BrühlJulius Wilhelm, Chemiker

 

13.2.1850 Warschau, isr., später ev., + 5.2.1911 Heidelberg
 

Eine etwas verkürzte Version wurde in den "Badischen Biographien, Neue Folge", Bd. V (2005), S. 31-33  publiziert.

 

 

 

 

 

V Ludwig B. (1821-1867), Industrieller
M Emma Bamberg
G Bruder Ariel B., geb. 1851 und drei jüngere Geschwister

 

oo XII 1880 oder I 1881 Elisabeth (Lili) Bamberger (1857-1931)
K Eine Tochter, geb. 1882, die im ersten Lebensjahre gestorben ist; 
Sohn Felix Johann Rudolf Erich B. (1891-1938)

 


1859-1866                                      Schulung in der Herrnhuter Anstalt Gnadenberg,

                                                         Schlesien
1866-1867                                      Besuch der Handelsschule zu Berlin
Frühjahr 1868-Sommer 1870       Chemie-Studium am Polytechnikum Zürich
1870 XII 20-1873 IV 5                    Studium der Chemie und der Physik an der 
Universität Berlin
1873 IV 17                                       Assistent im chemischen Laboratorium der TH 
zu Aachen
1875 IX 10                                       Promotion zum Dr. phil. an der Univ. Göttingen
19.09.1879                                      Vortrag in Baden-Baden "Die chemische 
Constitution organischer Körper, in Beziehung

                                                          zu deren Dichte und ihrem Vermögen, das

                                                          Licht fortzupflanzen" 
1879 XII                                            Stellvertreter des verstorbenen Professors der 
Chemie an der TH zu Lemberg 
1880 VIII 23                                      o. Professor der chemischen Technologie ebd.
Sommer 1884                                  Umzug nach Freiburg i.Br.
1887 XI 17                                        Honorarprofessor der Chemie an der

                                                           Universität Heidelberg
1892                                                  Ende der Vorlesungen
1898                                                  Aufheben der Leitung des chemischen Instituts
1904                                                  Ende der Experimentalarbeit
1904 V                                              Ehrenmitglied der Royal Institution of Great

                                                           Britain
1904 VIII                                            Dr. sci. h.c., Universität Cambridge
1907                                                  Vorsitzer des Naturhistorisch-medizinischen 
Vereins zu Heidelberg
21.02.1908                                       Ordentlicher Honorarprofessor an der 
                                                           Universität Heidelberg

 

 

 

B. war als erstes Kind einer wohlhabenden Familie geboren. Sein Vater wollte ihm sein Geschäft überlassen; B. hatte aber keine Neigung zu kaufmännischer Tätigkeit, und seine Schuljahre waren für ihn hart. Der frühe Tod seines Vaters änderte seinen Lebensweg: Auf den Rat seines Onkels, des Zuckerfabrikanten Theodor Bamberg, hin ging B. nach Zürich, um Chemie zu studieren, wo er die Welt der Naturwissenschaft zum ersten Mal für sich entdeckte.

 

 

Ab Winter 1870 studierte B. in Berlin. (Da er noch russischer Staatsangehöriger war, musste er nicht am Deutsch-Französischen Krieg teilnehmen). Außer der Chemie hörte er auch Vorlesungen in Physik bei G. Quincke und H.v. Helmholtz. Später wurden Physik-Kenntnisse entscheidend für sein Lebenswirken. Schon Juli 1871 trug B. seine erste Arbeit der Deutschen Chemischen Gesellschaft vor. Sein Lehrer, der Organiker A. W. Hofmann, schätzte den begabten Jungen hoch und als H. Landolt, damals Chemie-Professor an der 1870 eröffneten TH Aachen, einen Assistenten suchte, der ihm nicht nur im Praktikum helfen, sondern auch selber Vorlesungen halten konnte, nannte Hofmann sofort B. So ging B. nach Aachen und habilitierte sich dort noch ohne Doktorsgrad. Seine Inaugural-Dissertation, die er unter Hoffmann begonnen hatte, beendete er später in Aachen auf Kosten seiner "Freizeit" und promovierte 1875 in Göttingen. Als Dozent leitete B. praktische Übungen zur analytischen Chemie und hielt außerdem Lehrveranstaltungen zur theoretischen organischen Chemie, in denen er u.a. die ersten, von ihm in Zusammenarbeit mit Landolt entwickelten Projektionsgeräte für den Chemieunterricht einsetzte. 1878 und 1879 las er ferner über "Theoretische Chemie".

 

 

Die Jahre in Aachen wurden entscheidend für B.s Lebensweg. Hier fand er in Landolt den Lehrer und Freund bis zu Landolts Lebensende. Im Haus Landolts lernte er seine zukünftige Ehefrau kennen. Schließlich ging B. hier unter Landolts Einfluss, von der reinen organischen Chemie über zur Erforschung der Beziehungen zwischen der Struktur und den physikalischen Eigenschaften, insbesondere der optischen bei organischen Verbindungen. Dies bestimmte seinen Weg in der Wissenschaft. Etwa 1878 machte B. seine wichtige Entdeckung, dass mehrfache Bindungen im Molekül auf die Molrefraktion einen gesetzmäßigen Einfluss ausüben, so dass dies zur Ermittlung der chemischen Struktur organischer Körper benutzt werden kann. Dem experimentellen Ausbau dieser Erkenntnis war ein großer Teil seines ganzen Lebens gewidmet.

 

B.s Vortrag vor der chemischen Sektion der 52. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Baden-Baden, in welchem er seine Ergebnisse zum ersten Mal bekannt machte, hatte Resonanz: B. bekam sofort einen Ruf an die TH Lemberg und wurde dort 1880 Ordinarius. Jetzt erlaubte er sich zu heiraten. Leider wirkte sich die schwere Überlastung auf dieser Stelle zusammen mit rauhem Klima für seine Gesundheit fatal. Schon im Frühjahr 1882 warf ihn eine schwere Lungenblutung nieder, so dass man ihn bereits für verloren hielt. B. nahm einen langen Urlaub, zog von einem Kurort zum anderen, zuletzt in der Schweiz. 1884 bat er um Entlassung, zog nach Freiburg um, wo er sich langsam erholte und Schreibtischarbeit aufnahm. Ab 1886 konnte er wieder publizieren.

 

1887, dank Bunsens lebhafter Befürwortung, nahm B. eine Stelle als Honorarprofessor an der Universität Heidelberg an. Hier las B. abwechselnd organische und anorganische Experimentalchemie, unterrichtete praktische chemische Übungen und führte eigene Experimentalarbeit durch im Privatlaboratorium, das er von Aug. Bernthsen (s. dort) übernommen hatte. Er erweiterte seine Forschungen über Strukturbestimmung organischer Stoffe, insbesondere auf Benzol und auf tautomere Verbindungen.

 

Seine bahnbrechenden Arbeiten machten ihn zu einem der Begründer der physikalischen organischen Chemie. Kein Wunder, dass B., auf W. Ostwalds Wunsch, als einer der 22 Mitwirkenden der 1887 durch Ostwald begründeten internationalen "Zeitschrift für physikalische Chemie" beitrat und von Anfang ständig in dieser Zeitschrift publizierte.
Der vielseitig begabte Mann mit leidenschaftlicher Natur und außerordentlicher Arbeitsfähigkeit hatte auch eine besondere Neigung zum Schreiben. Insgesamt publizierte er mehr als 160 Abhandlungen, vorwiegend über die Beziehungen zwischen dem optischen Verhalten und der Struktur der organischen Stoffe, wie auch über verschiedene Probleme der organischen Chemie, über praktische Laboratoriumsapparate und -arbeitsmethoden, außerdem auch in seinen Bibliographien fehlende populäre Schriften über zeitgenössische Gelehrte. (Die interessantesten davon werden hier unter B.s Werken genannt). Während 1896-1901 gab B. eine riesige Literaturarbeit - insgesamt von etwa 310 Druckbögen - heraus: Die Bände 5-9 des großen Roscoe-Schorlemmer-Lehrbuchs der organischen Chemie und Schorlemmers "Lehrbuch der Kohlenstoffsverbindungen" wurden fortgeführt und beendet. Diese Lehrbücher, die teilweise auch als Monographien über die heterocyclischen Verbindungen und über die Pflanzen-Alkaloide erschienen, wurden in Zusammenarbeit mit den finnischen Chemikern E. Hjelt und O. Aschan geschaffen - ein Beispiel seiner weiten internationalen Kontakte. Diese pflegte B. umso mehr, als er mehrere Sprachen beherrschte.

 

Seine emotionale Natur war jedoch die Ursache von häufiger scharfer wissenschaftlicher Polemik, die er anzettelte. Das förderte die Anerkennung seiner Pionierarbeiten nicht, und erst später, zunächst in England, begann man ihre Bedeutung einzuschätzen.

 

Seine Krankheiten verschlimmerten sich allmählich und zwangen ihn, zuerst Vorlesungen, später auch den praktischen Unterricht und schließlich seine eigene Experimentalarbeit aufzugeben. Trotz einer Operation - Entfernung der einen Niere im Winter 1908/1909 - litt er immer mehr ohne jegliche Hoffnung auf Verbesserung und schliesslich führte er den erlösenden Tod herbei. Nekrologen, die weltweit, von Polen bis USA erschienen, zeigen seine Bedeutung als Schöpfer der organischen Spektrochemie.

 

 

Nachspiel: 1938 hatte B.s Sohn, als Jude von überall her vertrieben, Selbstmord begangen. Alle Familiendokumente- und Briefe hatte er eingeäschert, die wissenschaftliche Korrespondenz seines Vaters verfügte er aber letztwillig Karl Freudenberg. Sie wird in der UB Heidelberg aufbewahrt.

 

 

 

Q UA Berlin (R/S, AZ v. J. Brühl, 1873); Hochschularchiv der RWTH Aachen (Auskunft); UA Göttingen (Dekanatsakte d. Philos. Fak. Nr. 161); StadtA Freiburg (Auskunft); UA Heidelberg (PA 1397; Rep.27, Nr. 159); StadtA Heidelberg (Auskunft); UB Heidelberg (Hs 3833; Hs 3628).

 

 

W Die Constitution der ganz substituirten Amido- und Phosphido- Säuren und Darstellung substituirter A-Amido-Propionsäuren. Inaugural-Diss., Göttingen, 1875; Die chemische Constitution organischer Körper in Beziehung zu deren Dichte und ihrem Vermögen, das Licht fortzupflanzen, Ann. Chem. Pharm. 1880, 200, 139-231, 203, 1-63, 255-285, 363-368; Über den Zusammenhang zwischen den optischen und den thermischen Eigenschaften flüssiger organischer Körper, Wien. Akad. Sitzungsber., 1882, 84, Abt. 2, 817-875; Untersuchungen über die Molekularrefraction organischer flüssiger Körper von großem Farbenzerstreuungsvermögen, Ann. Chem. Pharm., 1886, . 235, 1-106; Über die Einfluss der einfachen und der sogenannten mehrfachen Bindung der Atome auf das Lichtbrechungsvermögen der Körper, Zs. physik. Chem., 1887, Bd. 1, 307-361; A.W. v. Hofmann+, Die Nation (Berlin), 1892, Jg.9, 498-500; Spektrochemie des Stickstoffs, Zs. physik. Chem., 1895, 16, 193-241, 497-524, 1897, 22, 373-409; Die Rolle der Medien im Lösungsvorgange, ebd.,1899, 30, 1-63; Über tautomere Umwandlungen in Lösungen, ebd. 1900, 34, 31-61; Die Entwicklung der Spectrochemie, Berlin, 1905; Hans Landolt. Eine Würdigung, Frankfurter Zeitung, 24.März 1910, Jg.54, Nr.82, Erstes Morgenblatt, S. 1-2; [Bunsen], Zs. Elektrochem., 1911, 17, 209

 


C. Liebermann, J. W. B.+, Ber. Dt. Chem. Ges. 1911, 44, 375-377; K. Auwers, J. W. B. ebd., 3758-3794 (mit B. und Bibliographie); O. Bütschli, E. Ebler, J. W. B., Verh. d. Naturhist.-med. Vereins Heidelberg, N.F., 1910-1912, Bd.11, 330-351 (B); E. Philippi, J. W. B., Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog für 1911, Bd. 16, 133-136 (1914); A. J. Goldsobl, J. W. B., Chemik Polski, 1911, Jg. 11, 169-178, 198-203 (B); W. Gerlach, J.W.B., NDB, Bd.2, 663 (1955).

 

 

B UA Heidelberg; Ber. Dt. Chem. Ges., 1911, 3758; Chemik Polski, 1911, 169