Noether, Max, Mathematiker

 

*24.9.1844, Mannheim, isr., ab 5.11.1920 ev., +13.12.1921, Erlangen
 

Eine etwas verkürzte Version wurde in den "Badischen Biographien, Neue Folge", Bd. V (2005), S. 216-218  publiziert.

  

 


 

V Hermann N. (1807-1894), Kaufmann

M Amalia (Malchen), geb. Würzburger (1812-1872)

G Sara (1839-?), verh. mit Samuel Noether; Emil N. (1842-?); Frida (1846-?), verh. mit Salomon Roos; Carl Salomon (1849-?)

  oo 28.8.1880 in Wiesbaden Ida Amalia Kaufmann (1852-1915)

Amalie Emmy N. (1882-1935), Mathematikerin, Professorin; Alfred N. (1883-1918), Dr., Chemiker; Fritz Alexander Ernst N. (1884-1941), Mathematiker, Professor; Gustav Robert N., Buchhändler (1889-1928)

 

 

 

1850-1854                                               Besuch der Volksschule in Mannheim

1854-1858                                                                                             Besuch des Lyzeums in Mannheim

1858-1865                                               Privatstudien wegen der Erkrankung

1865 Herbst-1866 Sommer                  Arbeit an der Sternwarte Mannheim

1866 X - 1868 III                                      Studium der Mathematik und der 
                                                                   theoretischen Physik an derUniv. 
                                                                  Heidelberg; Promotion summa cum laude
                                                                  zum Dr. phil. am 5. März 1868

1868-1869                                               Zusätzliche Studien in der Mathematik 

                                                                  bei   A. Clebsch in Gießen und Göttingen

 

1870 XI                                                    Habilitation in der Mathematik an der Univ.
                                                                 Heidelberg;Habilitationsschrift: "Über
                                                                 Flächen, welche Schaaren rationaler
                                                                 Curven besitzen"; Probevorlesung 18. Nov.
                                                                 1870 "Über die Krümmung der Flächen"
1874 XI                                                    a. o. Professor der Mathematik an der
                                                                  Univ. Heidelberg

1875 IV 1                                                 a. o. Professor der Mathematik an der

                                                                  Univ. Erlangen

1888 IV 16                                               o. Professor der Mathematik ebd.

1917 I 7                                                   Geheimer Hofrat

1918 IV 1                                                 Emeritierung

1921 XII 15 Feuerbestattung im Nürnberger Krematorium

 

 

 

N. wurde als drittes Kind eines Mannheimer Kaufmanns, des Mitbegründers des Eisengroßhandelsgeschäfts "Joseph Noether & Co" in Mannheim geboren. Dank zusätzlichen Privatunterrichts während des letzten Jahres der Volksschule konnte N. in die dritte Klasse des Mannheimer Lyzeums aufgenommen werden. Obwohl er der jüngste in seiner Klasse war, hatte er immer gute Noten und wurde in Mathematik und Physik "belobt".

Nach vier Jahren wurde N. in die Oberquinta promoviert, als er mit 14 Jahren an spinaler Kinderlähmung erkrankte. Die schwere Krankheit führte nicht nur zu einer dauernden Behinderung an einem Bein, sondern überhaupt "zu größtem Einfluss", wie N. schrieb, "auf meinen Lebens- und Studiengang". In dieser studierte er privat und selbständig, besonders die Mathematik, und er las viel. 1865 war N. so weit, dass er an der Mannheimer Sternwarte unter der Leitung des Hofastronomen Prof. Schönfeld sich mit der theoretischen Astronomie beschäftigen konnte. Die Berechnung der Bahn eines Kometen wurde seine erste wissenschaftliche Arbeit. N. war Schönfeld "auch für seine persönliche Anregung mein Leben hindurch zu Danke verpflichtet".

 

Im Herbst 1866 immatrikulierte N. an der Universität Heidelberg, um Mathematik und theoretische Physik zu studieren; er hörte auch Vorlesungen von Helmholtz und Bunsen. Schon nach drei Semestern bestand er seine Doktorprüfung (damals verlangte man keine Dissertation in Heidelberg); sein Hauptfach war die Mathematik, als Nebenfächer hatte er Mineralogie und theoretische Physik. Seine Lehrer O. Hesse und G. Kirchhoff waren "vollständig" und "in hohem Grade befriedigt".

Nach dem Rat seines Landsmanns und ehemaligen Mitschülers Jakob Lüroth ging N. zum Weiterstudium zu A. Clebsch (zuerst nach Gießen, dann nach Göttingen). Etwa drei Semester bei Clebsch in einer Gruppe von begabten jungen Mathematikern haben die wissenschaftliche Richtung N.s, nämlich die algebraische Geometrie, bestimmt.

 

Nach Hause zurückgekehrt schreibt N. seine Habilitationsschrift und im Herbst 1870 erwirbt er die venia legendi in Mathematik. Er liest insbesondere über "Theorie der algebraischen Formen","?Determinantentheorie", "Algebraische und Abelsche Funktionen". Im Herbst 1874 wird N. zum a. o. Professor, bald aber folgt er dem durch F. Klein angeregten Ruf nach Erlangen, wo er auf Dauer verbleiben sollte. Nach 25 Semestern wurde er zum ordentlichen Professor befördert.

 

Die Liste der Kurse, die N. in Erlangen las, ist lang; außer wiederholten allgemeinen Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung, Analytische Mechanik, Analytische Geometrie u. a. schließt sie auch verschiedene spezielle Themata ein, die er schöpferisch bearbeitete, wie z. B. "Theorie der Abelschen Funktionen" (1885/86), "Anwendung der elliptischen Funktionen auf Geometrie" (1888/89) oder "Kurven- und Flächentheorie" (1892). Seine Lehrtätigkeit setzte er auch nach der Emeritierung fort, als er 1914-1918 als der einziger die Mathematik an der Universität zu vertreten hatte. (Noch im Sommersemester 1918 hielt N. Vorlesungen über Analytische Geometrie und Differentialgeometrie).

 

Anfang der 1890er Jahre erweitert er seine Arbeit und wird organisatorisch tätig. Er hat "aufs eifrigste" den Plan eines Zusammenschlusses der deutschen Mathematiker von Anfang an gefördert; unmittelbar nach Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (1890) war N. aktives Mitglied und 1899 ihr Vorsitzender. In Erlangen fungierte N. 1896/97 und 1904/05 als Dekan; ab 1897 war er Mitglied des Senats der Universität. Er wirkte auch im Vorstand der Physikalisch-medizinischen Sozietät zu Erlangen, davon zwei Jahre, 1893 und 1894, als "Erster Direktor". 1893 war N. förmlich in die Redaktion der "Mathematischen Annalen" eingetreten; er zeigte sich als äußerst gewissenhafter und kritischer Redakteur, der nicht nur der Zeitschrift, sondern auch vielen Verfassern wertvolle Dienste geleistet hat und so in aller Stille Wichtiges zur Entwicklung der mathematischen Wissenschaft beigetragen hat.

 

N. wurden viele Ehrungen zuteil, so Mitgliedschaften an den Akademien zu München, Berlin, Göttingen, Turin, Rom, Paris und Budapest. In Erlangen wurde N. in das Goldene Buch der Universität eingetragen (etwa um 1902). "Nur die ersehnte Berufung an eine größere Universität blieb aus", so sein Freund und Biograph A. Brill. Wahrscheinlich deswegen überredete N. seine Tochter sich taufen zu lassen und konvertierte gleichzeitig selbst 1920. N.s Leben verlief überwiegend in Erlangen, er war ja in seinen Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Trotzdem machte N. auch einige Reisen, um führende Vertreter seines Faches in Berlin, Wien und Paris zu besuchen. Außerdem wohnte er den Mathematiker-Kongressen in Zürich (1897), Heidelberg (1904) und Rom (1905) bei. Wie A. Brill schreibt, ertrug N. seinen Zustand des "an seinen Sitz festgebannten" Menschen mit Mut und Willensstärke, ohne ein Wort der Klage. Er hatte aber das Glück, die fruchtbare Entfaltung seiner Arbeit zu erleben. Das ganze Leben N.s war der Wissenschaft gewidmet, und es ist kein Zufall, dass drei seiner vier Kinder Wissenschaftler wurden.

 

 

Von N. stammen mehr als 80 Artikel in der Mathematik und ihrer Geschichte. Sein Lebenswerk war die Entwicklung der algebraischen Geometrie, wo er maßgeblichen Einfluss ausgeübt hat. Seine wissenschaftlichen Höhepunkte finden sich in den ersten zehn Jahren seiner Tätigkeit. Weitere Werke bilden die natürliche Entwicklung seiner grundlegenden Forschungen. Schon die erste rein mathematische Arbeit N.s war, so F. Klein, "gleich von fundamentaler Bedeutung". Seine prinzipielle Bearbeitung des noch heute bedeutenden "Noetherischen Fundamentalsatzes" bezüglich der algebraischen Funktionen stammt vom Jahr 1872. Auf diesem Satz gestützt, schuf N. in Zusammenarbeit mit A. Brill die klassische Darstellung der Lehre von den ebenen algebraischen Kurven, wobei Brill später die führende Rolle N.s einräumte. Mit den gleichen Prinzipien behandelte N. auch die Theorie der algebraischen Raumkurven (wofür er 1882 den Steiner-Preis der Berliner Akademie erhielt). Außerdem hat N. sehr viel schwierigere Theorie der algebraischen Flächen grundlegend untersucht. Als Vollendung des Werks N.s in der algebraischen Geometrie erschien 1894 eine große Abhandlung über die Entwicklung der algebraischen Funktionen; gleichzeitig war sie ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Mathematik.

 

Als Mathematikhistoriker wirkte N. in seinen letzten Lebensjahrzehnten, etwa ab 1890. Dabei nutzte er seine hervorragende Kenntnis der gesamten Fachliteratur. (Ab 1900 arbeitete N. auch in der Bibliothek-Kommission der Universität). Sein allgemeines Ziel war "das Bewusstsein von der Einheit der Wissenschaft zu stärken, die Kenntnis des bereits Geleisteten der heutigen Produktion zu vermitteln und das Bild bedeutender Männer und ihrer Tätigkeit in dem Gedächtnis der jüngeren Generation frisch zu erhalten". Seine 15 Artikel und Nachrufe über zeitgenössische Mathematiker, immer auch stilistisch glänzend, stellen eine ausgesprochene Fundgrube für die Geschichte der Mathematik dar. N. verfolgte immer die Zusammenhänge von Ideen und betonte "die bei allen Wandlungen herrschende Kontinuität der mathematischen Wissenschaft". Auch seine ungezählten Rezensionen über zeitgenössische mathematische Aufsätze sind von diesem historischen Hang gezeichnet. Aufschlussreich ist sein Gedanke über die Rolle der "gegenseitigen Befruchtung heterogener Wissensgebiete": "Die größeren Leistungen gehören zumeist Grenzgebieten zwischen mindestens zwei Disziplinen an". Dies charakterisierte auch immer seine eigene Tätigkeit.

 

 

 

Q StadtA Mannheim: Familienbögen,12/1982, Nr.159; K.-Friedrich-Gymn., 40/1971, Nr. 36-44, Nr. 155; 4/1977, Nr. 66-68; UA Heidelberg: PA 2059; H-IV-102/68, Nr. 44; H-IV-102/73, Nr.5; H-IV-102/80; UA Erlangen: C4/1, Nr. 681; Auskünfte; StadtA Erlangen: III.16.N.1; Auskünfte.

 

 

W Elemente der Bahn des Cometen III,1861. Astronomische Nachrichten, 1867, 69, 103-109; Zur Theorie des eindeutigen Entsprechens algebraischer Gebilde von beliebig vielen Dimensionen. Math. Ann., 1870, 2, 293-316; Über einen Satz aus der Theorie der algebraischen Funktionen. Ebd. 1873, 6, 351-359; Über die algebraischen Funktionen und ihre Anwendungen in der Geometrie (mit. A. Brill). Ebd., 1874, 7, 269-310; Zur Grundlegung der Theorie der algebraischen Raumkurven. Abh. der Preußischen Akad. d. Wiss. 1882, S. 1-120; Zur Theorie der Abelschen Differentialausdrücke und Funktionen. Math. Ann. 1890, 37, 417-460, 465-499; Die Entwicklung der Theorie der algebraischen Funktionen in älterer und neuerer Zeit (mit A. Brill). Jahresber. d. deutschen Mathematiker-Vereinigung, 1894, 3, S. I-XXIII, 107-566; Arthur Cayley. Math. Ann., 1895, 46, 462-480; Charles Hermite. Ebd., 1902,  55, 337-385; Hieronimus Georg Zeuthen. Ebd., 1921, 83, 1-23; Zur Erinnerung an Karl Georg Christian von Staudt [1901]. Jahresber. d. deutschen Mathematiker-Vereinigung, 1923, 32, 97-119.

 

 

Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch, III, 977 (1898), IV, 1080-1081 (1904), V, 910-911 (1926), VI, T. 3, 1870 (1938); A. Voss. M. N.+, Jahrbuch d. Bayer. Akad. d. Wiss. f. 1921, S. 42-45; M. N.+, Math. Ann., 1922, 85, I-III; A. Brill. M. N.+, Jahresber. d. deutschen Mathematiker-Vereinigung, 1923, 32, 211-233; G. Castelnuovo, F. Enriques, F. Severi. M. N.+, Math. Ann., 1925, 93, 161-181 (mit Bibliographie); E. E. Kramer. N., Dictionary Sci. Biography, vol. 10, 139-141; A. Dick. Emmy Noether, 1882-1935, Beihefte zur Zs. ?Elemente der Mathematik?, 1970, Nr. 13 (Die Übersetzung ins Englisch: Basel, 1981); Lexikon bedeutender Mathematiker, Frankfurt, 1990, S. 350; R. Fritsch. N., NDB, 19, 319-320 (1999); Die Professoren u. Dozenten d. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen 1743-1960, Teil 3, 2009, 149f...

 

 

B StadtA Erlangen (V.E. b. 268), reproduziert in: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. München, 1988, S. 178; Amer. J. of Mathematics, 1904, vol. 26, reproduziert in: Mannheimer Hefte, 1968, H. 1, S. 27.