Nitsche, Rudolf Karl Stephan, Physikochemiker, Kristallograph

*28.10.1922, Lannesdorf, Kreis Godesberg (heute Stadtteil Bonn). Kath. +1.4.1996, Buchenbach im Wagensteigtal naheFreiburg i. Br.

V Georg N. (1889-1945), Küchenmeister

M Amalie, geb. Drechsler (1887-1942)

G Gertrud (1927-1985), verh. Schröder

∞ 14.8.1956 in Erlangen Hildegard Blank (1927-2008), med. techn. Assistentin

K Karl Stephan (*1956), Chemiker; Carola (*1958), verh. Blumenhagen, Lebensmittelchemikerin; Katharina (1959-1983)

             1928-1940                              Schulbildung: 1928-1934 die Deutsche Mittelschule in Den Haag (Holland); 1934-1938 das Deutsche Realgymnasium ebd.; 1938-1940 die Ernst-Abbe-Schule in Eisenach. Reifezeugnis vom 22. Januar 1940.

             1940 I- VI                                Reichsarbeitsdienst

             1940 X-1945                           Kriegsdienst bei Luftwaffe als Bordfunker; 1944-1945 Internierung

             1946 I – 1951 VI                     Studium Chemie an d. Universität Heidelberg; Vorprüfung November 1947: Diplom-Hauptprüfung („sehr gut“) März 1950

             1951 VI 20                              Promotion magna cum laude zum Dr. d. Naturwissenschaften; Diss.: „Über einen Zusammenhang zwischen dem Energietransport an metallischen Oberflächen und d. katalytischen Zersetzung des Äthans“

              1951-1954                              Arbeit im Forschungslaboratorium d. Firma Dupont de Nemours & Co,, USA

             1954 XI-1957 III                              Arbeit im Forschungslaboratorium d. Siemens-Reiniger-Werke, Erlangen

             1957 IV -1968 V                     Abteilungsleiter im Forschungslaboratorium d. „Laboratories RCA Ltd.“, Zürich

             1967 I-II                                  Habilitation an d. ETH Zürich mit d. Schrift „Kristallzucht aus d. Gasphase durch chemische Transportreaktionen“. Antrittsvorlesung 27. April 1967: „Kristalle u. Energiewandler“

             1968 VIII – 1988 III                 o. Prof. u. Direktor des Instituts für Kristallographie an d. Univ. Freiburg.

Schul- und Kriegsjahre

Informationen über den bedeutenden Physikochemiker und Kristallographen R, N. sind äußerst karg dokumentiert, und seine Biographie konnte nur mit Lücken rekonstruiert werden.

N. wurde bei Bonn als Sohn eines Küchenmeisters geboren, verbrachte aber seine Kinderjahre in Holland, Den Haag. Dort besuchte er zunächst die Deutsche Mittelschule, dann das Deutsche Realgymnasium. Im Jahre 1938 übersiedelte die Familie nach Eisenach, wo N. die Ernst-Abbe-Schule besuchte und im Januar 1940 mit Reifezeugnis beendete.

Anschließend folgte der Reichsarbeitsdienst, der obligatorisch war. Als dieser erledigt war, durfte N. studieren. Er meldete sich bei der Universität Heidelberg an, wurde aber fast sofort einberufen. Über seinen Kriegsdienst ist nur bekannt, dass N. Bordfunker bei der Luftwaffe gewesen war. Wo und wann er in Kriegsgefangenschaft geriet, bleibt unbekannt, laut der Mitteilung seiner Tochter war er 1944-1945 interniert.

Dokumentiert ist nur N.s Anmeldung zum Studium der Chemie an der Universität Heidelberg vom 3. Januar 1946.

Studium und Promotion in Heidelberg

Zu dieser Zeit war N. Vollwaise, hatte keine Unterstützung und musste selbst sein tägliches Brot verdienen. Trotzdem konnte er bereits im November 1947 seine Vorprüfung und im März 1950 die Diplom-Hauptprüfung mit „sehr gut“ ablegen. Zuvor, im Herbst 1949, wurde er Assistent am Institut für Physikalische Chemie unter Klaus Schäfer (BWB IV, 312). Nach der Hauptprüfung blieb er als Student gemeldet, erhielt aber die Befreiung von der Pflicht, Vorlesungen zu belegen.

Im Frühjahr 1950 begann er seine Doktorarbeit. K. Schäfer stellte dem begabten Doktoranden ein schwieriges Thema über den Zusammenhang zwischen katalytischen Eigenschaften von metallischen Oberflächen und dem Energieaustausch zwischen gasförmigen Reaktanten und dem Katalysator. Das Problem wurde an Hand des Beispiels der katalytischen Zersetzung des Äthans bearbeitet. Nach einem Jahr, im April 1951, legte N. seine Dissertation der Fakultät vor. In seinem Gutachten schrieb Schäfer: „Herr N. hat die Arbeit mitsamt ihren oftmals recht komplizierten Versuchen mit sehr viel Verständnis und eigener Tatkraft durchgeführt. Schwierigkeiten verstand er gewöhnlich selbständig zu überwinden“ (UA Heidelberg H-V-713, Nr. 26). Er bewertete die Dissertation mit „sehr gut“. Direktor des Chemischen Instituts, Karl Freudenberg (BWB III, 87), schloss sich der Meinung des Kollegen an. Das Rigorosum in der Chemie als Hauptfach, Physik und Mathematik als Nebenfächer fand am 20. Juni 1951 statt. N. wurde magna cum laude promoviert.

Arbeit in Industrie in den USA und BRD

Bald darauf ging N. in die USA. Es gibt keine Informationen, unter welchen Umständen er eine Stelle beim Dupont-Konzern in New York erhielt. Seine Tochter vermutet, dass seine außerordentliche Begabung für das Erlernen und den Gebrauch von Fremdsprachendabei geholfen hatte. Aus seinem Lebenslauf wissen wir nur, dass N. sich dort drei Jahre lang im Forschungslaboratorium „mit der Synthese und der Kristallchemie von Leuchtstoffen“ beschäftigte (UA Freiburg: B 0381/1934). Das bedeutete seinen Übergang von reiner physikalischer Chemie zur Kristallographie und insbesondere zur Kristallzüchtung, wobei N. innerhalb kurzer Zeit das neue Gebiet meistern konnte. In diese Zeit fielen die ersten Erfindungen N.s, die seine Firma patentierte: Dies waren Verfahren für Herstellung von Sulfiden, Seleniden und Telluriden von Zink und Cadmium, die zur Produktion neuer Lumineszenz-Materialien dienten (US Patente 2767049 und 2805917).

Nach der Rückkehr aus den USA befasste sich N. „mit ähnlichen Arbeiten“ (ebd., s.o.) 1954-1957 im Forschungslaboratorium der Siemens-Werke in Erlangen. N. setzte die Erarbeitung der erfundenen Verfahren fort, und mindestens eine seiner Erfindungen wurde durch Siemens patentiert (DBP 1025838); N. beschrieb sie im ersten von ihm publizierten Artikel (1957). Obwohl keine Informationen über N. im Siemens-Archiv vorhanden sind, ist es zu vermuten, dass seine damaligen Kontakte ihm die Möglichkeit eröffneten, die Abteilung „Kristallsynthese“ bei der 1955 in Zürich gegründeten Firma „Laboratories RCA Ltd.“ zu übernehmen. Die Firma entstand als Tochterunternehmen des Konzerns „Radio Corporation of America“ (RCA), und ihr Forschungslaboratorium hatte unter seinen Aufgaben auch Entwicklung von Materialen für die Funktechnik, insbesondere Halbleiter.

Leiter der Abteilung für Kristallsynthese bei der Laboratories RCA Ltd in Zürich

Wegen der auf praktische Anwendungen gerichteten Arbeit für die Firma sollte die Tätigkeit N.s einen sehr breiten Fragenkreis umfassen. Dazu gehörten allererst die Ausarbeitung neuer Kristallzuchtverfahren, die Züchtung von Monokristallen für Festkörper-Untersuchungen, weiter Kristallstrukturbestimmungen, physikalische Messungen auf den Gebieten der Ferro- und Piezo-Elektrizität, der Lumineszenz, der Photoleitung, der Elektronenabsorption und der Elektrooptik. Auch hier wurden einige Erfindungen patentiert – natürlich durch RCA. Insbesondere sollten „Ferroelektrische Geräte“ genannt werden (USP 3085184), wo Kristalle von wenig bekannten Verbindungen wie Tetramethylammonium-Trichlormerkurat, gesetzt zwischen zwei Elektroden ein Gerät bilden, das ferroelektrische Hysteresis zeigt. (Der Begriff Ferroelektrizität bezeichnet das Phänomen, dass Stoffe mit einem elektrischen Dipolmoment durch das Anlegen eines äußeren elektrischen Feldes die Richtung der spontanen Polarisation ändern)

Die Interessen N.s lagen vor Allem auf dem Gebiet der Kristallzüchtung. Bereits 1960 publizierte N. eine grundlegende Mitteilung über Herstellung von Monokristallen mehrerer Chalkogeniden (d. h. Metallverbindungen von Schwefel, Selen und Tellur) mittels Transport durch Jod. Seitdem wurde die Kristallzüchtung durch chemischen Transport und Charakterisieren von Monokristallen mit halbleitenden, photoleitenden und nicht-linear optischen Eigenschaften sein Hauptforschungsgebiet. Besonders ausführlich erforschte N. Verbindungen aus Metallen mit Elementen der 5. und 6. Hauptgruppe des Periodensystems. Seine ausführlichen Publikationen im Jahr 1962 machten ihm schon einen Namen des Begründers der Kristallzüchtung durch chemische Transportreaktionen.

Als Leiter einer Abteilung der Firma pflegte N. breite wissenschaftliche Kontakte, so mit dem Gründer der systematischen Erforschung von chemischen Transportreaktionen Harald Schäfer (1913-1992), Professor in Münster; mit der Deutschen Bunsen-Gesellschaft für physikalische Chemie, wo er zwei Mal auf deren Jahresversammlungen vortrug (im Mai 1959 in Darmstadt und im Juni 1962 in Münster); mit dem Physikalischen Instituts der Universität Straßburg für die Zusammenarbeit über optische Eigenschaften einiger Monokristallen; am engsten aber mit dem Institut für Kristallographie und Petrographie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, wo er Strukturen seiner Kristalle bestimmen konnte.

Habilitation an der ETH Zürich

Im Februar 1966 erhielt N. von der ETH einen Lehrauftrag zur Durchführung eines kristallographischen Praktikums für fortgeschrittene Studenten. Bald darauf, am 9. Juni 1966 stellte er der ETH sein Gesuch um Erteilung der Venia legendi für das Gebiet „Physikalische Kristallographie“ an der Abteilung der Naturwissenschaften; dabei legte er seine Habilitationsschrift „Kristallzucht aus der Gasphase durch chemische Transportreaktionen“ vor. Der Direktor des Instituts für Kristallographie, Professor Dr. Fritz Laves (1901-1978), schrieb in seinem Gutachten über N.s Schrift: „Sie enthält sehr viele neue Informationen und wird wegen ihres Monographie-Charakters eine fühlbare Lücke im Schrifttum ausfüllen für alle diejenigen, die sich für dieses neue Kristallzuchtgebiet interessieren bzw. interessieren sollten“ (A d. ETH Zürich: SR2, Schulratsprotokolle 1967, Sitzung Nr. 1, S. 104f.). Der zweite Gutachter, Prof. Dr. Alfred Niggli (1922-1985) betonte: „Auf dem Gebiete der Kristallzüchtung mittels Transportreaktionen <…> kann Herr Dr. N. als einer der Pioniere gelten. Deshalb war es ihm möglich <…> eine übersichtliche Darstellung von so viel <…> Material zu geben, dass dabei eine wertvolle Monographie zustande kam“ (ebd.).

N. veröffentlichte seine Habilitationsschrift als gleichnamigen Artikel und erwarb damit weltweite Anerkennung als Mitbegründer des Gebiets der Kristallzüchtung durch chemische Transportreaktionen. Bald wurde er als Hauptreferent zum Fachausschuss „Halbleiter“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft eingeladen. Sein Vortrag, „Kristallzucht aus der Gasphase“ (1968) gehört zu den grundlegenden Publikationen auf diesem Gebiet.

Am 4. Februar 1967 wurde N. zum Privatdozenten der ETH ernannt und am 27. April hielt er seine Antrittsvorlesung über „Kristalle und Energiewandler“.

Ordinarius in Freiburg

Die Lehrtätigkeit N.s an der ETH Zürich dauerte nicht lange: Im März 1968 erhielt er einen Ruf an die Universität Freiburg. Dort war der Lehrstuhl für Kristallographie vakant, und N. wurde auf diese Stelle berufen. Im Gutachten der Berufungskommission stand u.a.: „Herr Dr. N. hat sein Lehrtalent in Zürich sehr erfolgreich unter Beweis gestellt. Sein wissenschaftlicher Vortrag ist prägnant, fesselnd, logisch aufgebaut, wohlfundiert und wohlformuliert <…> Er hat bei allen persönlichen Begegnungen einen hervorragenden menschlichen Eindruck hinterlassen“. In Dr. N. würde die Fakultät „einen ausgezeichneten Wissenschaftler, akademischen Lehrer und Kollegen gewinnen“ (UA Freiburg: B 15/521, Berufung N.).

Der Lehrstuhl und das Institut gehörten damals traditionell zur Geowissenschaftlichen Fakultät und N. las über Kristallographie für zukünftige Mineralogen. Die Kristallographie galt aber damals schon als selbständiges Fach, das allgemeinere Bedeutung hatte, als nur die Mineralogie zu bedienen, und dementsprechend entwickelte N. seine Tätigkeit sehr breit.

Er  hatte zunächst „bei den unteren Semestern den Ruf eines ‚scharfen Hundes‘, was aber nur bedeutete, dass er Faulheit, faule Ausreden und Drumherumreden nicht ertrug.  Für begründete Fragen, auch nach einer Vorlesung, hat er sich immer Zeit genommen und sie ausführlich beantwortet“ (Cröll, s. Q).

Der Schwerpunkt war aber die Forschungsarbeit mit Diplomanden und Doktoranden, die von der Lehrtätigkeit nicht zu trennen war. Um seine Forschungen weiter durchführen zu können, musste N. sein Institut mit modernen Apparaturen, analytischen Anlagen und verschiedenen Geräten neu einrichten. „Spezielle Rohröfen wurden konstruiert und gefertigt, komplexe Glasapparaturen waren zu errichten, um mit hochreinen Chemikalien zu hantieren und evakuierte Quarzglasampullen für die Synthese- und Züchtungsversuche zu präparieren“ (Diehl u. Benz, s. Q). N. selbst stellte die Glasapparaturen her und brachte das Glasblasen auch seinen Doktoranden bei. „Doktoranden und Habilitanden der ‚ersten Stunde‘ waren so mit umfangreichen Aufbauarbeiten beschäftigt, um das Institut mit seinem neuen Forschungsschwerpunkt wieder arbeitsfähig zu machen“ (ebd.).

„Er war in meinen Augen ein hervorragender Lehrer, mit der Beste, den ich hatte, und auch menschlich sehr zugänglich. Bei Diplom- und Doktorarbeiten gab er einem einerseits die größtmögliche Freiheit in der Forschung, war aber immer mit Anregungen und Hilfestellung da, wenn benötigt. In meinen Augen ist dies die bestmögliche Kombination um eigenständig in die Forschungsarbeit hereinzuwachsen. Man konnte jederzeit bei ihm anklopfen und nachfragen“ (Cröll, s. Q).

N. führte das wöchentliche Seminar ein, wo er Diplomanden und Doktoranden anhielt, sich mit schwierigen Themen zu befassen und die Ergebnisse verständlich vorzutragen. Er sagte, dass dies auch für ihn selbst sehr lehrhaft war. „Legendär waren die verpflichtenden ‚Probevorträge‘, die seine Schüler institutsintern zu halten hatten, bevor sie auf Tagungen und Konferenzen öffentlich zu ihrer eigenen wissenschaftlichen Karriere und zum Ruf des Instituts beitrugen“ (Diehl u. Benz, s. Q).

Sehr viel Mühe kostete N. das Anschaffen von sog. Drittmitteln, von denen das Institut mit einem Bedarf an kompliziertem und teurem Gerät stark abhängig war. Dazu gehörte auch das Vorbereiten von zahllosen Berichten, was die Wissenschaftsbürokratie verlangte und was N. hasste, weil dies seine wissenschaftliche Arbeit störe.

1978 gelang es N., eine Institutsvergrößerung durch Bezug des Vorderhauses und auch die Errichtung einer zweiten Professur durchzusetzen. Seitdem fügte N. zu seiner Thematik über die Synthese von Monokristallen mit besonderen Eigenschaften auch die Herstellung und Erforschung von ionenleitenden Stoffen hinzu.

Mit seinem ausgeprägten Gespür für Neues erkannte N. sehr früh, welche Perspektiven für Kristallzüchtung die Experimente im Weltall unter Schwerelosigkeit eröffnen könnten. Deswegen beteiligte er sich sofort an der Erarbeitung des Programms für die erste kosmische Forschungswerkstatt, Spacelab, als dieses Pionierprojekt 1973 angekündigt wurde. Im Gange der Entwicklung des Projekts wurden die Anforderungen an entsprechende Experimentaleinrichtungen immer strenger, besonders bezüglich des Gewichts und des Ausmaßes der Apparatur, sowie deren Energiebedarf. Dementsprechend erarbeitete N. mit seinen Mitarbeitern mehr und mehr raffinierte Apparaturen für Kristallzüchtung. Diese Bemühungen, teilweise beschrieben in N.s Bericht (1976, Zonenzüchtung…) fanden ihre Krönung in der Konstruktion des geschlossenen Doppelellipsoid-Spiegelofens.Dieses Gerät wurde dann in Rahmen der ersten drei Spacelab-Missionen, 1983, 1985 und 1993, eingesetzt. Die ersten Silizium-Züchtungsexperimente im Weltall, im Dezember 1983, wurden von dem deutschen Wissenschaftsastronauten Ulf Merbold mitbetreut und beschrieben. Weitere Experimente wurden fortgesetzt bei der ersten deutschen Spacelab-Mission D1 (1985), und bei den unbemannten Raketen des deutschen "TEXUS"-Programms - TEXUS 7, 12, 21.Das Freiburger Institut für Kristallographie unter N.s Leitung nahm eine führende Position in diesem Bereich ein. Als Sachverständiger und Vortragender beteiligte sich N. an zahlreichen Sitzungen und Symposien der ESA, European Space Agency, auf dem Bereich „Materialwissenschaften im Weltall“.

Außerdem entwickelte N. vielseitige wissenschaftlich-organisatorische Aktivitäten.

Er war Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kristallwachstum und Kristallzüchtung (DGKK) in Jahr 1970 und deren langjähriges Vorstandsmitglied. 1978-1982 war N. Vorsitzender der DGKK. Er beteiligte sich an der Organisation der Internationalen Kristallzüchtertagung in Stuttgart 1983 (ICCG-7), und richtete auch nationale Tagungen der DGKK in Freiburg aus.

Von Anfang an war N. als Ausschussmitglied auf dem Forschungsgebiet „Kristalle“ beim Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) tätig, ab 1982 wurde er Vorsitzender des BMFT-Gutachterausschusses „Kristallzüchtung unter Weltraumbedingungen“.

Ehrenamtlich war N. Mitglied mehrerer Gremien und Ausschüsse der Deutschen Forschungsgemeinschaft; sehr oft wirkte er dort als Gutachter.

Überhaupt war N. als weltanerkannter Experte ein sehr gefragter Vortragender und Teilnehmer an vielen internationalen Fachtagungen. Hier einige Beispiele:

Internationales Symposium „Reinststoffe in Wissenschaft und Technik“, Dresden, Oktober 1975;

Internationaler Kongress für Kristallographie, Warschau, August 1978;

Europäische Konferenz über Kristallwachstum, Lancaster, England, September 1979;

Vortrag auf Einladung des Instituts für Kristallographie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau, September 1980;

Europäische Konferenz über Kristallwachstum, Prag, August 1982;

Symposium über Mikrogravitationsforschung; Tokio, März-April 1985.

Bemerkenswert ist, dass N. in der Zeit des „kaltes Kriegs“ es für notwendig hielt, Kontakte mit Kollegen in Ländern des Ostblocks, von der DDR bis zur UdSSR, zu pflegen. Die UdSSR besuchte er mehrmals. Da er Russisch sprach – laut der Mitteilung seiner Tochter, „um die freie Zeit in den Kriegsjahren sinnvoll zu nutzen, lernte er Russisch“, – war die Verständigung dort erleichtert. Besonders eng war N. mit der Universität Tiflis (Georgien, damals in der UdSSR) verbunden, was „in lebenslange Freundschaften mündete“ (Diehl und Benz, s. Q).

Seine Schüler und Nachfolger, Professoren K.-W. Benz und A Cröll bezeugen, dass N. nach seiner Emeritierung N. noch einige Jahre mit seinem Institut wissenschaftlich verbunden blieb. Ein- bis zweimal die Woche war er im Institut und offen für Diskussionen. Auch seine Kontakte nach Tiflis hat er mit wechselseitigen Besuchen weiter intensiv gepflegt und die Wissenschaftler dort mit Fachliteratur und vielen anderen nützlichen Dingen versorgt.

„R.N. war ein bescheidener, humorvoller Mensch, ein gründlicher Wissenschaftler und Lehrer, konnte aber auch sarkastisch und kritisch-direkt sein, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Probleme ging er stets lösungsorientiert an, sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben“ (Diehl u. Benz, s. Q). Er war immer zurückhaltend. Diese Eigenschaft verstärkte sich noch wegen eines schweren Schicksalsschlags: Seine jüngste Tochter Katharina, Freiburger Biologiestudentin, war im November 1983 bei einer Flugzeugkatastrophe ums Leben gekommen.

Erholung fand N. bei Wanderungen im Schwarzwald und beim Angeln. „das er fast wissenschaftlich betrieb“ (R. Diehl, 1996, 9). Seine liebste Freizeitbeschäftigung war aber die Pflege seines großen Gartens in Buchenbach im Wagensteigtal naheFreiburg

N. starb an Krebs nach längeren mit Geduld und Hoffnung ertragenen Leiden im 73. Lebensjahr.

Fazit

Ein Werkverzeichnis N.s fehlt. Es wurde erstmals für diese Biographie zusammengestellt und zählt 89 Titel. Eine repräsentative Auswahl befindet sich unter W. Diese Publikationen spiegeln allererst zwei seiner bedeutendsten Leistungen, wobei beide sich auf die Kristallzüchtung beziehen. Erstens ist es Mitbegründung des neuen Bereichs der Kristallographie, nämlich der Züchtung von Kristallen, insbesondere von Monokristallen durch Anwendung chemischer Transportreaktionen. Insgesamt wurden von N. mit seinen Mitarbeitern über 120 kristallische Stoffe synthetisiert und kristallographisch sowie festkörperphysikalisch charakterisiert, darunter mehrere neue Stoffklassen. Zweitens – und hier war N. der Pionier – ist es die Grundlegung der Kristallzüchtung in Schwerelosigkeit.„Diese Forschungsausrichtung hat die Kristallographie in Freiburg nachhaltig geprägt und wurde  unter seinem Nachfolger, Prof. Benz, und danach auch von mir mit einer langen Reihe weiterer Missionen fortgesetzt“ (Mitteilung von Prof. A. Cröll, s.Q).

Darüber hinaus gehören N. wichtige wissenschaftsorganisatorische Verdienste, insbesondere die Mitgründung und Leitung der Deutschen Gesellschaft für Kristallwachstum und Kristallzüchtung.

Alle diese Leistungen sichern N.s bedeutenden Platz in der Geschichte der Kristallographie und der Festkörperphysik.

Q UA Heidelberg: Studentenakte N. 1946-1951; H-V-713, Nr. 26, Promotionsakte N.; A d. ETH Zürich: SR2, Schulratsprotokolle 1966, Sitzung Nr,4, S. 382; 1967, Sitzung Nr. 1, S. 104f.; SR2, Präsidialverfügungen 1966, Nr. 1142; Nr. 2709; UA Freiburg: B 0381/1934, Personalakte N.; B 15/521, Berufung N.; B 189/260, Emeritierung N.; Informationen von Prof. Dr. Arne Cröll vom 5.09.2018; „Biographische Infos“ über R. N. hergestellt von Dr. Roland Diehl, Hartheim u. Prof. Dr. Klaus-W. Benz, Freiburg (vom 8.09.2018); Informationen von Frau Carola Blumenhagen, geb. Nitsche vom 16.09.2018; Auskunft aus dem Stadtarchiv Erlangen vom 19.10.2018

W Neue Methode zur Darstellung von Metallchalkogeniden, in: Angewandte Chemie 69, 1957, 333f.;

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(mit E. Fatuzzo) Ferroelectric properties of mixed crystals of triglycine sulfate/selenate, in: Zs. für Elektrochemie 63, 1959, 970f.;

(mit W. J. Merz) Photoconduction in ternary V-VI-VII compounds, in: Journal of physics and chemistry of solids 13, 1960, 154f.;

(mit J. A. Beun u. M. Lichtensteiger) Photoconductivity in ternary sulfides, in: Physica 26, 1960,, 647-649;

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B Foto 1992 im Besitz Frau C. Blumenhagen; Foto 1987, UA Freiburg, Personalakte N.; Foto 1945. UA Heidelberg. Studentenakte N.