Curtius, Julius Wilhelm Theodor, Chemiker (1857-1928) 

*27. Mai 1857 Duisburg, ev., +8. Febr. 1928 Heidelberg 

  

 

Eine etwas verkürzte Version wurde in den "Badischen Biographien, Neue Folge", Bd. V (2005), S. 49-51  publiziert.

 

V Julius C. (1818-1885), Fabrikbesitzer 
Sophie Ohlenschlager (1828-1890) 
Johann Friedrich C. (1850-1904), Adam Wilhelm Otto C. (1851-1863) 
unverheiratet

 

1876 X 19-1877 VII 10                  Naturwissenschaftenstudien an der Univ. 
                                                         Leipzig 
1879 IV- 1880 VII                           Studium der Chemie bei Bunsen in Heidelberg 
1882 VII 26                                     Promotion zum Dr. phil., Univ. Leipzig 
1883                                                Entdeckung des Diazoessigesters 
1884 X- 1886 II                              Assistent am Chem. Lab. d. K. Bayer. Akad. 
1886 III 10                                       Habilitation an der Univ. Erlangen 
1886 IV 17                                      Privatdozent an der Univ. Erlangen 
1887                                                Entdeckung des Hydrazins 
1889 XII 23                                     o. Prof. an der Univ. Kiel 
1890 Sommer                                Entdeckung der Stickstoffwasserstoffsäure 
1897 I 5 (zum IV 1)                        o. Prof. an der Univ. Bonn 
1897 XII 27(zum 1898 IV1)          o. Prof. und Direktor des chemischen Instituts 
                                                        an der Univ. Heidelberg 
1915-1925                                     Mitherausgeber des "Journals für praktische

                                                        Chemie" 
Juni 1918 VI - 1920 V                   Präsident der Dt. Chem. Gesellschaft 
1926 III 6                                         Abschiedsvortrag vor der Dt. Chem.

                                                        Gesellschaft

1.April 1926                                   Rücktritt vom Amt


C. entstammte einer Nordrheinschen Industriellenfamilie und hatte von seinen Vorfahren Gründlichkeit, guten gesunden Verstand, die Fähigkeit der folgerichtigen Durchführung seiner Aufgaben, sowie konservative Ansichten geerbt. Schon als Kind wurde er durch die starke Persönlichkeit aber auch durch die große chemische Fabrik seines Großvaters Friedrich C. beeindruckt. Einen anderen Eindruck in der Kinderzeit bildete die Musik, und nach Abschluss des humanistischen Gymnasiums in Duisburg in 1876 schwankte C., während erstes Studienjahres in der Univ. Leipzig, zwischen Chemie und Musik.


Am Herbst 1877 nahm C. als "Einjährigfreiwilliger" den Militärdienst bei dem noblen Regiment der Düsseldorfer Husaren auf und diente sich dort bis zum Oberleutnant der Reserve heran - ein Zeugnis seiner Neigung nicht nur zum Reiten, sondern auch zu preußischem Ordnungsgefüge.


Anschließend studierte er Chemie bei Bunsen in Heidelberg und unter dem Einfluss dieses großen Lehrers hatte C. sich der Chemie für immer verschrieben. Musik blieb seine Erholung; er spielte Klavier, sang und komponierte. 
Nach drei Semestern in Heidelberg kehrte C. nach Leipzig zurück und studierte hauptsächlich organische Chemie unter H. Kolbe und Ernst v. Meyer; mit seiner Promotionsarbeit - er bestand das Doktorexamen mit summa cum laude - hat er das Gebiet der organischen Stickstoffschemie betreten und blieb ihm durch sein ganzes Leben treu.

Kolbe's Rat folgend, wofür er immer Dankbarkeit fühlte, ging der frische Dr. phil. nach München, um unter Ad. v. Baeyer das genannte Gebiet weiter zu behandeln. Die Zeit in München wurde für seinen wissenschaftlichen Weg bestimmend. Hier fand er im Frühjahr 1883 den erste Vertretern der lange vergeblich gesuchten Klasse der sog. aliphatischen Diazokörper, nämlich den durch hohe Reaktionsfähigkeit ausgezeichneten Diazoessigester - eine folgenschwere Entdeckung, die dank seines seltenen experimentellen Könnens möglich wurde.

 

Nach weiterem Erarbeiten des Themas habilitierte sich C. in Erlangen (es gab keine Stelle für ihn in München) und ließ sich dort Ende des Wintersemesters 1885/86 als Privatdozent nieder. Er las einen zweisemestrigen Kursus "Analytische Chemie", sowie ausgewählte Kapitel aus der organischen Chemie (Benzolderivate u.a.) und leitete das chemische Praktikum für Mediziner. Hier gelang ihm seine zweite große Entdeckung im Verlauf seiner Erforschungen der Diazoverbindungen, und zwar des neuen anorganischen Stoffes Hydrazin (N2H4). C. hat diesen in Deutschland und USA patentiert. Den Ruf von USA, Univ. Worchester, hat C. jedoch abgelehnt, um den Stuhl der Chemie in der Univ. Kiel annehmen zu können.

 

Die Experimentierkunst C.'s erreichte in Kiel ihren Höhepunkt durch die Umwandlung des Hydrazins in Stickstoffwasserstoffsäure N3H, einer gefährlichen Substanz, bei der ohne jede Veranlassung "unbeschreiblich heftige" Explosionen eintraten: Eine Menge von 0,05g genügte, um die Versuchsanordnung zu Staub zu zerschmettern. Diese Entdeckung hat C. dem Kriegsministerium bedingungslos zur Verfügung gestellt; das Bleisalz der HN3 wurde während des I. Weltkrieg für Sprengkapseln benutzt.


1897 ging C. als Nachfolger des berühmten A. Kekulé nach Bonn, aber schon im darauf folgenden Jahr, unzufrieden mit dem preußischem Kulturministerium, das die nötige Vergrößerung des chemischen Instituts verschob, folgte er dem Ruf der Univ. Heidelberg, wo ein Neubau versprochen war. Dieser wurde 1901 beendet, wobei C. Einrichtungsprinzipien, die er schon in München für sich entwickelt hatte, verwandte. Andere seiner organisatorischen Leistungen waren die Einführung der staatlichen Prüfung für Chemie ("Verbandsexamen") um den Bedürfnissen der chemischen Industrie entgegenzukommen, und die Erwirkung zweier Extraordinariaten für organische und für physikalische Chemie. 1905 wirkte er als Prorektor und viermal, 1902/3, 1909/10, 1914/5, 1920/1, als Dekan der Nat.-Mat. Fakultät.


Wie in Kiel las er "Experimentalchemie", einen zweisemestrigen Kursus mit anorganischen und organischen Teilen. Unter C. als o.Prof. und Direktor des chemischen Instituts hatten seit 1899 mehr als 150 Männer zum Dr. phil. promoviert und mindestens 8 habilitiert - alle in der organischen Stickstoffchemie.

In Heidelberg führte C. seine Methode der systematischen Gruppenarbeit bei der Lösung von Problemen seines Gebietes fort, die er in Kiel eingeführt hatte, und entwickelte sie bis Ende seiner Tätigkeit als neue effektive Form der Organisation von wissenschaftlicher Forschung. Vier Fünftel von seinen knapp 250 Abhandlungen über Stickstoffchemie sind in Mitautorenschaft mit seinen Mitarbeitern und Schülern publiziert; Artikel von drei, vier und mehr (bis 11!) Verfassern wurden zur Novität für die wissenschaftliche Literatur der Jahrhundertwende.


Unter seinen weiteren Entdeckungen sind die Umlagerung von Säureaziden in Derivate alkylierter Amine (1893) am wichtigsten, was man heute als "Curtiusschen Abbau" bezeichnet. Die zweite Reaktion, die nach Curtius genannt ist, ist die "Azide-zu-Isocyanate Umlagerung" (1913). Sein Schwanengesang wurde der Überblicksvortrag über seine Forschungen mit eigenen Demonstrationsexperimenten, der er 1925 in Freiburg, dann in Karlsruhe und im März 1926 in Berlin hielt. So hat er ein Lebenswerk von wunderbarer Schönheit und Einheitlichkeit geschaffen, wie es R. Wilstätter charakterisierte.


Seine Gründlichkeit spiegelt sich auch in seinen Reden und Aufsätzen über allgemeine Themen, z.B. über Bunsen, über V. Meyer u.a.. 
Als Rekreation dienten ihm außer Musik auch Bergtouren. (Mitglied des Deutschen & Oesterreichischen Alpenvereins seit 1880, wurde C. auch Gründer der Alpenvereinsektion Kiel (Dez. 1893) und deren 1. Vorsitzender von 1894-1896). Über seine großen Bergfahrten von 1883-1892 schrieb er lebensvolle Berichte für das "Jahrbuch des Schweizer Alpenclubs". Das Fehlen einer eigenen Familie ersetzte er, wie sein Nachfolger und Biograph Freudenberg sagte, durch "eine Art Hofstaat" von Mitarbeitern und Schülern, aber auch durch die Freundschaft mit einigen Münchener Kommilitonen, besonders mit E. Buchner und C. Duisberg. "Klar, durchsichtig, einheitlich und gründlich", so hat letzterer die Persönlichkeit und Arbeit von C. gekennzeichnet.

 

Q UA Leipzig Rektor M29 Matrikel 1873-76, Nr. 1284; Phil. Fak. B128-b; Phil. Fak. Prom. 2486; Rep. I/XVI/VIIC 38, Bd.2, Nr. 206); UA Erlangen(Auskünfte; PA, Teil II, Position 1, Nr.6, Litera C); UB Kiel (Auskünfte); UA Heidelberg (Matrikel; PA 3503); UB Heidelberg (M 71 B 3070).

 

W Über einige neue der Hippursäure analog constituirte, synthetisch dargestellte Amidosäuren. Inaugural-Dissertation, Leipzig,1882; Über Diazoverbindungen der Fettreihe, Ber. Dt. Chem. Ges. 1885, 18, 1283-1293; Diazoverbindungen der Fettreihe, eine neue Klasse von organischen Körpern, Habilitationsschrift, München, 1886; Über das Diamid (Hydrazin), Ber. Dt. Chem. Ges. 1887, 20, 1632-1634; Über Stickstoffwasserstoffsäure (Azoimid) N3H, ebd., 1890, 23, 3023-3033; Umlagerung von Säureaziden, RCON3, in Derivate alkylierter Amine (Ersatz von Carboxyl durch Amid), ebd., 1894, 27, 778-781; Ueber Hydrazin, Stickstoffwasserstoff und Diazoverbindungen der Fettreihe,ebd., 1896, 29, 759-783; Robert Bunsen als Lehrer in Heidelberg [Prorektoratsrede 21. Nov. 1905]; Geschichte des Chemischen Universitäts-Laboratoriums zu Heidelberg seit der Gründung durch Bunsen, 1908 (mit J. Rissom); Hippenyl- isocyanat, C6H5CONHCH2CNO, J. prakt. Chem., 1913, 87, 513-541; Lebensbild von Friedrich Wilhelm Curtius (1782-1862), In: Beiträge zur Geschichte der Familie Curtius, von Carl vom Berg, Düsseldorf, 1923, S.190-216.

 

L A.Darapsky, Zum 25-jährigen Doktor-Jubiläum von Theodor Curtius. In: Festschrift Theodor Curtius, Heidelberg, 1908 (mit Photo); A. Darapsky, Theodor Curtius zum Gedächtnis, J. prakt. Chem. 1930, 125, 1-22; C. Duisberg, Theodor Curtius, Z. angew. Chem, 1930, 43, 723-725; K. Freudenberg, Theodor Curtius, Ber. Dt. Chem. Ges., 1963, 96, H.4, I-XXV (mit Bibliographie u. Photos); Margot Becke-Goehring, Freunde in der Zeit des Aufbruchs der Chemie, Heidelberg, 1990.

 

B J. f. prakt. Chemie, Mai 1927; zahlreiche Photos in Chem. Inst. und Archiv Univ. Heidelberg