödlich verletzt, starb S. nach wenigen Stunden. Auf Betreiben Habers wurde S. einem Kriegsgefallenen gleichgestellt und der Witwe eine Kriegshinterbliebenenrente zugebilligt. Das Kaiser-Wilhelm-Institut bewahrte S.s Gedächtnis durch eine Tafel: "Er starb als Forscher im Dienste des Vaterlandes". (S.s Tochter Irene arbeitete am Institut als Sekretärin bis 1933, als sie entlassen werden sollte).

 

S. arbeitete in der Wissenschaft weniger als 15 Jahre. Umso erstaunlicher stellt sich seine vielseitige Tätigkeit dar. Er vereinigte in sich glücklicherweise einen geschickten Experimentator und einen gründlichen Theoretiker. Nach Habers Worten, besaß S. "eine überragende Begabung. Er liebte die quantitativen Zusammenhänge und verstand es, ihnen erfolgreich nachzugehen". Er erzielte interessante Ergebnisse in der Lösungslehre, Elektrochemie, Radioaktivität, Chemie der Schmelzen, Anwendungen der Chemie in der Medizin und in der Technik, besonders aber in der allgemeinen und chemischen Thermodynamik. Seine Resultate fanden in etwa 70 Aufsätzen ihren Niederschlag.

Darüber hinaus wusste er, die modernen Probleme der physikalischen Chemie klar und zugänglich für damalige Chemiker darzustellen. S. referierte über physikalische Chemie für "Chemisches Zentralblatt" (1904-1914), über Reaktionsgeschwindigkeit und Katalyse - für das "Jahrbuch der Elektrochemie" (1902-1905), verfasste inhaltsreiche physikalisch-chemische Jahresberichte für R. Meyers "Jahrbuch der Chemie" (1906-1911), schrieb drei ausführliche Kapitel über Calcium, Strontium und Barium in das R. Abeggs "Handbuch der anorganischen Chemie" (Bd. 2.2, 1905) und publizierte mehrere analytische Übersichten über Fragen der physikalischen und der technischen Chemie. S. gab auch das klassische Werk von Sv. Arrhenius über die galvanische Leitfähigkeit der Elektrolyte heraus (Ostwalds Klassiker, Nr. 160, 1907). Von ihm sind auch drei Lehrbücher, insbesondere das erstklassige "Lehrbuch der Thermochemie und Thermodynamik" (1912), das 1917 auch in Englisch erschien und 1928 in die zweite Auflage ging. Hinter der außerordentlich intensiven und umfangreichen literarischen Tätigkeit S.s standen wohl auch rein finanzielle Gründen: Seine wirtschaftlichen Verhältnisse waren nie günstig.

 

S.s Werk war also sehr vielseitig. Sein Platz in der Geschichte der Wissenschaft ist aber durch seine bahnbrechenden Beiträge zur statistischen Thermodynamik gesichert.

Ab 1910 arbeitete S. über die Begründung des Wärmetheorems und die Berechnung der thermodynamischen Eigenschaften der Gase, besonders der Entropie, vom Standpunkt der Quantentheorie. S. hatte als erster die Idee der Quantelung der Translationsbewegung der Gasmoleküle hervorgehoben und zur Lösung des Problems der Absolutwerte der Entropie der Gase erfolgreich angewendet. S. Beiträge wurden geschätzt und besprochen insbesondere durch Einstein und Planck. Etwa gleichzeitig und unabhängig erreichte H. Tetrode im Amsterdam dasselbe Resultat, das bis zur Gegenwart als "die berühmte Sackur-Tetrodesche Formel" (A. Sommerfeld) in Lehrbüchern der statistischen Thermodynamik wiedergegeben wird. In der Geschichte der Wissenschaft bezeichnet man S. und Tetrode als "Väter der Quantelung von Gasen".

S. ging noch weiter, indem er die Folgerungen der Quantelungen von Gasen bei niedrigen Temperaturen experimentell und theoretisch zu untersuchen begann. Sein Modell der "Entartung" der idealen Gase schloss die Idee der Nullpunktenergie ein, die erst Ende der Zwanziger Jahre allmählich angenommen wurde.

Diese Leistungen waren von besonderer Bedeutung für die Entstehung der statistischen chemischen Thermodynamik. S. ist als einer ihrer Begründer zu betrachten. Gleichzeitig erscheinen sie als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Physik, nämlich der Quantenstatistik.

S. war rastlos tätig. Für seine Freunde und Schüler war er dennoch stets bereit zu Hilfe und Rat. Seine rasche Auffassungsgabe machte solche Besprechungen immer effektiv. Bescheiden und einfach, war S. von gütigem und reinem Charakter. Er strebte nicht nach äußeren Lebensgenüssen, sondern suchte das höhere Ideal des geistig erfüllten Lebens.

 

 

 

UA Heidelberg (Studentenakten); Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (I. HA, Rep. 76, V a Sekt. 4, Tit. IV, Nr. 41, Bd.5); Archiv zur Geschichte d. MPG (Abt. Va, Rep. 5, Nr. 1808).

 


W Über den Einfluss gleichioniger Zusätze auf die elektromotorische Kraft von Flüssigkeitsketten. Ein Beitrag zur Kenntnis des Verhalten starker Elektrolyte, Zs. physik. Chem., 1901,38, 129-162; 1902, 39, 364-368; Die anodische Auflösung von Wasserstoff und seine Passivität, Ebd., 1906, 54, 641-664; Die chemische Affinität und ihre Messung, Braunschweig, 1908; Richard Abegg+, Chronik der K. Univ. zu Breslau, Jg. 25, 1910/11, S. 186-190; Die Anwendung der kinetischen Theorie der Gase auf chemische Probleme, Ann. d. Physik, 1911, 36, 958-980; Die Bedeutung des elementaren Wirkungsquantums für die Gastheorie und die Berechnung der chemischen Konstanten, Festschrift W. Nernst zu seinem 25jährigen Doktorjubiläum gewidmet von seinen Schülern, Halle, 1912, S. 405-423; Lehrbuch der Thermochemie und Thermodynamik, Berlin, 1912 (2. Aufl.: 1928); Geschmolzene Salze als Lösungsmittel, Zs. physik. Chem., 1912, 78, 550-572; 1913, 83, 297-314; Die universelle Bedeutung des sog. elementaren Wirkungsquantums, Ann. d. Physik, 1913, 40, 67-86; Die "Chemischen Konstanten" der zwei- und dreiatomigen Gase, Ebd., 87-106; Die Zustandsgleichung der Gase und die Quantentheorie, Zs. Elektrochem.,1914, 20, 563-569.

 

 

 

 

L Poggendorffs Biogr.-lit Handwörterbuch, Bd. IV, S.1296-1297, Bd. V, S. 1086-1087, Bd. VI, S. 2266; E. Beckmann, Ber. Dt. Chem. Ges., 1915, 38, 1-4;

H. Pick, Chemiker Ztg., 1915, 39, 13; W. Herz, Physikalische Z., 1915, 16, 113-115 (mit Bildnis); Fr. Auerbach, 92. Jahresbericht d. Schlesischen Ges. f. vaterländische Kultur, Bd. I, Breslau, 1915, S. 35-37; A. Desalvo, From the chemical constant to the quantum statistics: a thermodynamical route to quantum mechanics, Physis, 1992, 29, 465-537.