MohrErnst Wilhelm Max, Chemiker

 

30.05.1873, Dresden, ev., + 7.03.1926, Heidelberg

 


 

V Christian Otto M., Baustatiker, Prof. am Polytechnikum Dresden;

M Anna Doris Christiane, geb. Buresch (?-1907);

3:Else M., Hans M., Andreas M.;

  oo 28.09.1901 in Bonn Clara Maria Theodora, geb. Hegener (1871-1923);

K 2: Edith Anna Josephine (1903-1906); Otto M. (1908-?)

 

 

1891, III                             Abschluss des Vitzthumschen Gymnasiums in Dresden
1891, IV-1893 IX             Studium Chemie an d. TH Dresden; Diplomprüfung im

                                                Oktober 1893

1893 X-1894 IX               Einjährig-Freiwilliger, 1. Sächsische Leib-Grenadier- 
                                           Regiment Nr. 100 in Dresden
1894 X-1896 IV               Studium Chemie an d. TH Dresden; Schlussprüfung im 
                                           Mai 1896
1896 V-1897 III                Studium Chemie an d. Univ. Kiel
1897 III 16                         Promotion ebd., Diss.: "Über die Einwirkung von 
                                           Diacetonitril auf Aldehyde"
1897 IV-1899 X               Assistent von Th. Curtius an den chemischen Praktika 
                                          d. Universitäten Bonn u. Heidelberg
1900 XI 3                          Habilitation an d. Univ. Heidelberg; H.-schrift: "Amine d. 
                                           Pyridinreihe"; Probevorlesung: "Die Entwickelung d.
                                           modernen Atom- u. Molekulartheorie"
1906 I 3                             nichtplanmäßiger ao. Prof. ebd.
1908                                  Erkrankung des Rückenmarks; allmähliche Lähmung
1914                                  Endgültiges Aufgeben d. Experimentalforschungen
1924                                   Die letzten Publikationen

 

 

M. wurde als erstes Kind in eine Familie mit ethisch hohem Anspruch geboren. Sein Vater, einer der Begründer der technischen Mechanik, Professor am Dresdener Polytechnikum (ab 1890 - TH), war für die Kinder das Vorbild echter Einfachheit und Sachlichkeit. Diese Eigenschaften prägten die Persönlichkeit M.s.

M. besuchte das renommierte Vitzthumsche Gymnasium in Dresden und absolvierte es als einer der besten. Nach dem Abitur begann er sein Chemiestudium an der TH seiner Heimatstadt. Sein Chemieprofessor, Rudolf Schmitt (1830-1898), talentvoller Organiker und begeisterter Lehrer, erschloss ihm Interesse und Liebe zu den organischen Stoffen. Bei Schmitt bestand M. seine Diplomprüfung; später widmete er ihm seine Doktorarbeit.

 

Nach der Diplomprüfung im Oktober 1893 erledigte M. seine einjährige Militärpflicht und kehrte dann an seine TH zurück. Unter der Leitung von Schmitts Nachfolger, Ernst v. Meyer (1847-1916), führte M. eine Forschungsarbeit im Gebiet der organischen Chemie des Stickstoffs durch.

Da eine TH damals noch kein Promotionsrecht besaß, ging M., nachdem er seine Schlussprüfung in Dresden bestanden hatte, an die Universität Kiel, wo die höchste Autorität auf diesem Gebiet, Th. Curtius (s. dort) lehrte. M. hörte seine Vorlesungen und nach zwei Semestern promovierte er mit seiner Dresdener Arbeit. Die erste seiner Thesen zur Promotion lautet: "Die Strukturchemie giebt keine befriedigende Erklärung für die Constitution des Benzols und ähnlicher Verbindungen" - Zeugnis des frühen Interesses M.s für die wichtigsten theoretischen Probleme der damaligen organischen Chemie. Schon damals richtete M. seine wesentlichen Gesichtspunkte auf die richtige Erklärung der Konstitution zyklischer Verbindungen, was später erstaunlich reiche Früchte brachte.

 

 

Ab Sommersemester 1897 wurde Curtius nach Bonn berufen; er nahm M. als seinen Assistenten mit. Nach einem weiteren Jahr erhielt Curtius den Lehrstuhl und das Chemische Institut in Heidelberg, und M. folgte ihm wieder.

Während der ersten drei Jahre bei Curtius führte M. einige Arbeiten, noch im Forschungsgebiet Curtius', durch, die er dann teilweise in seiner Habilitationsschrift zusammenfasste. Als Privatdozent las er einerseits über "Pyridinderivate u. Alkaloide" - der Curtiusschen Forschungsrichtung gezollt - andererseits über eigene Zielsetzungen, und zwar im Gebiet der theoretischen organischen Chemie: "Stereochemie", "Isomerie, Desmotropie, Tautomerie". Eine Vorlesung widmete M. dem "Chemischen Rechnen" "mit besonderer Berücksichtigung der Anwendung des Rechenschiebers" - damals eine Neuigkeit für die Chemiestudenten. Chemisches Rechnen war für M. ein Steckenpferd, später (1909) publizierte er darüber eine besondere "Anleitung" für Studierende, wobei er nicht nur für die Anwendung des Rechenstabs, sondern auch für die chemischen Einheiten - Mol und Millimol anstatt Gramm und Milligramm, auch bei Konzentrationen von Lösungen, - eintrat. Damit strebte M. an, "stöchiometrisches Denken und Empfinden" des zukünftigen Chemikers zu entwickeln und "sein stöchiometrisches Gewissen zu schärfen". Er appellierte auch an die Verfasser der Lehrbücher, "die Übungsbeispiele den hier zusammengestellten Vorschlägen entsprechend umzuändern".

 

Gleichzeitig entwickelte M. seine experimentellen Forschungen, von denen seine Beiträge zur Erkenntnis der Abfolge des Mechanismus der Hofmannschen Reaktion (Abbau von Säureamiden zu Aminen) zu wichtigen Grundlagen in diesem Bereich wurden.

 

Anfang 1906 wurde M. zum nichtplanmäßigen ao. Professor befördert, was jedoch weder sein Gehalt als Unterrichtsassistent noch die Themen seiner Vorlesungen veränderte. Nach wie vor unterstützte er seine Familie durch intensive literarische Arbeit. So beteiligte er sich 1902-1909 an der Neubearbeitung der 8., 9. und 10. Auflagen des bekannten Lehrbuchs der organischen Chemie von Aug. Bernthsen(s. dort). Seine "eifrige und kenntnisreiche Unterstützung" (so Bernthsen) trat sich hervor insbesondere im Schreiben von Abschnitten über Tautomerie (schon für die 8. Auflage) und in der für die chemischen Lehrbücher erstmaligen Darstellung von isozyklischen Verbindungen als eigenständiger Substanzklasse (in der 9. Auflage). Später, 1911-1916, verfasste M. die inhaltsreichen Übersichten "Fortschritte der Organischen Chemie" für die "Chemiker Zeitung". Schöpferisch dargestellt, geben diese Artikel M.s einen tiefen Einblick in die bedeutendsten Ergebnisse der damaligen organischen Chemie, z. B. in die Forschungen Richard Willstätters, die später mit dem Nobelpreis gekrönt wurden. Besonders wichtig sind M.s Betrachtungen über stereochemischen Arbeiten, u.a. die von Alfred Werner, die eher der allgemeinen Chemie zuzurechnen sind

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Noch Anfang seiner Vierziger genoss M. eine gute Gesundheit. Jedenfalls hatte er im Sommer 1903 eine zweimonatige Übung bei seinem Regiment absolviert, von der er als Leutnant der Reserve zurückgekehrt war. 1908 erkrankte M. aber schwer: eine. Querschnittsläsion des Rückenmarkes führte zu allmählicher Lähmung, von den unteren Gliedmaßen beginnend,. WS 1908/1909 wurde M. beurlaubt zur Wiederherstellung seiner Gesundheit. Einige Jahre bemühte er sich "mit eiserner Tatkraft", so sein Kollege Robert Stollé (1869-1938), seine Laboratoriumsarbeiten mit Hilfe der Händen seiner Assistenten und Schüler fortzusetzen - selbst experimentieren konnte er nicht mehr. Die letzte Reihe von Experimentalforschungen, die er noch im Labor leiten konnte, wurde im Jahre 1914 durchgeführt. Es ist rührend über seinen Abschied vom Laboratorium zu lesen: "Infolge Krankheit kann ich diese Arbeit leider nicht zu Ende führen".

Umso intensiver arbeitete M. jetzt literarisch und theoretisch, wobei er auch Vorlesungen über Stereochemie für ein Dutzend Studenten zu Hause weiter hielt; den letzten Lehrauftrag erhielt er für SS 1923.

 

1915 erneuerte M. die als fehlerhaft geltende und schon vergessene Vorstellung von Hermann Sachse (1862-1893), dass Cyclohexan nicht das ebene, sondern das räumliche Molekül habe, so dass es zwei verschiedenen Konfigurationen besitzen könne. Sachses Vorstellung hielt man für falsch, weil es unmöglich war, die entsprechenden Isomere zu beobachten. Nun erklärte M. diese Tatsache, indem er eine neue kühne Idee einführte: Durch gleichzeitige Drehung um die drei C-C-Bindungen kann der Cyclohexan-Ring leicht seine Konfiguration wechseln - dafür genügen die üblichen thermischen Zusammenstöße mit anderen Molekülen; deswegen koexistieren die beiden Konfigurationen untrennbar. Dies war der Grundstein zur modernen Konformationslehre, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv entwickelt. (Als Konformation bezeichnet man eine räumliche Anordnung der Atome im Molekül, die durch Drehung um Einfachbindungen entsteht). Gleichzeitig bedeutete M.s Arbeit eine entscheidende Modernisierung der klassischen Spannungstheorie von Adolf v. Baeyer. Aufgrund dieser Modernisierung konnte M. auch die Existenz zweier spannungsfreie Stereoisomere von Dekalin (zehn Kohlenstoff-Atome in zwei sechsatomigen Ringen verbunden) voraussagen. 1923-1925 bestätigte Walter Hückel (1895-1973) diese Voraussage experimental. Seither nannte man die Konzeption der dreidimensionalen Konfiguration von vielen Ringsystemen "Sachse-Mohrsche-Theorie".

 

M. konnte sich nicht mehr an weiteren Diskussionen über das Problem beteiligen. Nach dem Tod seiner Frau, die sich um ihn gekümmert hatte, ging es mit seiner Gesundheit schnell abwärts. Zwar arbeitete er noch, "ein Kämpfer und ein Held" war er, "erschütternd war es, in den letzten Monaten zu sehen, wie der immer noch lebhafte Geist rang mit dem dahinwelkenden Körper", so ein Zeuge. Der Tod erlöste M. von seinen "mit fast übermenschlicher Seelenruhe" ertragenen Leiden.

 

 

M. hinterließ mehr als 50 Publikationen aus mehreren Gebieten der organischen und allgemeinen Chemie. Schon 1940 galt er als einer der "großen wissenschaftlichen Pioniere der modernen organischen Chemie" (Paul Walden). Ihm sind zu verdanken insbesondere bedeutende Experimentalarbeiten in der Chemie der zyklischen Verbindungen, eine tiefe Einsicht in die Rolle der sog. Keto-Enol-Tautomerie im Mechanismus vieler räumlicher Umlagerungen und die scharfsinnige Erklärung von komplizierten morphologischen Eigenschaften der Diamantenkristalle aus dem atomischen Raumgitter. Seine wichtigsten Ergebnisse - als Vorläufer der Konformationslehre - sind nicht nur in die Chemiegeschichte, sondern auch in heutige Lehrbücher eingegangen. Seine Beiträge zur Konformationslehre wurden 1987 in der ehrenvollen Reihe "Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften" herausgegeben.

Als "eine tiefe, allem Äußerlichen und Unwahren durchaus abholde Natur" (Stolle) bleibt M. ein Vorbild als Wissenschaftler und als Mensch.

 

 

Q UA Dresden: Auskunft vom 1.03.2007; UA Heidelberg: PA 5049; H-V 1/56, Nr. 4; StadtA Heidelberg: Auskunft vom 27.01.2006; GLA Karlsruhe: 235, Nr. 23/5.

 

 

W Über die Einwirkung von Diacetonitril auf Aldehyde, in: Journal für praktische Chemie 56, 1897, 124-142; Zur Theorie des asymmetrischen Kohlenstoffatoms, ebd. 68, 1903, 369-384; Spaltbarkeitsbeweis ohne direkte Spaltung u. ohne Zuhilfenahme optisch aktiver Substanzen, ebd. 71, 1905, 305-357; Über die Hofmannsche Reaktion, ebd., 72, 1905, 297-305; 73, 1906, 177-191, 228-238; 79, 1909, 281-329; 80, 1909, 1-33; Anleitung zum zweckmäßigen Rechnen bei chemischen präparativen Arbeiten, 1909; Fortschritte d. organischen Chemie, in: Chemiker-Ztg 36, 1912, 269f, 274-276, 286-288, 953f , 984f, 1027-1029; 37, 1913, 549f, 562-564, 590f; 38, 1914, 493f, 527-529, 570-572, 602f, 817; 40, 1916, 557-559, 579-581, 607f, 618-620, 646-648; Über die reversible Umlagerung mancher Carbonsäuren in Ketenhydrate, in: Journal für praktische Chemie 85, 1912, 334-336; Theorie des asymmtrischen Kohlenstoffatoms u. das Pasteursche Prinzip, ebd., 87, 1913, 91-95; Über Aminoalkylcrotonsäurenitrile u. Monoalkylacetessigsäurenitrile, ebd., 90, 1914, 189-222; Über 4-Alkyl-5-aminopyrazole, ebd., 223-250; Über Diazo- u. Azoverbindungen d. Pyrazolreihe, ebd., 509-546; Die Baeyerische Spannungstheorie u. die Struktur des Diamanten, in: Sitzungsberr. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., Abt. A, 1915, 7. Abh., 1915, 1-18; Zur Erinnerung an Ernst v. Meyer, in: Journal für praktische Chemie 95, 1917, 1-36, 132; Die Baeyerische Spannungstheorie u. die Struktur des Diamanten, ebd., 98, 1918, 315-353, auch in: Ostwalds Klassiker Nr. 274, 1987, 84-124; Zwei spannungsfreie Cycloheptanmodelle, ebd., 103, 1921/1922, 316-328, auch in: Ostwalds Klassiker Nr. 274, 1987, 127-139; Über die Genauigkeit d. Dumasschen Bestimmungsmethode des Stickstoff-Gehaltes sehr stickstoffreicher Verbindungen, in: Berr. d. Dt. Chem. Ges. 54, 1921, 2758-2767, 55, 1922, 597; Zur Theorie d. cis-trans-Isomerie des Dekahydronaphtalins, ebd. 55, 1922, 230f., auch in: Ostwalds Klassiker Nr. 274, 1987, 125f.; Über den Zusammenhang zwischen d. Struktur u. den morphologischen Merkmalen des Diamanten, in: Abhh. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Math.-naturwiss. Kl., Abt. A, 12. Abh., 1924, 1-43 + 100 Abbildungen auf 9 Tafeln; Über den Aufbau von Diamantkristallmodellen aus Diamantkohlenstoffatommodellen, in: Zs. für Kristallographie 60, 1924, 473-476.

 

 

L Poggendorffs biographisch-literarisches Handwörterbuch, IV, 1904, 1022; V, 1926, 867f.; VI, 3. Teil, 1938, 1761f.; R. Stollé, E. M.+, in: Berr. Dt. Chem. Ges. 59A, 1926, 39-41; O. Bertrand Ramsay, Konformationsstudien an cyclischen Verbindungen im 19. u. frühen 20. Jahrhundert, in: Chemiker-Zeitung 97, 1973, 573-582; Horst Remane, Die Arbeiten von E. M. (1873-1926), in: Zur Konformation des Cyclohexans. Zwei Arbeiten von Hermann Sachse u. drei Arbeiten von E. M. Ostwalds Klassiker d. exakten Wissenschaften Nr. 274, 1987, S. 21-28 (mit Bibliographie); H.-D. Schwarz, M., E., in: NDB,17, 1994, 703f.

 

 

B Ostwalds Klassiker, Nr. 274 (s. L), Vorsatz; UA Heidelberg (Pos I 02089)