GoldschmidtVictor Mordehai, Mineraloge, Kristallograph, Naturphilosoph und Mäzen.

 

*10. Febr. 1853, Mainz, isr., ab 1888? ev., +8. Mai 1933, Salzburg
 

Eine etwas verkürzte Version wurde in den "Badischen Biographien, Neue Folge", Bd. V (2005), S. 96-98  publiziert.

 

 

 

Salomon Benedict Goldschmidt (1818-1906), Kaufmann 

M Josefine Porges Edle von Portheim (1823-1869) 
G Clara Regine (1847-? heir. Dr. Gotthilf Meyer); Emil Benedict (1848-?); Pauline Esther (1850-? heir. Fritz Brandeis)); Ernst Gabriel (1851-1935); Adele Sara (1854-? heir. Dr. Max v. der Porten); Eduard Isaak (1857-?)

 

oo in Prag 28. Dezember 1888 Leontine von Portheim (1863-1942) 
K keine

 

 

1870                                         Abschluss des Gymnasiums in Mainz 
1870-1871                               Studium an der Gewerbeakademie zu Berlin 
1871-1874                               Studium an der Bergakademie zu Freiberg;

                                                  Abschluss mit dem Diplom eines Hütten-Ingenieurs

                                                  23. Nov. 1874 
1874-1875                               Militärdienst als Freiwilliger beim Sächsischen

                                                  Feld-Artillerie-Regiment Nr. 28 
1875-1878                               Assistent für Hüttenkunde an der Bergakademie

                                                  Freiberg 
1878 XI -1879 III                      Studium der Chemie und der Paläontologie an der

                                                  Univ. München 
1879 V -1880 VIII                    Studium der Chemie, der Mineralogie und der

                                                  Physik an der Univ. Heidelberg; Promotion zum Dr. 

                                                  phil. 5. Aug. 1880; Diss.: "Über Verwendbarkeit

                                                  einer Kaliumquecksilberchloridlösung bei

                                                  mineralogischen und petrographischen

                                                  Untersuchungen"

1882-1887                               Selbständige Studien in der Kristallographie in

                                                  Wien 
1888 II                                       Habilitation für Mineralogie an der Univ. Heidelberg;

                                                  Habilitationsschrift: "Über Projektion und 

                                                  graphische Krystallberechnung"; Probevorlesung 

                                                  (16. Febr. 1888): "Die Krystallographie, ihr Wesen

                                                  und ihre Bildung"

1892 VII                                    a.o. Professor für Mineralogie an der Univ.

                                                  Heidelberg 
1894-1895                               Weltreise mit wissenschaftlichen Aufgaben 
1909 I                                        o. Honorarprofessor an der Univ. Heidelberg 
1917 XII                                    Geheimer Hofrat 
1919 IV                                     Gründung der Josefine und Eduard von Portheim

                                                  Stiftung 
1933 IV                                     Entlfernung aus der Universität

 

 

Ehrungen, insb.: 1904 Dr. jur. h. c. der Univ. Kingston in Kanada; 1905 Korr. Mitglied d. Akad. Wiss. Turin; 1912 Ehrenmitglied d. Mineralogischen Ges. London; 1912 Korr. Mitglied d. Akad. Wiss. St. Petersburg; 1913 a. o. Mitglied d. Heidelberger Akad. Wiss.; 1914 Auswärtiges Mitglied d. Amerikanischen Akad. d. Künste u. Wiss., Boston; 1923 Dr.-Ing. h. c. d. Bergakademie Freiberg; 1928 Korr. Mitglied d. Akad. Wiss. Barcelona; 1933 Ehrenmitglied d. Wiener Mineralogischen Ges.

 

 

G. wurde als fünftes von sieben Geschwistern in eine wohlhabende großkaufmännische Familie geboren. Schon in seinen Schuljahren - er besuchte zuerst die höhere Bürgerschule in Wiesbaden, dann das Großherzogliche Gymnasium in Mainz - zeigte er gute Begabungen besonders in der Mathematik und in den Sprachen. Mit 17 Jahren schloss er das Gymnasium als einer der besten ab. Auf Wunsch des Vaters, der Eisenhandel en gros besaß, sollte G. Hütteningenieur werden. Zuerst bezog G. die Gewerbeakademie zu Berlin, nach zwei Semestern aber vertauschte er die hektische Großstadt mit dem stillen Freiberg in Sachsen, wo er an der Bergakademie studierte. Hier kam G. zum ersten Mal in Berührung mit der Mineralogie, besonders bei seinen Lehrern Th. Richter und A. Weisbach. (Dem letzteren widmete G. später sein erstes großes Werk, "Index der Kristallformen" und noch später den gefühlstiefen Nachruf). 
Nach dem Abschluss und der Erfüllung der Militärpflicht arbeitete G. noch ein Jahr an der Bergakademie als Assistent für Hüttenkunde, setzte dann aber sein Wunsch durch, weiter zu studieren. Einem Semester in München folgten Studium und Promotion in der Mineralogie an der Universität Heidelberg bei H. Rosenbusch. Anschließend lebte G. in Wien, wo er sich selbständig mit der Kristallographie beschäftigte. 1887 kam G. wieder nach Heidelberg, um sich hier als Dozent zu niederlassen. Seine Habilitationsschrift ist ein schon reifes und originelles Werk in der Kristallographie.


Nach der Habilitation heiratete G. seine Kusine Leontine, Tochter des Bruders seiner Mutter, Böhmischen Textilfabrikanten, Eduard Porges Ritter von Portheim. Sie wurde ihm eine treue Lebensgefährtin und Mitarbeiterin. (Sie war katholisch, so ist es wahrscheinlich, dass G.s Konversion zum Christentum vor der Hochzeit stattfand).


Seine Lehr- und Forschungstätigkeit führte G. zuerst im Privatlabor in der eigenen Wohnung durch, ab Herbst 1895 im "Mineralogisch-kristallographischen Institut", das er privat eingerichtet hatte. G. unterrichtete jahrzehntenlang zwei Kurse für ein paar Studenten: "Lötrohranalyse" und "Messen, Berechnen und Zeichnen der Kristalle". Für den letzten Kurs erarbeitete er die neuen Methoden der graphischen Darstellung der Kristalle und erfand eine Reihe Instrumente, von denen das zweikreisige Goniometer besonders bekannt wurde. (Das erste Modell stammt aus dem Jahr 1892, es wurde während dreißig Jahren nach und nach verbessert). G. vermied große Vorlesungen zu Gunsten der praktischen Forschungsarbeit mit den Studenten. (Eine der Arbeitsregeln seines Instituts lautete: "Mache alles, auch das Kleinste, als wäre es für die Ewigkeit und sei jeden Augenblick bereit, es besserem zu opfern"). G.s Ansätze und Lehrmethoden erwarben ihm bald Ansehen im Ausland und er hatte immer Studenten und Mitarbeiter aus aller Welt, die unter seiner väterlichen Leitung ein reges wissenschaftliches Leben führten. G. wusste, dass in der Kristallometrie "ein gut Stück Pädagogik" liegt. Hunderte seiner Schüler waren ihm für die Erziehung zu feiner und kritischer Arbeit dankbar.


G. betrachtete Kristallographie im Zusammenhang mit anderen Wissensbereichen, so dass sie die "Königin der Wissenschaften" für ihn war. Durch Kristallographie kam er zur Naturphilosophie, wo er sich besonders mit Problemen der Harmonie in der Welt beschäftigte. Vom Standpunkt seines "Komplikationsgesetzes", das er zuerst im Bereich der Kristalle empirisch entdeckte, versuchte G. die Harmonie in der Musik, in der bildenden Kunst, aber auch im Sonnensystem darzustellen und überhaupt "verschiedene Wissenschaften durch ein geistigen Band zu verknüpfen". Seine Übertragungen auf andere Bereiche werden noch heute diskutiert.


G. war nicht nur Forscher und Lehrer, sondern auch Kenner der schönen Künste und leidenschaftlicher Sammler. Er begann mit Sammlungen schöner Kristalle und weitete sie auf die Volkskunst aus. Auf einer Weltreise 1894/95 über Nordamerika nach Japan, Indien und Ägypten hatte er den Grundstock seiner breit angelegten Sammlungen gelegt, die er fast bis zum Lebensende erweiterte. 1919 (die Vorarbeit begann schon 1916) gründete die Familie G. die "Josefine und Eduard von Portheim Stiftung für Wissenschaft und Kunst" (nach seiner Mutter und ihrem Vater benannt), wofür der größere Teil, und zwar 2 Mio. Goldmark, ihres bedeutenden Vermögens aufging. An die Stiftung wurden u. a. das Mineralogisch-kristallographische Institut und die ethnographischen und Volkskunstsammlungen angeschlossen. Die Stiftung gab "Heidelberger Akten" heraus, wo weit gefächerte Arbeiten über Kultur und Wissenschaft erschienen. Zum 75. Geburtstag G.s druckte die Stiftung eine internationale Festschrift. (Heute existiert noch das Völkerkundemuseum der von-Portheim-Stiftung in Heidelberg).


G. war ein äußerst gütiger und hilfsbereiter Mensch. Jedoch, bei allem äußerlichen Wohl verlief das Leben G.s nicht so immer glatt, wie es öfters dargestellt wurde. Von Anfang an traf er auf tiefes Unverständnis, ja feindliche Abneigung gegenüber seinen Ideen von der Seite der meisten Fachleute in Deutschland, insbesondere in Heidelberg, wo ihm H. Rosenbusch Widerstand leistete (dazu trug bei, dass Rosenbusch strenger Protestant war, dem G.s jüdische Abstammung und seine eher kosmopolitischen Bestrebungen zuwider gingen). Die Universität unterstützte G. kaum, etatmäßiger Dozent wurde er nie, in der Universität blieb er Außenseiter. Nur dank seinem Vermögen konnte er lehren und forschen.

G.s letzte Jahren waren durch den Vormarsch des Nationalsozialismus, auch in seiner Umgebung, verdüstert, was seinen Tod beschleunigte. Leontine G., um die Deportation zu vermeiden, beging Selbstmord. Ihr gesamter Haushalt, der auch G.s Nachlass enthielt, geriet an die Gestapo; nach einem Gesuch des Mineralogischen Instituts wurde ihm ein Teil des Nachlasses übergeben, der andere Teil ist verloren.

 

 

Von G.s knapp 200 Publikationen gehört der Hauptteil zur Kristallographie, zu der er von der reinen Mineralogie bald übergegangen war. (Charakteristisch ist, dass seine erste These bei der Habilitationsdisputation fragwürdigerweise lautete: "Es gibt keine amorphen Mineralien"). Bereits früh entdeckte G. für sich die Hauptaufgabe der Kristallographie als "die Ergründung des molekularen Aufbaues der festen Körper und die Ermittlung der Intensität und der Wirkungsweise der molekularen Kräfte". Als eines der Mittel zur Lösung dieser Aufgabe sah er die systematische Untersuchung der Kristallformen. Damit sollten erstens "Einheiten und Gesetzmäßigkeiten" für alle Formen desselben Mineralkörpers abgeleitet und zweitens, die gewonnenen Gesetzmäßigkeiten für verschiedene Körper verglichen werden. Auf diesem Weg erschien G.s "Trilogie" - zuerst der dreibändige "Index der Kristallformen", dann "Kristallographische Winkeltabellen" und endlich der monumentale "Atlas der Kristallformen". Die Ergebnisse dieser etwa 40jährigen beharrlichen Arbeit betrachtete G. nur als "Werkzeug" zur Lösung der formulierten Hauptaufgabe. Als weiteres Mittel zur Erreichung seines Ziels benutzte er Ätzen und Lösen der kristallinischer Stoffe auf der Kugelform, die aus Mineralien erschliffen wurde. Hier war ihm hinderlich die allzu buchstäblich verstandene Analogie mit den Formen der Verwitterung und Zerstörung auf der Erdoberfläche. Dennoch bleibt seine Idee richtig, dass die Vielfalt der kristallmorphologischen Erscheinungen durch Wachstums- und Auflösungsvorgänge erklärt werden kann. G. nannte man den "Linné der Kristallographie", was jedoch nur teilweise seine Verdienste widerspiegelt: In der Geschichte der Wissenschaft gilt G. als ein Begründer der modernen Kristallographie in dem Sinne, dass sein Werk wesentlich zur Ausbildung einer selbständigen Wissenschaft beitrug und den Übergang zur röntgenographischen Ära ermöglichte.

 

 

UA Heidelberg: A-702/121; PA 3943; Rep. 27-409; H-IV-102/93, Nr. 50; H-IV-102/119, Nr. 31; Rep. 44 (Nachlass Goldschmidt); HAW, Nr. 180; StA Heidelberg ZGS 1/93; UB Heidelberg, Hs. 3833; Hs. 3695

 

 

W Über Bestimmung des Gewichtes kleiner Silber- und Goldkörner mit Hülfe des Mikroskops, Zs. analyt. Chem., 1877, 16, 434-448; Unterscheidung der Zeolithe vor dem Lötrohr, ebd. 1878, 17, 266-275; Chemisch-mineralogische Betrachtungen. Zs. f. Kristallographie, 1889, 17, 25-66; Index der Krystallformen, 3 Bde., 1886-1891; Goniometer mit zwei Kreisen, Zs. f. Kristallographie, 1893, 21, 210-242; Über Entwicklung der Krystallformen, ebd. 1897, 28, 1-35, 414-451; Krystallographische Winkeltabellen, 1897; Über Harmonie und Complication, 1901; Albin Weisbach +, Centalbl. f. Mineralogie, 1902, 417-425; Über das Wesen der Krystalle, Ann. d. Naturphilosophie, 1910, 9, 120-139, 368-419; Der Diamant (mit A. Fersman), 1911; Atlas der Krystallformen, 9 Bde., 1913-1923; Materialien zur Musiklehre. Heidelberger Akten der von-Portheim-Stiftung, 1923, H. 5, 1-136, 1924, H. 8, 137-256, H. 9, 257-361, H. 11, 363-480, 1925, H. 14, 481-560, H. 15, 561-719; Betrachtungen zur Krystallographischen Systematik, Beiträge zur Krystallographie und Mineralogie, 1934, Bd. III, 113-142; Kursus der Krystallometrie, 1934; Vorlesungen über Naturphilosophie (hg. von Franz Posch), 1935.

 

 

L Festschrift zum 75. Geburtstage von Victor Goldschmidt, Heidelberg, 1928 (mit Bild und Bibliographie); J. C. Poggendorff, Biographisch-literarisches Handwörterbuch, Bd. III, 530 (1898), Bd. IV, 510 (1904), Bd. V, 435-436 (1926), Bd. VI, 918 (1937), Bd. VIIa, T. 2, 236 (1958); H. Himmel, V. G. zum Gedächtnis, Zentralblatt f. Mineralogie, 1933, Abt. A, 391-398; A. E. H. Tutton, V. G. +, Nature, 1933, 131, 791-792; Ch. Palache, V. G.+, Amer. Mineralogist, 1934, 19, 106-111 (mit Bild und Bibliographie); A. E. Fersman, V. G. (1853-1933), Fortschritte d. Mineralogie, 1959, 37, 207-212; G. C. Amstutz, G., Dictionary of Scientific Biography, 5, 455-456 (1972); F. Hermann, G., NDB, 6, 612 (1964); W. Berdesinski, V. G., Semper Apertus, Bd. II, 506-515 (1985); C. Schlichtenberger. Die Ordnung der Welt: Die Sammlungs-Grammatik Victor Goldschmidts. 1998 (mit Bilder).

 

 

B UA Heidelberg: Rep 18-253, Alb 42 00042 (Photo ca 1928); s. L; Rhein-Neckar-Zeitung, 1995, 2. Nov., Nr. 253, S.10; Ber. der Dt. Mineralogischen Ges., Beih. zu Eur. J. Miner., 2001, vol. 13, S. 7, 8.