Pfaundler, Leopold (seit 1910 Pfaundler von Hadermur), Chemiker und Physiker

 

*14. Febr. 1839, Innsbruck, kath., +6. Mai 1920, Graz

 

Leopold Pfaundler schuf 1867 molekular-kinetische Erklärung chemischer Reaktionen und Gleichgewichte

 

 

 


 

Ignaz Johann P. (1808-1861), Advokat in Innsbruck, 1858-1860 auch o. Prof. des österreichischen Zivilrechts an der Univ. Innsbruck

Rosine Bolland (+1892)

oo 2.Aug. 1869 Amalie Steffan (1843-?)

K Margarete, verh. Escherich (1870-1948); Meinhard P. (1872-1947), Prof. der

Kinderheilkunde; Richard P. (1882-1959)

 

 

1845-1848                                  Besuch der Volksschule in Innsbruck

1848-1856                                  Besuch des Gymnasiums in Innsbruck

1857-1860                                  Studium der Chemie an der Univ. Innsbruck

1859 III-VII                                    Freiwillige Teilnahme am norditalienischen Krieg

                                                                       Österreichs

1861                                            Sommersemester Studium der Chemie an der

                                                     Univ. München

1861 VII 26                                 Promotion zum Dr. phil. an der Univ. Innsbruck

                                                                      (ohne Dissertation)

1864, Herbst - 1865                  Studien in Paris

1866 III 23                                   Habilitation an der Univ. Innsbruck in der

                                                                      physikalischen Chemie

1866 VI - IX                                Freiwillige Teilnahme am Krieg als Oberleutnant

                                                                      der akademischen Kompanie

1867 VIII 24                                Ernennung zum o. Prof. der Physik an der Univ.

                                                                      Innsbruck

1870 VIII 21                                korrespondierendes Mitglied der Akademie der

                                                                     Wissenschaften zu Wien

1876 V                                       Teilnahme an der Ausstellung der physikalischen

                                                                     Apparate (London, South Kensington Museum)

1880/1881                                 Rektor der Universität

1887 VII 25                                wirkliches Mitglied der Akademie der

                                                                     Wissenschaften zu Wien

1891 III 17                                  Ernennung zum o. Prof. der Physik an der Univ.

                                                                     Graz

1900 Herbst                              Besuch der Weltausstellung und Teilnahme am

                                                                     Internationalen Physikalischen Kongress, Paris

1910 VIII                                     Emeritierung; Erhebung in den Adelstand

 

 

 

P. erhielt, nach seinen Worten, "eine sorgfältige Erziehung, die mein Vater mit großer Güte, meine Mutter oft mit Strenge führten". Seine Liebe zur Natur und seine ausgesprochene Fähigkeit zu zeichnen hatten ihre Wurzeln zuhause. Im Gymnasium hatte er das Glück, den bekannten österreichischen Naturwissenschaftler und Dichter Adolf Pichler als Lehrer in Naturgeschichte zu haben. Bereits als Schüler begann P. Experimente zu Hause "nachzumachen". Als er 1857 die Universität Innsbruck bezog, widmete er sich "mit Feuereifer", so er selbst, vor allem der Chemie. Sein vortrefflicher Lehrer, dem P. für die Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten bis zum Lebensende dankbar war, der Organiker Heinrich Hlasiwetz, zog P. zu seinen Forschungen schon im zweiten Jahre hinzu. Außerdem hörte P. Physik und Mathematik.

 

1859 wurde das Studium durch den norditalienischen Krieg Österreichs unterbrochen, an dem P. als freiwilliger Schütze der Innsbrucker Akademischen Legion teilnahm. Dabei fand P. Interesse an trigonometrischen Höhenmessungen und geodätischen Aufnahmen. Wegen des Geldmangels konstruierte und verfertigte er das dazu notwendige Instrument selbst, so wie er später physikalische Apparate und Vorrichtungen erfand.1860 publizierte er seinen ersten Artikel gerade über "Einige Höhenbestimmungen aus dem Gleirsch- und Hinterauthale". (Auch später, im Sommer 1863 beschäftigte sich P. mit ähnlichen Untersuchungen der Stubaieren Gebirgsgruppe). Sehr bald folgten die Publikationen über Pflanzenchemieforschungen, die P. als Student bei Hlasiwetz ausführte.

Im Sommersemester 1861 studierte P. Chemie in München bei J. Liebig. Im selben Jahr wurde er an der Univ. Innsbruck mit Auszeichnung zum Dr. phil. promoviert und blieb weiter bei Hlasiwetz, insgesamt 13 Semester. Anschließend studierte er Chemie und Physik in Paris, besonders bei Ad. Würtz und H. V. Regnault. Er hörte auch H. Saint-Clair-Deville und M. Berthelot. Hier ließ er sich durch die "chemische Mechanik", Vorläuferin der klassischen physikalischen Chemie begeistern.

 

Im Frühjahr 1866 habilitierte sich P. in Innsbruck als Privatdozent für physikalische Chemie mit einer ungedruckten Arbeit über "Verbindungen nach unbestimmten Verhältnissen". In dieser Eigenschaft blieb er nur drei Semester (von denen er drei Monate wieder im Feld gewesen war!). Aber gerade auf diese Periode fällt seine wichtigste Arbeit "Beiträge zur chemischen Statik", die im Juni 1867 publiziert wurde.

 

Im Herbst desselben Jahres wurde P. zum Nachfolger seines Physikprofessors ernannt. Er las Experimentalphysik, Elementarphysik für Pharmazeuten und Lehramtskandidaten, gelegentlich auch "Elemente der mathematischen Geographie". Seine Vorlesungen waren immer klar und von ausgezeichneten Demonstrationen begleitet. Das fand seine Fortsetzung in seinen wissenschaftlich-populären Vorträgen, aber auch in seinen Publikationen: Dafür hatte er eine ausgeprägte Ader. Allein in Innsbruck, wo er den naturwissenschftlich-medizinischen Verein gründete, hat er etwa 30 Vorträge gehalten.

 

Während der ganzen Zeit seiner Professur in Innsbruck bemühte sich P. vergeblich den mangelhaften Zustand seines Institutes zu verbessern. Ab Mitte 1870s wurde "das Arbeiten fast unleidlich", so P., wegen der sauren Dämpfe des darunter befindlichen Laboratoriums. P. sah sich zu rein literarischer Arbeit gezwungen. Er bearbeitete neu die 8. (1877-1882), die 9. (1886-1898) und später teilweise die 10. (1906-1914) Auflage des "Lehrbuchs der Physik und Meteorologie" von Müller-Pouillet, referierte für die Zeitschrift "Fortschritte der Physik" und schrieb populär-wissenschaftliche Artikel.

 

1891 wurde P. Nachfolger L. Boltzmanns an der Univ. Graz und las wieder seinen Experimentalphysikkursus. Auch in Graz waren die Umstände für das Experimentieren sehr ungünstig wegen der Bauarbeiten in der Universität und der neu errichteten "elektrischen Tramway". P. benutzte die erzwungenen Unterbrechungen zum Erlernen der Photographie. Er wendete das neue Können bei Demonstrationen im Unterricht, aber auch in der Freizeit an. Er wurde Präsident des Grazer Amateurphotoklubs und veranstaltete dort große internationale Ausstellungen. Aus seinen zahllosen Ferienreisen, insbesondere auf den Balkan, brachte er Tausende von Aufnahmen mit. 1901 bekam er dafür die silberne Medaille einer internationalen Photoausstellung.

 

Mit 71 Jahren emeritierte sich P.. Zu diesem Anlass wurde er in den Adelstand mit dem Prädikat "von Hadermur" erhoben. Viele Auszeichnungen als Wissenschaftler, aber auch als Kriegsteilnehmer waren ihm zuteil geworden. "Im persönlichen Verkehr war Pfaundler von außerordentlicher Liebenswürdigkeit und seltener Herzensgüte, voll wärmster Teilnahme an fremdem Wohl und Weh", so ein Zeitgenosse. Er war "zärtlicher Familienvater" und hatte einen großen Kreis von Freunden. Seine ausführliche Selbstbiographie, die er mit 78 Jahren verfasste, zeigt seinen jugendlich gebliebenen Geist.

 

 

Von P. stammen etwa 110 Artikel sowie 10 Bücher und Broschüren. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann er als Chemiker; nicht umsonst wurde er Mitglied der Pariser "Societé chimique" (1865) und der "Deutschen Chemischen Gesellschaft" (1870). Besonders zur Chemie konnte er einen bedeutenden theoretischen Beitrag erbringen: Er formulierte die molekular-kinetische Erklärung des Phänomens der chemischen Gleichgewichte (1867). Er ging von der Annahme aus, dass "sich gleichzeitig nicht alle Moleküle in demselben Bewegungszustand befinden". (Die ursprüngliche Idee über die Ungleichheit der Bewegungszustände stammt von R. Clausius, sie wurde aber durch P. verallgemeinert). Daraus folgt direkt die Möglichkeit der Dissoziation (d.h. der umkehrbaren teilweisen Zerlegung) einer Verbindung. Darüber hinaus wurde die Bildung von "momentan erstandenen... zusammengesetzten Molekülen" vorausgesetzt. Diese zerfallen entweder in die Moleküle der Endprodukte oder in Ausgangsmoleküle, je nach dem entsprechenden Bewegungszustand: Eine Vorstellung, die den Übergangskomplexen der chemischen Kinetik vorgreift. Später bezeichnete P. seine molekular-kinetische Darstellung als "Kampf ums Dasein" unter Molekülen. Seine darwinistische Interpretation chemischer Vorgänge brachte allerdings keine neuen Einblicke ins Verständnis des chemischen Gleichgewichts, machte aber seine Hauptleistung bekannter. (Darwinistisch gefärbt sind auch spätere Äußerungen P.s, insbesondere seine wissenschaftlich-populären Schriften.)

P. versuchte auch, sein "Prinzip der ungleichen Molekularzustände" für eine Erklärung der verschiedenen Erscheinungen der Kristallisation anzuwenden, blieb aber bei ziemlich naiven qualitativen Betrachtungen stehen.

Nachdem P. Physikprofessor geworden war, änderte sich sein Arbeitsfeld allmählich von der Chemie zur Physik. Bei günstigeren Arbeitsbedingungen hätte er auch in der Experimentalphysik Bedeutendes geschaffen, wie insbesondere seine erstmalige Erzeugung eines kontinuierlichen elektrischen Stroms durch Umnutzung eines Elektromotors als Generator zeigt (1870), was leider nicht weiter entwickelt wurde. Tatsächlich, sollte sich P. meistens mit Erfindungen physikalischen Instrumente für Demonstrationen beim Unterricht begnügen. Unter seinen zahlreichen Erfindungen seien erwähnt: Ein Temperaturregulator (1863), ein Stromkalorimeter (1869), ein Differentialluftthermometer (1875), einen Seismographen (1897) und einen Distanzmesser (1915); diese und viele andere seiner Apparate wurden im genannten "Lehrbuch der Physik und Meteorologie" beschrieben.

In der Geschichte der Naturwissenschaft bleibt Pfaundlers Name aber dank seiner "Beiträge zur chemischen Statik", die über Jahrzehnte die Entwicklung der physikalischen Chemie beeinflusst hatten, erhalten.

 

 

Q Bibliothek der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Personalakten); UA Innsbruck (Auskünfte)

 

 

W Über die Produkte der Einwirkung des Phosphorchlorides auf Campher. Liebigs Ann. Chem., 1860, 115, 29-37; Beiträge zur Kenntnis einiger Fluorverbindungen. Sitzungsber. d. Akad. Wiss. Wien, Math.-naturw. Kl. (Abt. 2), 1863, 46, 258-275; Die Stubaier Gebirgsgruppe hypsometrisch und orographisch bearbeitet (mit L. Barth), Innsbruck, 1865; Beiträge zur chemischen Statik. Poggendorffs Ann. der Physik und Chemie, 1867, 131, 55-85; Der "Kampf ums Dasein" unter den Molekülen; ein weiterer Beitrag zur chemischen Statik. Ebd., 1874, Jubelband, 182-198; Über die ungleiche Löslichkeit der verschiedenen Flächen eines und desselben Krystalls und den Zusammenhang dieser Erscheinung mit allgemeinen naturwissenschaftlichen Principien. Sitzungsber. d. Akad. Wiss. Wien, Math.-naturw. Kl. (Abt. 2), 1876, 72, 61-64; Über das Wesen des weichen oder halbflüssigen Aggregatzustandes; über Regelation und Rekrystallisation. Ebd., 1876, 73, 249-266; Das Princip der ungleichen Molekülzustände angewendet zur Erklärung der übersättigten Lösungen, der überschmolzenen Körper, der Siedeverzüge, der spontanen Explosionen und des Krystallinischwerden amorpher Körper. Ebd., 574-583; Über A. Horstmanns Dissociationstheorie und über die Dissociation fester Körper. Ber. Dt. Chem. Ges., 1876, 9, 1152-1157; Über die Berechnung der Temperaturcorrection bei calorimetrischen Messungen. Wiedemanns Ann. Phys. Chem., 1880, 11, 237-246; Die Entwertung der Materie. Almanach d. Kais. Akad. Wiss. Wien, 1888, 38, 229-260; Die Weltwirtschaft im Lichte der Physik. Deutsche Revue, 1902, Jg. 27, Bd. 2, S. 29-38, 171-182; Die Physik des täglichen Lebens, 1904, 5. Aufl. 1922; Internationales photographisches Lexikon in Ido [eine Variante der Esperanto], Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch, Jena, 1914.

 

 

L Poggendorffs Biogr.-lit. Handwörterbuch, Bd. III, S. 1033, Bd. IV, S. 1151, Bd. V, S. 966; Leopold Pfaundler +. Almanach d. Kais. Akad. Wiss. Wien, 1920, 70, 117-120 (mit Bild); R. Steinmacher, in: F. Huter (Hrsg.), Die Fächer Mathematik Physik und Chemie an der Philosophischen Fakultät zu Innsbruck bis 1945, Innsbruck, 1971, S. 78-81; E. W. Lund, "Activated complex": a centenary? Journ. of Chem. Education, 1968, 45, 125-128; H. A. M. Snelders, Dissociation, Darvinism and Entropy, Janus, 1977, 64, 51-75; W. Höflechner, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. VIII (1983), S. 26-27; A. Kipnis, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20 (2001), S.302-303.