Gattermann, Friedrich August Ludwig, Chemiker

 

* 20.4.1860 Goslar, ev., + 20.6.1920 Freiburg i. Br.
 

Eine etwas verkürzte Version wurde in den "Badischen Biographien, Neue Folge", Bd. V (2005), S. 8 9-91  publiziert.

 

 

 

V Heinrich Fritz Wilhelm G. (1827-nach 1898), Bäckermeister und Kaufmann in Goslar 

M Marie Dorothea Luise, geb. Creutzburg (1838-?) 
G Bertha Karoline Auguste Anna (1862-?); Friedrich Wilhelm Hermann (1863-1864); Auguste Mathilde Friederike (1865-1866); Frieda Marie Auguste Ernestine (1868-?) 
oo 7.03.1893 in Heidelberg Katharina (Käthe) Auguste Krausse (1869-nach 1925); (1918 - Scheidung) 
K Elsa Marie G. (1895-1989)

 

 

1867-1880                                    Besuch des Realgymnasiums in Goslar

 

1880 IV - 1881 III                          Einjähriger freiwilliger Militärdienst in Leipzig; 
                                                       gleichzeitig - Studium an der Universität Leipzig

 

1881-1882                                    Studium an der Universität Heidelberg

 

1882/1883 WS                             Studium an der Universität Berlin

 

1883 IV - 1885 II 18                      Studium und Promotion zum Dr. phil. an der

                                                        Universität Göttingen; Inaugural-Dissertation

                                                       "Über einige Derivate des m-Nitro-p-Toluidins" 
1884 I 1                                          Assistent zu chemischem Laboratorium an der

                                                        Universität Göttingen 
1886 VI 28                                     Habilitation ebda. aufgrund der publizierten

                                                        Arbeiten; Probevorlesung: "Über das

                                                        periodische System der Elemente" 
1889 VI 7                                       a.o. Professor und stellvertretender Direktor des

                                                        chemischen Laboratoriums an der Universität

                                                        Heidelberg 
1898 XII                                          etatmäßiger a.o. Professor für organische

                                                        Chemie ebda. 
1900 III 24                                      o. Professor und Direktor des chemischen

                                                        Instituts an der philosophischen Fakultät der

                                                        Universität Freiburg 
1901 II 28                                       Eintrittsvorlesung "Experimentelle Erläuterungen

                                                        zu Goethe's Wahlverwandtschaften (1. Theil, 4.

                                                        Kapitel)" 
1909                                               Mitglied der Akademie der Wissenschaften

                                                        Heidelberg 
1914                                               Geheimer Hofrat 
1917 XII 6                                       Mitglied des Ausschusses des Vereins

                                                        Deutscher Chemiker

 


G. stammt aus einer kaufmännischen Familie in Goslar. Dort besuchte er das Realgymnasium und bereits während der Schulzeit zeigte er eine große Begabung und Neigung besonders zur Chemie. Später widmete er seine Promotionsarbeit seinem ersten Chemielehrer J. Hormann. 
Nach dem Abschluß, im Frühjahr 1880, ging G. nach Leipzig, wo er gleichzeitig Naturwissen-schaften (Physik , Chemie und Mineralogie) an der Universität studierte und seiner Militärpflicht genügte. Gegenüber dem Militärdienst hatte er eine Abneigung und brachte es nach den notwendigsten Übungen nur zum Unteroffizier. Als sein einjähriger Dienst zum Ende ging, begann G. zielstrebig, Chemie zu studieren, zuerst in Heidelberg bei Bunsen und Bernthsen, danach in Berlin bei Liebermann und schließlich in Göttingen. Er besaß ein seltenes Beobachtungsvermögen, das ihm erlaubte, bereits in Berlin seine erste kleine Entdeckung in der organischen Chemie (Salzbildung beim Tribromanilin) zu machen.


In Göttingen arbeitete G. ab seinem Studienanfang als "Hülfsassistent" im chemischen Laboratorium, nach einigen Monaten wurde er zum ordentlichen Assistenten befördert. Für den neuen Chemieprofessor Victor Meyer wird G. bald unentbehrlich als Vorlesungsassistent und als absolut zulässiger Vertreter beim Neubau des chemischen Laboratoriums. Es ist erstaunlich, daß ein mit solchen Pflichten belasteter Mensch einige gute Arbeiten in der organischen Chemie durchführen konnte: Er fand insbesondere seine Methode zur Darstellung aromatischer Karbonsäuren.


V. Meyer, für den G. zur "rechten Hand" wurde, unterstützte G.'s Habilitation aufgrund seiner publizierten Arbeiten. Diese Arbeiten, so Meyer, beweisen "Forschungsgabe" und "Lehrtalent" ihres Urhebers, der "schon jetzt als tüchtiger und gewandter Laboratoriumsleiter" charakterisiert werden kann. G. war damals aber so beansprucht, daß er als Privat-Dozent überwiegend im Labor wirkte.


Als V. Meyer nach Heidelberg auf den Lehrstuhl Bunsens ging, nahm er G. mit, wobei G. eine außerordentliche Professur erhielt und als stellvertretender Direktor des chemischen Instituts fungierte. Auch hier sollte er die schwierige Aufgabe eines Neubaus auf sich nehmen ohne seinen Dienst als Vorlesungsassistent aufzugeben. Letzterer kam erst 1892 zum Ende. Im Praktikum führte G. "Theoretische und experimentelle Einführung in das organische Arbeiten" durch, woraus sein berühmtes Lehrbuch "Die Praxis des organischen Chemikers" entstand, das er und seine Schüler immer "Kochbuch" nannten. G.'s Vorlesungen schlossen die "Chemie der Benzolderivate" und die "Chemie der Teerfarbstoffe" ein. Beide Kurse standen teilweise im Zusammenhang mit noch einer anderen Seite seiner Tätigkeit: Seit Anfang 1888 und bis ans Lebensende hatte G. enge Beziehungen zu den Fabriken "Friedrich Bayer & Co" in Elberfeld. Daher stammten seine zahlreichen Arbeiten über Azo- und Diazoverbindungen, über Antrachinon-Abkömmlinge und über andere Farbstoffe, die teilweise zusammen mit dem Fabrik-Direktor R. E. Schmidt publiziert wurden. Es ist auch zu erwähnen, daß G. seit 1895 gerichts-chemische Fragen bearbeitete.


1900 wurde G. als Ordinarius und Direktor des chemischen Instituts an die philosophische Fakultät der Universität Freiburg berufen. (Damals gab es in Freiburg zwei chemische Institute und Lehrstühle - bei der philosophischen und bei der medizinischen Fakultät.) 
In Freiburg konnte G. nicht mehr eine solch erstaunliche Produktivität entwickeln: Auf die Freiburger Periode fallen nur elf von seinen ca. 80 Artikeln. Offensichtlich wirkte die enorme vorherige Überlastung, die Krankheiten, die wegen der ständigen Arbeit mit giftigen und schädlichen Substanzen sich entwickelten, aber auch Familienstreit, der zur Scheidung führte. Trotzdem arbeitete G. im Labor täglich und erfüllte umfangreiche Unterrichts- wie auch organisatorische Verpflichtungen. Diese wurden besonders kompliziert während des Krieges. G. ersann Wege, mit knappsten Mitteln Unterricht fortzusetzen; insbesondere entwickelte er neue Methoden, mit wenig Substanz und wenig Heizung - in den kleinsten Gefäßen mit Mikroflammen - Reaktionen durchzuführen.


Als Lehrer verstand G. es, seine Praktikanten "unermüdlich und in immer gleichbleibender Freundlichkeit" zu ihren Übungs- und wissenschaftlichen Arbeiten anzuleiten. Etwa 2/3 seiner Artikel publizierte er zusammen mit seinen Schülern. Wen er als ernsthaften Arbeiter erkannt hatte, förderte er, wo er nur konnte; seine zahlreichen Schüler aus Deutschland, aber auch aus dem Ausland arbeiteten erfolgreich überall in der chemischen Industrie.".


G. lieferte bedeutende Beiträge für die anorganische, organische und analytische Chemie. In der Geschichte der Chemie verbleibt er allererst aber dank seinen ausgezeichneten Ergebnisse in der präparativen organischen und anorganischen Chemie. So konnte er als erster den reinen Chlorstickstoff herstellen und dessen bisher vermutete Formel (NCl3) beweisen. (Da NCl3 extrem explosiv ist, machte dieser Erfolg G.'s Name schon 1888 weltbekannt). G. entdeckte und/oder erforschte als erster einige neue anorganische Stoffe (Si2Cl6, Si3Cl8, P2H4, BCl3, Kieselsäuren). 1890 erhielt er die ersten weiteren Vertreter der eben "geborenen" sog. flüssigen Kristallen (s. bei O. Lehmann). Im Laufe seiner Forschungen erfand G. eine Menge von Arbeitsmethoden, die in seinem oben erwähnten "Kochbuch" zusammengestellt wurden. Dieses Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt, erhielt 14 Auflagen bereits während G.'s Lebenszeit (G. selbst konnte auch die 15. Auflage zum Druck vorbereiten, erlebte sie aber nicht mehr), in weiteren Bearbeitungen wird es bis in die Gegenwart im chemischen Unterricht benutzt.

 

Unter G.'s besonders wichtigen methodischen Neuheiten seien folgende erwähnt: Ein Apparat zur Stickstoff-Bestimmung; "Bombenofen" mit verstellbaren Brennerröhren; "Gatterman-Kupfer" - ein Katalysator aus besonders fein verteiltem Kupfer, der zu Diazoreaktionen verwendet wird; eine elegante Darstellungsmethode für Bor- und Siliziumverbindungen. Seine bekannteste Leistung ist aber die sog. "Gattermannsche Synthese" - eine sehr effektive Methode zur Herstellung der aromatischen Aldehyde aus aromatischer Kohlenwasserstoffen unter Benutzung des Aluminiumchlorids als Katalysator. Diese Methode fand G. 1897 (nicht 1898, wie man üblich schreibt!) und arbeitete damit während der nächsten 15 Jahre. Sie ist noch heute im Gebrauch.

 

Als Mensch war G. gründlich, verläßlich und freundlich. "Der Grundzug seines Wesens war, so sein junger Kollege, eine stille Güte und freundliche Milde".


StadtA Goslar (Auskunft); UA Göttingen (Philos. Fak., Dekanatsakten Nr. 170, Nr.171a); UA Heidelberg (Matrikel; PA 1599); StadtA Heidelberg (Auskunft); UA Freiburg (B24 Nr. 298; B15 Nr. 541).

 

 

Über die Salzbildung des symmetrischen Tribromanilins, Ber. Dt. Chem. Ges., 1883, 16, 634-636; Über eine Modification des Schiff'schen Apparates zur volumetrischen Stickstoffbestimmung, Zs. analyt. Chem., 1885, 24, 57-59; Zur Kenntniss des Chlorstickstoffs, Ber. Dt. Chem. Ges.,1888, 21, 751-757; Untersuchungen über Silicium und Bor, Ibid., 1889, 22, 186-197; Untersuchungen über selbstentzündlichen Phosphorwasserstoff (mit W. Haussknecht), Ibid., 1890, 23, 1174-1190; Über Azoxyphenoläther (mit A. Ritschke), Ibid..,1890, 23, 1738-1750; Zur Kenntniss der Siliciumverbindungen (mit K. Weinling), Ibid.,1894, 27, 1943-1948; Die Praxis des organischen Chemikers, Leipzig, 1894; 15. Aufl. 1920; Neue Synthesen aromatischer Aldehyde, Verh. Ges. Dt. Naturforscher und Ärzte, 69. Versammlung, 1897, Th.2, I. Hälfte, S. 84; Synthesen aromatischer Aldehyde, Ann. Chem., 1906, 347, 347-386; 1907, 357, 313-383; 1912, 393, 215-233; Die Mercaptane des Antrachinons, Ibid., 1912, 393, 113-197; Die Entfernung der Phosphorsäure in der qualitativen Analyse (mit H. Schindhelm), Ber. Dt. Chem. Ges. 1916, 49, 2416-2422; Azide, Anthranile und Azoderivate des Antrachinons (mit. H. Rolfes), Ann. Chem..,1921, 425, 135-161.

 

 

L Poggendorffs Biographisch-Literarisches Handwörterbuch, Bd. IV (1904), S. 480-481; Bd. V (1926), S. 413-414; Bd. VI (1937), S. 856; R. Meyer, "Victor Meyer, Leben und Wirken eines deutschen Chemikers und Naturforschers", Leipzig 1918 (B); R. Schwarz, L. G. +, Chem. Ztg., 1920, 44, 513; E. Fromm, L. G.+, Zs. angew. Chem., 1920, 33, 185 (B); E. Fromm, L. G. +, Ber. Dt. Chem. Ges., 1920, A53, 144-145; P. Jakobson, L. G. , Ibid., 1921, A54, 115-141 (B); B. P. Anft, G., NDB, Bd. 6 (1964), S. 91; R. Pötsch, G., Lexikon bedeutender Chemiker, 1989, S. 162-163.

 

 

B s. L; UB Heidelberg; UA Heidelberg; Bibliothek des Chemischen Instituts Heidelberg