Über das Leben unter Diktatur

Hier ist die ursprüngliche Version des Vortrags, den ich in der Jüdischen Gemeinde am 3. Mai 2022 drei Mal – vor drei Klassen aus drei Mannheimer Gymnasien, jeweils mit Fragen und Diskussionen, gehalten habe. Für jedes Treffen gab es 45-50 Minuten, deswegen konnte ich nur fast dreimal kürzerer Version vortragen.

Unser Thema ist „Das Leben unter Diktatur“

Ich 1930 bin geboren und lebte bis 1993 in der UdSSR. So könnte ich etwas aus meinen eigenen Erfahrungen über damaliges sowjetisches Leben erzählen. Zunächst möchte ich aber die Diktatur im Allgemeinen kurz besprechen, weil ihr zu jung sind, um hier Erfahrungen zu haben.

Ich weiß nicht, ob euch das Buch von George Orwell „1984“ bekannt ist. Dort ist eine Diktatur gut dargestellt – mit ihrer Lüge und ihrer Gewalt, die voneinander untrennbar sind und die Hauptzüge jeder Diktatur bilden.

Es reicht, nur wenige Einzelheiten aus dieser Darstellung zu nennen.

Im erfundenen Land, das Orwell beschreibt, funktionieren Ministerien für Frieden, für Liebe und für Wahrheit.

Ministerium für Frieden befasst sich damit, den ständigen Krieg in Gang zu halten. Dabei dient das täglich wiederholte Mantra „Krieg ist Frieden“ dazu, um die Bevölkerung zu überzeugen, dass Frieden der stets erwünschte und zu erreichende Zustand sei, der angeblich in greifbare Nähe rückt, also dass Krieg der Weg zu Frieden sei.

Ministerium für Liebe, es ist tatsächlich etwa wie Geheime Staatspolizei, mit ihren Gefängnissen und Foltern. Dazu gehört auch die sog. Gedankenpolizei.

Ministerium für Wahrheit befasst sich mit kontinuierlicher Überschreibung der Geschichte. Sämtliche Medien – Bücher, Filme, Zeitschriften, Zeitungen, Tonaufnahmen usw. aus vergangener Zeit werden hier ständig revidiert und an die aktuelle Linie der Partei angepasst, sodass laut allen Aufzeichnungen, die existieren, die Partei immer recht hat und immer recht gehabt hat.

Also nochmals – Gewalt und Lüge, Lüge und Gewalt. Weder Frieden, noch Liebe, noch Wahrheit sind mit einem totalitären Regime vereinbar.

Nun zur Diktatur im Russland. Ich beginne mit ganz kurzem Überblick. Die sowjetische Diktatur entstand im Jahre 1917, wurde unter Stalin entwickelt und gefestigt und nach seinem Tod im Jahr 1953 degradierte sich und verfiel allmählich, was zum Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 geführt hatte. Chancen Russlands, sich zu einem demokratischen Staat zu entwickeln, wurden verloren – etwa, wie es in der Weimar Republik geschah. Ab Anfang dieses Jahrhunderts wurden die Keime der Demokratie nach und nach erstickt, und heute ist das Russland unter Putin nahezu dasselbe, was Orwell dargestellt hatte.

Jetzt endlich zu meinen eigenen Erlebnissen in der UdSSR, was ich selbst gesehen und gehört hatte. Zunächst möchte ich etwas über meine Jahre als Kind in Leningrad, heute Sankt-Petersburg, erzählen, also über die 1930er. Diese Zeit ist für Stalins Diktatur sehr charakteristisch. Radio sendete immer wieder die Worte über die alles bezwingende Lehre von Marx-Engels. Ich war damals etwa fünf und fragte meinen Vater: „Wer ist Marx-Engels?“ Die Antwort war zurückhaltend: „Das waren zwei verschiedenen Menschen. Später wirst du über sie erfahren“

Schon damals fühlte ich wachsende Anstrengung meiner Eltern. Bei mir schwiegen sie oft. Sie waren ja vorsichtig, das Kind könnte unbewusst irgendwo ihre Worte wiederholen, und dies war sehr gefährlich. Oft war es aus Radio Anrufe zu hören, „Feinde des Volks“ zu enthüllen, und dies bedeutete Förderung von Denunzieren. Dies brachte Angst. Später, in der Schule erfuhr ich über den jungen Pionier Pavlik Morosow, der als klein Held hervorgehoben wurde. Er hat seinen eigenen Vater denunziert und wurde durch Freunde des Vaters ermordet. Solch ein Held ist symbolisch für die Zeit von Hass und Lüge.    

Hierzu noch eine Geschichte, die mir nach zehn Jahren bekannt wurde. Ein Freund meines Vaters feierte im Jahr 1936 sein Geburtstag im Kreis von fünf seinen engsten Freunden.  Bei Tischgesprächen erzählte er einen riskanten Witz. Bald wurde er verhaftet und wegen antisowjetischer Propaganda zu 10 Jahre Haft verurteilt. Als er entlassen wurde, sagte er, dass er alle 10 Jahre zu erraten versuchte, wer auf ihn angezeigt hatte. Er erfuhr das nie

Es näherte sich das Jahr 1937, ein Horrorjahr von Massenrepressionen. Im Gedächtnis des Volkes war es unter Bezeichnung „ezhowtschina“ bekannt, nach dem Name Ezhow des damaligen Leiters von NKWD, das heißt Volkskommissariat für Inneren Angelegenheiten (es war hauptsächlich Geheimpolizei); hier sollte er Minister des Innern bezeichnet werden. In den Medien wurde Ezhow damals gelobt als „eiserner Narkom“ (Narkom heißt Narodni Kommissar, Volkskommissar), eiserner Narkom, der alle Feinde, Spione, Saboteure und Volksschädlinge ausrottet. Meine Eltern abonnierten für mich die Zeitschrift „Der junge Naturalist“ und sogar dort, in einer Zeitschrift, die fern von der Politik sein sollte, erschien ein lobender Artikel mit dem Bild dieses Henkers. Solch eine Einzelheit sagt viel über diese Zeit.

Ich erinnere mich, mit welcher Anstrengung hörten meine Eltern Radiosendungen über die Schauprozesse von 1937.

Einer der Verwandten erzählte bei mir unvorsichtig einen neuen Witz: „Wie geht’s? – Ach, wie in Bus: ich schüttle mich und warte auf meine Reihe zu setzen“ ´Dies ist zweideutig, denn „setzen“ heißt es in Russisch auch verhaftet werden und „sitzen“ bedeutet insbesondere in Kerker oder in Lager sein.

Inzwischen wurde 1936 die neue Verfassung genommen, die sofort Stalin-Verfassung in Medien bezeichnet wurde. Stalin setzte geschickt fort, sein Image als Vater des Volks, als weiser Führer zu bauen. Ein Jahr früher, 1935, erschien das widerlich süßliche Buch angeblich von französischen Schriftsteller Henri Barbusse „Stalin: Eine neue Welt“ Gleichzeitigt wurde dieses Buch in russischer Übersetzung prächtig herausgegeben mit Stalin in Soldatenmantel als Titelbild. Fragmente aus diesem Buch gingen in die Chrestomathien für die Schulen, und das Motto aus dem Buch: „Stalin ist Lenin heute“ blieb überall bis zum Tod Stalins.

Es ist hinzuzufügen, dass dieses prächtige Buch nach den Prozessen 1937 verboten wurde und aus den Bibliotheken verschwand. Die Ursache lag darin, dass Personen dort genannt wurden, die ehemals als Kampfgenossen Stalins galten und nun als „Feinde des Volks“ verurteilt wurden. Dies scheint mir charakteristisches Zeichen der damaligen Diktatur.

Als die unverschämten Schauprozesse beendet wurden, der sog. Oberste Rat der UdSSR geschafft wurde, der angeblich als Parlament, wie in europäischen Ländern funktionierte. Alle Gesetze und Entscheidungen wurden dort immer einstimmig genommen. Während 50 Jahre der Existenz dieses Obersten Rats keine einzige Stimme dagegen, keine einzige Stimme unentschiedene – immer einstimmig!

Könntet ihr euch solche Abstimmung im hiesigen Bundestag vorstellen? Wie erklärt ihr diese scheinbar erstaunliche Tatsache? Nun mache ich euch die Sache klar. Erstens, gab es in der UdSSR keine richtige Wahl. In jedem Wahlbezirk ballotierte nur eine einzige vorgesehene Kandidatur, die sorgfältig durch Parteileitung dieses Bezirks dazu ausgewählt wurde. Und zweitens, solche Kandidaten, als sie automatisch Abgeordneten des Obersten Rats wurden, würden einfach nie riskieren, ihre privilegierte Position zu verlieren.

Ähnlich ging es in den Stadtraten, Bezirksraten und sogar bei Sammlungen von Betriebskollektiven in Fabriken, Instituten und verschiedenen Organisationen. Denn jeder hatte Angst, gegen die Parteilinie zu treten. Hier aber könnten Ausnahmen erscheinen, obwohl sehr selten. Über einen solchen Fall hatte mir mein väterlicher Freund Leo Makowezki erzählt, nämlich über seinen Vater. Es war das Jahr 1937, über das ich euch schon mitteilte. Bei der Sammlung in einem chemischen Institut in Moskau sollte man einen wissenschaftlichen Mitarbeiter als Saboteur, „Feind des Volkes“ brandmarken. Plötzlich stand Professor Alexander Makowezki auf und sagte: Ich kenne diesen Mitarbeiter sehr gut. Er ist ein glänzender Spezialist und anständiger Mensch, in keinen Fall Feind des Volkes. Natürlich half das nicht. Professor Makowezki wurde derselben Nacht verhaftet. Er war starker Mensch und verzichtete, trotz Foltern, sich als schuldig zuzugeben. Zum Glück wurde Ezhow bald entlassen, verhaftet und erschossen: Stalin wechselte Personal des NKWD mehrmals, um niemandem dort zu mächtig werden zu lassen. Bei dem nächsten NKWD-Leiter, Lawrentij Berija, wurden mehrere Tausende Verhafteten entlassen, um zu zeigen, dass die Partei immer Übertreibungen korrigiert. So wurde Professor Makowezki frei. Leider wurde seine Gesundheit schon zerstört und er starb nach wenigen Monaten.

Soweit ich mich erinnere, Radiosendungen waren voll mit Worten über alles bezwingende Lehre von Marx-Engels, über Genosse Stalin, der Lenin heute sei und außerdem mit bravuren Liedern in Marschenrhythmen über den zukünftigen Krieg, etwa wie

Wenn schon morgen der Krieg,

Wenn schon morgen ins Feld

Sei schon heute zu Kämpfen bereit.

Es gab viele solche Lieder, so über Flieger und Panzersoldaten, z.B.

Als Genosse Stalin uns befehle

Treten Panzer heftig in Gefechte ein.

 

Alle diese Reden, Lieder und auch Enthüllungen der Feinde hatten die gezielte Aufgabe – das Volk zum siegreichen Krieg vorzubereiten, der in der Propaganda nahezu als feierlicher Spaziergang aussah.

Wir nähern uns zum Zweiten Weltkrieg. Was wisst ihr über sog. Ribbentrop-Molotow-Pakt? Heute ist er öfter Hitler-Stalin-Pakt genannt. Es war die Vereinbarung zwischen dem Dritten Reich und der UdSSR über die Zweiteilung von Europa.

Hier erlaube ich mir eine Abweichung. Das Programm der Schulbildung war in der UdSSR unifiziert: überall dieselben Fächer, dieselben Themen, dieselben Lehrbücher, die fast jährlich neu, mit notwendigen Korrekturen herausgegeben wurden. In fünften Klasse sah ich selbst zwei Geographie-Lehrbücher. In einem, erschienen 1938, stand über Deutschland etwa, dass seit 1933 böse Faschisten Macht haben und Kommunisten verfolgen. Im Lehrbuch, das 1940 herausgegeben wurde, las ich nur: „Im Jahr 1933 erhalten Nationalsozialisten die Macht“, kein Wort mehr. Eine rasante Veränderung, die damalige Zeit widerspiegelt. Noch mehr: Ich erinnere mich klar eine Karikatur in „Pravda“ (Wahrheit, die Hauptzeitung der Partei) Anfang 1940. Schwarzer Sarg mit Dämpferrohr im Meer. Die Unterschrift „Rule Britannia“. (Hoffentlich wisst ihr, dass dies ein berühmtes Lied, nahezu Nationalhymne ist. Der Refrain lautet: Rule Britannia!
Britannia rule the waves
Britons never, never, never shall be slaves.
)

Damals erschienen mehrere Karikaturen, die gegen England gerichtet wurden.

Nun zum Pakt. Jetzt ist es bekannt, dass ausgerechnet damals war der Zweite Weltkrieg entfesselt. Darüber empfehle ich sehr, die Bücher von Viktor Suworow zu lesen. Wenigstens zwei, „Eisbrecher“ und „Tag M“, sind in deutscher Sprache erschienen.

Kurz und gut, Stalin plante Angriffskrieg, um Europa zu erobern. Sein Plan scheiterte wegen einer dreiwöchigen Verspätung. Hitler als erster begann der Krieg gegen UdSSR am 22. Juni 1941. UdSSR musste einen Verteidigungskrieg führen, wofür sie nicht bereit war.

Am Tag des Kriegsausbruchs war ich mit meinen Eltern in einer Siedlung, wo die Familie ein Sommerhäuschen mietete. Nach wenigen Tagen stand ich dort vor dem Militärzug mit Soldaten, die zum Krieg mussten. Und hunderte weinenden Frauen. Ich hörte kontinuierliches Heule – denn wehschrien alle.  Am diesen Tag hatte ich erstmals gefühlt, dass der Krieg nicht Feier, sondern Schreck ist.

Über den Krieg will ich nicht reden. Krieg ist Schreck. Immer. Er war Schreck für die Sowjetunion, er war Schreck für Deutschland. Heute ist er Schreck für die Ukraine. Gott behüte euch dies zu erleben.

Als der Zweite Weltkrieg 1945 beendet war, wurde in der UdSSR der Personenkult um Stalin so geschmacklos, so übertreibend, dass es langweilig war, Radio zu hören oder Zeitschriften zu blättern, über die Zeitungen ganz zu schweigen. Nur zwei typischen Tatsachen dazu.

Zum 70. Geburtstag Stalin im Dezember 1949 musste jede Organisation – Fabrik, Institut, Verein, Schule usw. einen Glückwunsch an Jubilar richten. Danach publizierte „Prawda“ eine endlose Liste unter dem Titel “Willkommensstrom“ täglich bis zum Tod Stalins.

Das zweite Beispiel. Im Zentrum von Moskau befindet sich sehr bekanntes Museum der darstellenden Künste. Im Jahre 1949 alle Exponate wurden deponiert und anstatt das „Museum von Geschenken für Genosse Stalin“ eingerichtet. Erst als Stalin gestorben war, wurde das echte Museum wieder eröffnet.

„Genosse Stalin“, „weiser Führer aller Völker“, „bester Freund“ für die Kinder, für die Arbeiter, für die Frauen, für die Wissenschaftler, für die Künstler… usw, usw. – so die Media, war in der Tat absoluter Tyrann, der Repressionen zielgerichtet fortsetzte.

Das totalitäre Regime nach Stalin wurde etwas leichter, man sagte damals „Epidemie ist vorbei, die Quarantäne aber bleibt“. Die Gefängnisse und Lager blieben ja voll.

Das System der Konzentrationslager, sogenanntes GULAG werde ich nur erwähnen. Es gibt viele Zeugnisse, insbesondere das seiner Zeit berühmte dreibändige Werk von Alexander Solzhenizin „Archipel GULAG“. Ich muss auch die Namen Warlam Schalamow und Eugenija Ginzburg nennen. Ihre Bücher sollten auch in deutscher Sprache existieren. Was für mich, wurde meiner Familie (Eltern und deren Geschwister) diese schreckliche Prüfung erspart.

Wie das sowjetische Regime allmählich während mehrerer Jahrzehnte verfault wurde, ist hier unmöglich zu besprechen. Ich möchte nur über wenigen Erlebnissen aus meinem Leben erzählen, die zeigen können, wie dieser Verfall aussah.

Bekanntlich wurde die durchgängige Kollektivierung der Landwirtschaft in der UdSSR durchgeführt. Diese Kollektivwirtschaften, Kolchose genannt, waren äußerst uneffektiv und schon ab etwa 1950 mussten Studenten das erste Monat ihres Studienjahrs in Kolchosen arbeiten. Damals entstand der Witz: Vorstand des Kolchos‘ hing einen Anruf: „Genossen Kolchosniki! (Das heißt Bauer, die zum Kolchos gehören) Wollen wir den Studenten helfen, Ernte rechtzeitig und verlustlos zu bergen!“

Bald zeigte sich, dass Studentenarbeit im Herbst reicht nicht, und man fing an, Mitarbeiter aus wissenschaftlichen Instituten während ganzes Sommers in die Landwirtschaft zu kommandieren, jeweils für zwei-drei Wochen. Ich war ziemlich optimistisch eingestellt und nannte diesen langwierigen Aufenthalt mit wenig angenehmer Arbeit, doch an der frischen Luft zusätzlichen Urlaub. Übrigens ging es mit solchem „Urlaub“ nicht immer glatt. Ein Sommer kam zu uns täglich immer besoffener Vertreter der Kolchos-Verwaltung und schimfte, dass wir schlecht arbeiten. Es war Heuerntezeit, und woher könnten wir erlernen, wie richtig zu heuen?

Schlimmer wurde später, in den 1970er, als man uns auch im Winter in die Gemüselagerhäuser senden, um die verfaulten Kartoffeln abzutrennen. Es war wirklich Schweinarbeit.

Ein anderes Gebiet, wo ich interessante Erlebnisse hatte, war die sog. „sozialistische Planwirtschaft“, die in der UdSSR herrschte. Das Plansoll sei Gesetz, das unbedingt gefolgt werden muss – auch wenn dem gesunden Menschenverstand zuwider. Was ich in Hüttenkombinaten in Montschegorsk und Norilsk gesehen habe, wäre unmöglich, kurz und verständlich erklären. Anstatt kann ich erzählen, wie es im Handel aussah. Mit üblichem Assortiment waren die Pläne unerfüllbar. Deswegen zum Ende eines Monats, umso mehr zum Jahresende verkauften die Laden sog. „Defizit“ – die Waren und Lebensmittel, die man sonst nicht kaufen konnte. So standen überall lange Schlangen in diesen Tagen.

Mit der Planwirtschaft wurde paradoxal eine sehr charakteristische Seite des Lebens in der Sowjetunion, der sog. „sozialistische Wettbewerb“ verbunden. Die allerlei Organisationen, ihre Abteilungen, sowie einzelne Mitarbeiter mussten eine oder andere „sozialistische Verpflichtung“ übernehmen, etwa die Norm so und so Prozente übererfüllen oder vorfristig eine Aufgabe erfüllen usw.

Vorbereitung solcher „Sozverpflichtungen“ war zeit- und kraftberaubend. Einerseits sollte sie imposant aussehen, andererseits sollte sie erfüllbar sein, weil überwachende Parteiorgane bei Nichterfüllung viele Sorgen bringen würden. Etwa im Jahr 1982 – ich hatte eine Dienstreise nach Tallinn – erzählte mir vertraulich ein Mitarbeiter des Kombinats „Desintegrator“ (sein Name war auch Kipnis, deswegen war er so offen), wie scharfsinnig es dort eingerichtet wurde. Ein gut bezahlter Mitarbeiter, vermutlich ein Journalist, wurde eingesetzt, um alle „Sozverpflichtungen“, aber auch Berichte über ihre erfolgreichen Erfüllungen und übrige Papierkram zu verfassen und damit das ganze Kombinat und seine Abteilungen und die Mitarbeiter von diesem Idiotismus zu befreien.

Ein typisches Zeichen des Verfalls waren verfälschte Berichterstattungen über die Planerfüllung. Dies brachte fette Gewinnen für Meister der Schau.

Zum Schluss ein Beispiel, wie hoch die Kunst von Schauen, von Darstellung der Paradepferde entwickelt wurde. Im Jahr 1971 besuchte der damalige kanadische Premierminister Pierre Trudeau (der Vater des heutigen Premiers) die UdSSR, insbesondere das bekannte große Hüttenkombinat in Norilsk.

Eine Woche vor der Trudeaus Ankunft begann man Orangen in allen Laden in Norilsk verkaufen. Früher gab es hier keine Orangen, dazu in Februar. Lange Schlangen entstanden, am nächsten Tag sie waren fast ebenso lang, aber nach fünf Tagen in jeder Wohnung standen großen Kasten mit Orangen, und in Laden lagen noch Orangen – man konnte sie kaufen ohne Schlangen.

Nun kommt der hohe Gast Trudeau - es war sonnig, Flugwetter ja stand – und entlang der Straße vom Flughafen zu seiner Residenz stehen junge Verkäuferinnen in weißen Kitteln mit Ständern voller schönen Orangen - und im Hintergrund der Schnee glänzend im Sonnenlicht. Was für ein eindrucksvolles Bild!

Drei Wochen später kam ich nach Norilsk wegen einer Dienstreise und erfuhr über dieses einmalige Ereignis. Orangen sah man in Norilsk nie mehr.