Pier, Matthias, Industriechemiker, "Papst der Hochdruckhydrierungen"

*22. Juli 1882, Nackenheim (Rheinhessen), kath., + 12. Sept. 1965, Heidelberg


 

V Mathias Pier (1855-1938), Winzer;

M Magdalena, geb. Jost (1852-1912);

G keine;

∞ 18.3.1911 in Mainz Anna Margarete Krauter (1884-1957);

K kinderlos

 

 

1891-1901                            Besuch des Realgymnasiums, dann (1894-1901) des

humanistischen Oster-Gymnasiums in Mainz

1901,                                     SS Studium in Heidelberg (Physik, Mathematik,  

                                               Philosophie)

1901 X-1902 IX                    Einjähriger Freiwilliger beim Hessischen

                                                Feld-Artillerie-Regiment in Mainz

1902 X-1907 XI                    Studium in Jena (3 Sem., Chemie, Physik, Geologie, Mathematik), München (1 Sem., Chemie) und Berlin (6 Sem., Chemie)

1908 III                                   Promotion in Berlin bei W. Nernst; Diss.: "Specifische
                                               Wärme und Dissociationsverhältnisse von Chlor" mit
                                               dem Prädikat "sehr lobenswert"

1906 I-1909 XII                     Vorlesungsassistent bei Nernst

1910 I -1914 VII und             Physikalischer Chemiker an der "Centralstelle für

1919 III - 1920 V                   wissenschaftlich-technische Untersuchungen",

                                               Neubabelsberg bei Berlin

 

1914 VIII - 1919 III                 Militärdienst

1920 VI                                  Eintritt bei der BASF, Ludwigshafen. Umzug aus
                                               Berlin nach Heidelberg

1927 IV                                  Prokurist bei der IG Farbenindustrie

1934 IV                                  Direktor ebd.

1934 XII                                 Dr.-Ing. h. c. TH Hannover

1942 VII                                 Ehrensenator d. Univ. Heidelberg

1943 I                                     Ehrenamtlicher Mitarbeiter des Reichsamtes für

Wirtschaftsausbau: Fachbeauftragter für 

Hydrieranlagen

1946 I                                    Verhaftung durch Militärregierung

1947 XI                                 Entlassung nach 22 Monaten Lager

1949 I                                    Pensionierung bei der BASF

1950 XII                                Titel Professor verliehen durch den Minister-
                                               Präsidenten vonBaden-Württemberg

 

 

P. wurde als einziges Kind eines rheinhessischen Weingutsbesitzers geboren. Er besuchte zuerst die Dorfschule in Nackenheim, dann Gymnasien in Mainz, wohin er täglich mit dem Zug fahren musste. Schon als Schüler war P. ein begeisterter Fotograf, gleichzeitig entwickelte sich Interesse für Chemie. Im Gartenhäuschen bei seinem Elternhaus richtete er sich ein kleines Labor ein, von wo gelegentlich Knall und Rauch ausgingen.

Diese Neigung bestimmte die Richtung seines Studiums. Nach einem Semester in Heidelberg genügte P. seiner Militärpflicht, die er als Reserveleutnant abschloss. Seine kämpferische Natur trat auch in seiner Studentenzeit hervor, indem er als Mitglied des Jenaer Studentencorps "Saxonia" 21 Zweikämpfe gefochten hat; sein Gesicht trug die Narben bis ins Alter.

 

Der wichtigste Teil seines Studiums fiel in die Berliner Jahre 1904-1908. Zu der Zeit begann der berühmte Physikochemiker W. Nernst hier seine Professur. Im Oktober 1905 wurde P. bei ihm Doktorand und bald Vorlesungsassistent. Nach Nernsts Aussage vereinten sich bei P. "in reichem Maße" "experimentelles Geschick mit gründlichem Wissen". Fast zwei Jahre nach der erfolgreichen Promotion blieb P. bei Nernst bis Ende 1909.

 

Da P. aber eine Familie zu gründen vorhatte, ging er von der Universität in die Industrie, nämlich an eine Forschungsanstalt des Konzerns der Militärindustrie ("Centralstelle für wissenschaftlich-technische Untersuchungen GmbH") in Neubabelsberg bei Berlin.

P.s Arbeit hier war sehr vielseitig, von verschiedenen Gutachten bis zu elektrotechnischen Versuchen bezüglich des Blitzschutzes in großem Maßstab. U. a. beschäftigte sich P. mit der Herstellung von Chloraten und Perchloraten durch Elektrolyse und erhielt zwei Patente dafür. Für seine weitere Laufbahn waren aber am wichtigsten die durch eine Mitteilung über die Haberschen Versuche angeregten Arbeiten über die Ammoniaksynthese: P. baute eine originelle Hochdruckapparatur und konnte mit von ihm selbst gefundenen Katalysatoren Ammoniak in seinem Labor synthetisieren. Seine Erfindungen werden in fünf deutschen Patenten fixiert. Die selbständig gestellte und durchgeführte Arbeit traf jedoch nicht auf Verständnis beim Aufsichtsrat. Die Lage war noch unklar, als der Kriegsausbruch das Problem löste.

 

P. fuhr unverzüglich in sein Regiment und wurde in Frankreich, Polen, Serbien und wieder in Frankreich eingesetzt. 1918 war er schon Hauptmann. Am 2. Mai 1918 wurde er schwer verwundet und erst im März 1919 aus dem Lazarett und gleichzeitig vom Militär entlassen. Von seiner Verwundung blieb ihm ein versteifter Fuß, beim Gehen benutzte er einen Stock.

 

P. kehrte an die Centralstelle zurück und begann, mit seiner Hochdruckapparatur Versuche über die Hydrierung des Kohlenmonoxids. Nach kurzer Zeit wurde aber die "Centralstelle" nach dem Versailler Vertrag ab Juni 1920 aufgelöst. So ging P. zur BASF - als reifer erfahrener Experimentator und durch den Krieg erprobter Mann. "Mit Lust und Liebe, Energie und Zielbewusstsein bin ich gewohnt zu arbeiten. Mit Leuten, auch schwierigen Untergebenen, verstehe ich umzugehen", schrieb P. in seiner Bewerbung bei der BASF.

Seine Bewährungsprobe bestand P. im von A. Mittasch (s. dort) geleiteten Ammoniaklabor, indem er erstaunlich schnell den Weg für die Hochdruckmethanolsynthese aus dem Wassergas fand. Das wurde dadurch möglich, dass P. Zink-Chrom-Oxide als Katalysatoren einführte und die hinderliche Bildung des Eisencarbonyls entdeckte und eliminierte. Wegen der französischen Rheinlandbesetzung im Mai 1923 wurde die Arbeit nach Leuna überführt; nach nur 5 Wochen gelang es dort die technische Methanolproduktion aufzunehmen - der Großerfolg, den P. mit einem "Husarenritt" zu vergleichen pflegte. So wurde die Einführung der katalytischen Hochdruckverfahren in die organische Chemie eröffnet.

 

Anfang 1924 kehrte P. nach Oppau zurück, um die Versuche über Teerhydrierung und dann Kohlehydrierung zu beginnen. Diese Möglichkeit war durch die Pionierarbeiten von Fr. Bergius (s. dort) bekannt. Die Arbeit über dieses vielschichtige Problem verglich P. mit einem langen schwierigen Stellungskrieg. Er modifizierte das Bergius-Verfahren durch zwei prinzipielle Beiträge: Die Anwendung der Katalyse, wobei er schwefelunempfindliche Katalysatoren fand und die Trennung der Hydrierung in zwei Stufen, wobei man zuerst in der "Sumpfphase" die Ausgangsprodukte zu Ölen mittleren Siedebereiche verwandelt, die dann in der Gasphase zu Benzinen umgesetzt werden. P. basierte auf der physikalischen Chemie einerseits, aber andrerseits auf seinem, wie er sagte, "Fingerspitzengefühl", das ihm erlaubte, mit wenigen richtig gemachten "Tipversuchen" schon zu sehen, "wie die Materie will". Im Januar 1925 gelang es, erstmals wasserhelles Benzin aus Teer zu herstellen; schon nach wenigen Monaten wurden die prinzipiellen Wege zu effektiven Druckhydrierungen von Kohlen entdeckt. Nach halbtechnischen Versuchen in Oppau, dank der tatkräftigen Unterstützung von C. Krauch und C. Bosch, wurde Mitte 1926 der Bau einer Großversuchsanlage in Leuna für 100 000 t/Jahr Benzin aus Braunkohle beschlossen. Alle verfügbaren Kräfte wurden eingesetzt: P. führte damals über 2000 Menschen. Seine Vitalität und sein Optimismus begeisterten die Mitarbeiter. Nur ¾ Jahre nach dem Baubeschluss, am 1. April 1927 floss das erste "Leuna-Benzin"

 

Nach dem geglückten Großversuch folgte aber eine jahrelange Periode, wo enorme technische Schwierigkeiten zu überwinden waren. Auf diesem "dornenvollen Weg mit vielen technischen Rückschlägen", so P., zeigte er sich als zielstrebiger und erfahrener Organisator: Viele Fragen konnten erst im Zusammenwirken von Großversuchsanlage und Laboratoriumsforschung bearbeitet und befriedigend erklärt werden. Am schlimmsten waren die wirtschaftlichen Nöte: Die Weltkrise und die niedrigen Preise von Benzinen aus Erdöl drohten, seine Arbeit überflüssig zu machen. Der Verkauf von Hydrierunglizenzen in die USA an Standard Oil Company half ihm. Sie baute zwei Werke zur Ölhydrierung; dazu machte P. 1927 und 1932 lange Dienstreisen. Nur mit "außerordentlichen Mühen", so P. selbst, konnte er, dank seiner ungeheuren Energie und Willenkraft, seine Arbeiten über Hochdruckhydrierung in den Jahren 1929-1933 weiter durchsetzen. Erst 1932 wurde die störungsfreie Produktion endlich erreicht.

 

Im Dritten Reich mit seiner Autarkie-Politik wurden die wirtschaftlichen Probleme beseitigt.

Teilweise deswegen, teilweise, um seine Ziele im neuen System erreichen zu können, trat P. im Juni 1933 einer gemäßigten nationalen Bewegung, dem Stahlhelm bei (der im Frühjahr 1934 in die SA überführt wurde) und im Mai 1937 der NSDAP. So konnte er seine Selbständigkeit des Handelns erhalten.

 

Sein nächstes Ziel war die Steinkohlehydrierung zu verwirklichen, was den Übergang von 200 zu 700 atm in der Sumpfphase verlangte. 1936-1943 wurden unter P.s unmittelbarer Kontrolle elf weitere Großfabrikationsanlagen gebaut. Er verfügte über eine Arbeitsgruppe von etwa 80 Akademikern und insgesamt ca. 1000 Menschen.

 

Nach dem Zusammenbruch wurde P. als ein leitender Mitarbeiter der IG Farbenindustrie verhaftet. Beim Nürnberger Prozess gegen die IG Farbenindustrie (Fall 6) wurde er mehrmals verhört, aber persönlich nicht angeklagt. Nach 22 Monaten Haft in verschiedenen Lagern wurde P. entlassen und kehrte nach Heidelberg in eine provisorische Wohnung, weil sein Haus beschlagnahmt worden war.

 

1949 ging P. bei der BASF in Ruhestand, blieb aber mit der Firma als Berater verbunden. Er hatte noch die Freude, Vorträge über Hochdruckhydrierung vor den Welt-Erdöl-Kongressen 1951 in Den Haag und 1955 in Rom zu halten und international anerkannt zu werden.

 

1952 ließen die Hydrierwerke der BRD ihm ein neues Haus in Heidelberg bauen. In diesem Haus wohnte P. bis zum Lebensende. Er vermachte seinen Schatz, ein italienisches Ölgemälde des 15. Jhs., dem Kurpfalzmuseum in Heidelberg, "wenn die Stadt bereit wäre, die Pflege des Grabes zu unternehmen, in dem seine Frau und er beigesetzt wird".

P.s Lebenswerk, katalytische Hochdruckhydrierungen, entwickelte sich von vergleichsmäßig einfacher Ammoniaksynthese über die Methanolsynthese zu immer komplizierteren Teer-, Öl-, Braunkohle- und Steinkohlehydrierungen. Teilweise spiegelte es sich in seinen Patenten wider, von denen 5 die Ammoniaksynthese, 21 - die Methanolsynthese und 503 die anderen genannten Hydrierungen betreffen. Als weiteres Teil seines Lebenswerks gilt fabrikmäßige Umsetzung chemisch-technischen Verfahren. Dazu noch weitere bedeutende Impulse, die er der chemischen Technik im Allgemeinen und der Ölindustrie im Besonderen gegeben hat. In der Geschichte der Naturwissenschaft und Technik gilt P. als "Papst der Hochdruckhydrierung".

 

 

Q UnternehmensA d. BASF (W1-Pier); UA Heidelberg (B 1884/5; Rep. 14, Nr. 90 u. 249)

 

 

Kohleveredelung und katalytische Druckhydrierung (mit C. Krauch), Zs. f. angewandte Chemie, 44, 1931, 953-958; Coal Hydrogenation: A Comparison of Hydrogenation Products of Coal and Oil, Industrial and Engineering Chemistry, 29, 1937, 140-145; Über Hydrierbenzine. Einfluss von Rohstoff, Katalysator und Arbeitsweise, Angewandte Chemie, 51, 1938, 603-608; Katalytische Druckhydrierung und deutsche Kraftstoffversorgung, Der Vierjahresplan, Jg. 4, 1940, 843-846; Benzin aus Kohle, Teer und Erdöl. Ein Beitrag aus der Entwicklung der deutschen Kraftstoffversorgung, Oel und Kohle, 38, 1942, 1445-1448; Einiges über Hydrier- und Spaltkatalysatoren bei der Öl- und Kohle-Verarbeitung, Zs. f. Elektrochemie, 53, 1949, 291-301; Gasförmige Kohlenwasserstoffe bei Ölhydrierung, Brennstoffchemie, 32, 1951, 129-133; Ammoniak ? Methanol ? Benzin. Entwicklung und Stand der Hochdruck-Katalyse, Chemische Industrie (Düsseldorf), 4, 1952, 715-719; Einiges aus der Entwicklung der katalytischen Druckhydrierungen, Zs. f. Elektrochemie, Berr. d. Bunsen-Ges. f. physik. Chemie, 57, 1953, 456-460; Erinnerungen. 22. Juli 1962, Heidelberg (Privatdruck).

 

 

L Poggendorff, J. C., Biographisch-literarisches Handwörterbuch, Bd. VIIa, Teil 3 (1959), S. 571-572; Bd. VIII, Teil 3 (2003), S. 2012-2013 (mit Bibliographie); Rasch, M., Pier, NDB, 20 (2001), S. 428-429; Pötsch, W. R., Pier, Lexikon bedeutender Chemiker, Frankfurt/M, 1988, S. 344-345; Höring, M., M. P.+, Erdöl und Kohle, 18, 1965, 769 (mit Bild); Toepel, T. H., M. P. zum Gedenken, Berr. d. Bunsen-Ges. f. physik. Chemie, 70, 1966, 111-113 (mit Bild); Höring, M., Raichle, L., Zur Technologie der Kohle- und Ölhydrierung. M. P. zum Gedächtnis, Chemie-Ingenieur-Technik, 38, 1966, 205-208 (mit Bild); Reitz, O., M. P. zum hundertsten Geburtstag, Erdöl und Kohle - Erdgas - Petrochemie, 35, 1982, 283-286 (mit Bild); Lang, Werner, M. P., Ehrenbürger von Nackenheim, Nackenheim, 1982 (Nackenheimer Heimatkundliche Schriftreihe, H. 16) (mit Bilder).

 

 

B s. L; Von Werk zu Werk [Monatsschrift der Werkgemeinschaft d. IG Farbenindustrie], Ausgabe Ludwigshafen, Jg. 28, 1937, Dez., S. 221; Oel und Kohle, 38, 1942, 779; Brennstoff-Chemie, 33, 1952, 225; Angewandte Chemie, 64, 1952, 407; Berr. d. Bunsen-Ges. f. physik. Chemie, 61, 1957, 857; UnternehmensA d. BASF.